Tschechow: Der Kirschgarten, Deutsches Theater Berlin

Den Kirschgarten sieht man nicht und am Ende hört man weder Axt noch vielleicht die heutigere Motorsäge. Dass es kalt ist, obwohl – bei Tschechow – die unsichtbaren Kirschbäume blühen, sieht man an der Vermummung der ankommenden Menschengruppe. Ljubow Andrejewna Ranjewskaja (Nina Hoss) mit Gefolge erscheint. Man kommt aus Paris, es steht nicht gut um das Gut. Zuerst aber muss in die Situation eingeführt werden. Also Lopachin (Felix Goeser) liegt am Boden und verschläft die Ankunft. Das Zimmermädchen Dunjascha (Katrin Wichmann) ist da, aufgeregt wuselnd und wirbeld. Einem ist verboten, zu erscheinen, einer erscheint mit Blumen und stolpert. Es ist der mit den neuen Stiefeln, der immer Pech hat, dem immer was geschieht (Harald Baumgartner, der Buchhalter Jepidochow)..

Die Lage ist einfacher kaum zu denken. Ljubow hat Schulden, allein um die Zinsen zu zahlen, sind erhebliche Summen nötig. Das Gut aber wirft nicht annähernd genug ab, um Ljubow, ihren Bruder Gajew (Christoph Franken), ihre Tochter Anja (Natalia Belitski), ihre Adoptivtochter Warja (Meike Droste) sowie das Personal zu ernähren. Niemand von ihnen ist willens und fähig, die Bedrohlichkeit dieser Lage auch nur annähernd zu verstehen oder gar zu akzeptieren. Einen einfachen und radikalen Vorschlag, die drohende Versteigerung abzuwenden, hat Lopachin,  Kaufmann und Unternehmer: Das Gut inklusive Haus und Nebengebäuden, inklusive vor allem des alten und kulturhistorisch wertvollen Kirschgartens, nebst Gesamtgrundstück zu verpachten für Sommerhäuser.

Eine ganz normale Grundstücksspekulation also würde die finanzielle Situation der Herrin auf einen Schlag ändern, die Zukunft wenigstens auf mittlere Sicht, bei klugem Verhalten wohl auch für immer, sichern. Wirtschaftlich kluges Verhalten ist aber für Ljubow Andrejewna fremder als irgendetwas. Schon jeder Gedanke in diese Richtung ist ihr nicht nur fremd, das wäre zu beheben, er ist ihr zutiefst zuwider. Sie ist offenbar nie gefordert gewesen, sich um Geld Gedanken zu machen, sie kann mit ihm nicht umgehen, sie will es, solange es zur Verfügung steht, ausgeben, auch verschleudern, vergeuden, verschenken, wie es die Situation ihr spontan aufdrängt.

Regisseur Stephan Kimmig setzt auf die Übertragung von Thomas Brasch. Im Text hat das schon einmal den Vorteil, dass die Personen Tschechows (und ihr Schöpfer) nicht durch die wild-dämliche, wenngleich rein sachlich sicher mit entsprechenden Argumenten zu rechtfertigende westdeutsche Transkription verunstaltet werden. Die man auf der Bühne freilich nicht hört, aber schon im Programmheft sehen würde. Es gehört bis heute – für mich – zu den widerlichsten Wendefolgen, dass allen Diktaten, die kaum vermeidbar waren, auch noch dieses unsinnige Transkriptionsdiktat folgte. Am Personal ist fast nichts gestrichen, nur ein paar namenlose Nebenfiguren des dritten Akts.

Der Regisseur hat sich entschieden, zunächst einmal nach Kräften die komischen Elemente von Personal und Handlung zu akzentuieren. Das funktioniert so perfekt, dass schon nach wenigen Szenen und Dialogen ein jugendliches Alphamännchen in Reihe 8 sich vor Lachen derart lauthals ausschüttete, dass man um sein Durchhaltevermögen bis zum Schluss fürchten musste. Die Figuren Tschechows in diesem leicht erweiterten Kammerspiel sind genau besehen eher lächerlich als komisch. Was freilich für einen, der Theater als Anstalt zum Ablachen versteht, wohl keinen substantiellen Unterschied macht.

Das Kippen der Stimmungen macht hier wie andernorts den Tschechow, er verteilt seine Sympathien nicht vordergründig. Er selektiert nicht Züge seines Personals nach Maßgabe von Botschaft, persönlicher Nähe oder gar einer zugrunde gelegten Philosophie. Die wahrsten Wahrheiten des Vierakters verkündet der ewige Student Trofimow (Elias Arens), das wäre anhand der russischen Sozialhistorie wie ihrer öffentlichen Reflexion in der volkstümlerisch-demokratischen Denktradition leicht zu begründen und verständlich zu machen. Dennoch ist dieser Trofimow vor allem in seiner Beziehung zu Anja, der Tochter, aber auch sonst als Persönlichkeit, hart an der Karikatur.

Vor dem Deutschen Theater an der Schumannstraße standen Menschen, die anderen Menschen per Handy mitteilten, dass hier alles ausverkauft sei, weil Nina Hoss die Hauptrolle spiele. Innen im Theater schlich ein Mann an den Wartereihen entlang, um eine Einzelkarte zu verkaufen. Es lässt sich nicht leugnen: Nina Hoss ist hier wie immer ein Ereignis. Auf ihr lastet das Vorführen des genannten Kippens am stärksten, sie hat als Ljubow von Stimmung zu Stimmung zu fallen, sie steht gleichzeitig neben sich und ist bei sich und sie kann, das klingt nur trivial, ist es aber nicht, nicht über ihren Schatten springen. Am Ende zelebriert sie einen souveränen Fatalismus am Rande des Zusammenbruchs.

Die Binsenweisheit, große Mimen erkenne man, wenn sie gerade nicht agieren auf der Bühne, führt Nina Hoss so vor, dass man ganze Klassen junger Schauspielelevinnen ins Parkett setzen müsste, die ihre Vorbilder, ich wiederhole mich gern, lieber aus den amerikanischen Serien des Fernsehens wählen mit ihrer Überartikulation auf die Lachkonserve hin. Man sieht diese Mimik und Gestik auch auf jedem S-Bahnhof, wo sie ihren Platz haben, nicht aber auf Bühnen, die auf sich halten, meine ich. Also die Hoss schaut von der Seite auf die Bühnenmitte, sie hört, und versteht, was dort gesagt wird, und nur ihr Gesicht zeigt, was sie empfindet. Sie macht das ohne die Großaufnahmenkamera auf sich gerichtet zu sehen.

„Die Anja kann jede beliebige Schauspielerin übernehmen, und sei sie auch ganz unbekannt, nur jung muss sie sein, wie ein kleines Mädchen aussehen und mit jugendlicher, klingender Stimme sprechen. Die Rolle gehört nicht zu den wichtigen.“ Schrieb Tschechow am 2. November 1903 an Nemirowitsch-Dantschenko (1858 – 1943), den Begründer und mit Stanislawski später gemeinsamen Leiter des Moskauer Künstlertheaters. Da hatte Stephan Kimmig einen sehr passgerechten Griff mit Natalia Belitski, die freilich ihre Rolle arg ins Somnambule gedreht interpretierte.

„Die Ranjewskaja zu spielen, ist nicht schwer, man muss nur von Anfang an den richtigen Ton finden; man muss sich ein Lächeln und eine besondere Art zu lachen ausdenken...“ Das ging an Olga Knipper am 25. Oktober 1903. Die wollte Tschechow eigentlich nicht in dieser Rolle, das Theater hatte aber keine andere eigens engagiert, wie es der Autor forderte (das waren noch Zeiten). Nina Hoss hat sich ganz offenbar dem alten Ratschlag unterworfen, freilich im Wissen, dass gerade das so genannte Einfache schwer zu machen ist. Sie hat das Lächeln, sie hat die besondere Art zu lachen bis zum Stückschluss. Da hilft nur das Bravo am Ende der Vorstellung.

„Lopachin hat doch eine zentrale Rolle. Wenn sie nicht gelingt, so wird das ganze Stück durchfallen. Ein Schreihals darf den Lopachin nicht spielen...“. Tschechow sorgte sich um gerade diese Rolle sehr und kam in seinen Briefen immer wieder auf sie zurück. Auch hier ist die Inszenierung verblüffend nah beim Autor. Die niedere Herkunft des neureichen Kaufmanns wird gezeigt, er wird jedoch damit nicht verächtlich gemacht. Der wollte vor allem eines, es möge keine Verzagtheit im Parkett aufkommen, auch wenn auf der Bühne Tränen flössen.

Episodisch leicht a la Freddy Frinton kommt der uralte Diener Firs (Helmut Mooshammer) ins Spiel, als Gajew ist Christoph Franken ein fisselhaariger Bonbonlutscher, dessen Denken fast komplett auf Billard gerichtet erscheint. Die Erzieherin Charlotta Iwanowna (Angela Meyer), der Gutsbesitzer Simjonow-Pischtschik (Jürgen Huth) komplettieren das Rollenarsenal der Figuren, die von der Zeit überrollt werden: „Wir sind plötzlich so überflüssig.“ sagt Gajew. Genau dieser Typus des überflüssigen Menschen hat nicht nur bei Tschechow eine große Rolle in der russischen Literatur nach der 1861er Reform gespielt. Bei ihm aber haben ihre Vertreter durchaus sympathische Züge. Das Deutsche Theater bleibt seiner ansehnlichen Tschechow-Tradition treu.
   www.deutschestheater.de


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