Tagebuch
24. Oktober 2019
Keine Berliner Zeitung heute und kommende Woche ist Feiertag, da gibt es gar keine Zeitungen. Die hiesige hat ein Foto von den Baracken des alten Rates des Kreises, als der noch beengt am heutigen Wetzlarer Platz saß, damals Platz der Widerstandskämpfer. Warum die Zeitung das Wort Stadtpolitik in die Überschrift nimmt, obwohl im Text selbst nur von Kreispolitik die Rede ist, entzieht sich meinem Vorstellungsvermögen. Immerhin: in der mittleren Baracke vorn links bin ich sehr oft gewesen als Kind, dort saß mein Vater als stellvertretender Kreisschulrat, dort saß der gute alte Hugo Bock, der meine spätere Frau in die Haushaltsgeschäfte der Volksbildung einführte. Mir sind die Namen und Gesichter alle noch vertraut, der Sohn des damaligen Kreisschulrates heiratete später eine meiner Mitschülerinnen an der Goetheschule. Der Kreisschulrat selbst lag mit seinem Herzinfarkt wochenlang im Ilmenauer Krankenhaus, ich drei Wochen in der Etage darüber, 1964.
23. Oktober 2019
Zum Verschnaufen zwischendurch ein Reiseblick zurück: am 23. Oktober 2004 fuhren wir nach Ascona, es war unsere elfte Schweizreise. Schöne Ferienwohnung, Locarno zu Fuß bequem zu erlaufen. Ein Restaurant mit Sternen und Überraschungen: der Hauptgang wurde in zwei Teilen geliefert, damit die herrlichen frischen Fische nicht erkalten konnten auf den Tellern, die Suppe zuvor aus den gleichen Fischen: ein Traum, dazu ein edler Aigle. Fünf Jahre zuvor schon wieder der vorletzte Tag auf Ischia. Die gestrigen Fotos gehen nach Kassel, man kauft deutschlandweit, was schon einmal gut klingt. Ich zähle 41 Regalreihen zu 0,85 Meter Stellfläche, was 35 laufende Meter nach alten Bibliotheksmaßen ergibt: Wahnsinn. Zugleich komme ich zu Hause mit Entsorgung der alten Zeitschriften-Bestände im Keller so gut voran, dass die ersten Umzüge nach unten über die Bühne gehen können. Mit gestern schon wieder 20.000 Schritte vom Zähler registriert. Purer Sport.
22. Oktober 2019
Mit dem heutigen Dienstag sind es bis Ende des Monats noch drei Möglichkeiten, Dinge zu guten Zwecken in Gehren abzuliefern, wir sortieren und packen, wir stapeln und schleppen. Nach der Absage aus Wiesbaden, wohin sich unsere Bücherhoffnung richtete, nun ein neuer Versuch, diesmal Richtung Kassel, neue Fotos von den gefüllten Regalen, freundliche Dame am Telefon, Chef nicht da. Es wäre perfekt. Wie immer denke ich nicht an den Markttag und finde lange keinen Parkplatz, Rechnung zur Versicherung, sie wird erst im November fällig, bis dahin ist das Geld aus der Zahn-Zusatzversicherung vielleicht sogar schon auf dem Konto. Besuch im Strickwarengeschäft, Termin vereinbart für eine Besichtigung des Handarbeitsnachlasses. Auch die alten Regale in den beiden Kammern leeren sich. Etliches hat nur die Chance, in den Papiercontainern zu landen, die dort in erstaunlicher Zahl stehen, wo früher der Gehrener Backstein-Hauptbahnhof stand, lang ist es her.
21. Oktober 2019
Der „Woyzeck“ ging doch noch ins Netz in der Nacht, mein dritter nach Eisenach und Coburg, mir kam beim Schreiben natürlich wieder dieser Lehrer in den Sinn, der mich einst nervte, sein dickes Büchner-Buch zu besprechen. Ich sah es dieser Tage wieder in der zweiten Reihe meiner Bestände von Gustav Schwab bis Gottfried Keller, weil ich Platz brauchte für Erbstücke. Die Kontoauszüge meiner Mutter bis Ende 2018 sind geschreddert, es fehlt nur noch der laufende Jahrgang. Einer der roten Ordner stammt aus dem Jahr 1988 und ist Nachlass der Tante meiner Mutter, Sparkasse Gifhorn Wolfsburg, das letzte Blatt mit der Nullstellung des Kontos vom 25. August 1988, anteilige Pflegeheimkosten. Das blieb uns erspart. Nicht erspart bleibt mir der Hinweis auf den heutigen 50. Todestag von Jack Kerouac, über den ich auch geschrieben hätte, wenn das Wörtchen wenn nicht wär. Mit Doris Lessing morgen wird es nicht besser, auch ihr Jubiläum (100) entfällt unter Zwang.
20. Oktober 2019
Bei lebender Mutter hätte ich versucht, für heute etwas zur Uraufführung von Ernst Tollers „Die Wandlung“ zu schreiben. Aber schon der „Hinkemann“ entglitt mir sechs Tage nach dem Tod in der Station 22. Meine Wandlung heißt noch immer Haushaltsauflösung, wir wollen heute beim Treffen des Gehrener Handarbeitszirkels mit Wolle und Wollsachen vorankommen. Vom „Woyzeck“ reden wir nicht mehr. Es sieht aus, als müsse man nach und nach das Publikum vor seinen Theatern schützen: Man stelle sich die Gemäldegalerie vor, zu der einer sagt: Die Sixtinische Madonna geht heute gar nicht mehr, man muss sie mit Gerhard Richter übermalen und dann halb verdeckt verkehrt herum aufhängen, dazu „Ton, Steine, Scherben“ krähen lassen. Man würde den Ideengeber in eine geschlossene Anstalt bringen und vor sich selbst schützen, im Theater läuft das wie geschnitten Brot. Nur kein Werk, wie es ist. Warum auch? Die Handarbeiterinnen suchen wir leider vergebens.
19. Oktober 2019
Keine WELT an der Tankstelle, wohl aber in der Stadt, das hatten wir noch nicht. Ich lasse mir meine beiden Exemplare zurücklegen. Wenn sich das wiederholt, muss ich Konsequenzen ziehen. „Der Kirschgarten“ wird fertig, „Mutter Courage und ihre Kinder auch“, der zweite Text gefällt mir besser, weil er aus einem Guss ist. Ich will, wenn ich heute zum dritten Mal in knapper Folge im Staatsschauspiel auflaufe, keine offenen Dinge haben. Es wird der letzte Besuch in Dresden in diesem Jahr, Termine für 2020 stehen schon im Kalender. Auf den letzten 12 Kilometern verlieren wir mehr als eine halbe Stunde, die männliche polnische Bevölkerung füllt zwei Spuren der Autobahn, was beim Einfädeln vor einer Baustelle zu wunderbaren Effekten führt. In Dresden sehen wir zwei gefällte Bäume mit Jahresringen wie aus dem Bilderbuch. Wir werden versorgt, als kämen wir aus einem Kriegsgebiet, es geht uns gut, ehe uns der „Woyzeck“ ereilt. Keine Pause.
18. Oktober 2019
In meinem Kalender steht für den heutigen Tag: J. Linnankoski 150. J steht für Johannes, der Finne findet sich bei WIKIPEDIA nur auf fremdsprachigen Seiten oder eben mit seinen paar Büchern in den Antiquariatsnetzwerken. Komisch, dass sein Roman „Die Flüchtlinge“ noch auf keiner Bühne gelandet ist, macht ihn doch schon der Titel allein unfassbar aktuell. Aber bereits die Lektüre des Klappentextes zeigt: das Wort Flüchtlinge ist gar nicht so, wie man denkt, es bedeutet auch dies und jenes. Bei meiner Ärztin Gespräch über das Vorauswissen Sterbender, Vorsorgeuntersuchung mit Gummihandschuh. Ich laufe den Weg zurück, was zum Abend auf 11780 Schritte führt. Wir sind weiter an den Büchern: die Spende wird voluminös. Meine Mutter hat bei den Kontoauszügen alles aufgehoben, auch die Blätter, auf denen zu lesen war, dass man sie vernichten kann. Ich bin mit der Kritik zum „Kirschgarten“ immer noch nicht ganz zu Ende, ich hasse ständige Unterbrechungen.
17. Oktober 2019
In Gehren heute nur kurz. Morgens Rücksprache mit den Ilmkreis-Kliniken wegen des „Tages der offenen Tür“, zwei Termine festgehalten. Die ersten Bände für die große Spende nach Ilmenau transportiert. In der Post die Bestätigung für die Abmeldung des Gehrener Telefons, offene Beträge werden erstattet, wir brauchen uns um nichts zu kümmern. Am Sperrmüll-Termin lässt sich leider nichts drehen, die Vergabe ist derzeit bei Ende November, wir haben noch Glück. In einem Brief meines ältesten Cousins an meine Mutter finde ich eine Speicherkarte mit Fotos: viele Bilder meiner Tante Hedwig aus ihren letzten Lebensjahren. Meine Mutter sah die Fotos nie und fragte nie, ob wir sie für sie sichtbar machen könnten. Es war die älteste Schwester, die zuerst die 90 erreichte und überschritt. Sie wird den Altersrekord der 13 Schwestern und Brüder vorerst lange halten. Beim Schreddern alter Kontoauszüge finde ich einen noch ungeöffneten Umschlag mit neuer Geheimzahl.
16. Oktober 2019
Zeitig in der Stadt, um meine Zeitungen mit den Buchmessebeilagen abzuholen, es sind alle da, ich kann mich, wenn ich das Hamsterrad der Haushaltsauflösung verlasse Ende des Monats, vielleicht auch wieder um meine Sachen kümmern. Einstweilen sichte ich weiter Bücher und stelle an immer neuen Stellen fest: meine Eltern waren einst ein junges Paar, das sich gegenseitig Bücher schenkte und Widmungen hinein schrieb. Freund Volkmar wird das große Bücherregal nehmen, er hat schon gemessen und auch einen Blick auf die Briefmarken geworfen. Ich befülle den nächsten Karton mit Taschenbüchern verschiedener DDR-Reihen: NB-Krimis, Passat, bb, Das Taschenbuch, die Stapel fürs Krankenhaus wachsen, die Regalfächer mit gelbem Klebezettel, die mir sagen, dass ich hier alles in den Händen hatte, erreicht die 30. Die großen Umzugskartons füllen sich mehr und mehr, nebenher setzt sich auch in meinen Regalen die neue Ordnung fort. Noch volle zwei Wochen Zeit.
15. Oktober 2019
Viereinhalb Eimer Späne und Ästchen sind auf unserem Parkplatz verblieben von der großen Baumfällung am Freitag. Die Rasenmäher arbeiten entschieden ordentlicher als diese Baumfäller, die offenbar nicht nur zwei Stunden später kamen als angekündigt, sondern auch zeitig Feierabend haben wollten. Am 15. Oktober 1999 erlebten wir unsere erste Fernbusfahrerin: Edda, es ging nach Italien, zum sechsten Male im Oktober, immer noch eine gute Reisezeit. Und zum dritten und bis heute letzten Male auf die Insel Ischia, nach Ischia Porto. Ankunft natürlich erst am Folgetag, keine Zwischenübernachtung, so war das damals. Heute richtig große Fortschritte in Gehren, wir werden sehr viele Sachen bei „Gib und Nimm“ los, sogar die Fläschchensammlung und drei Kartons Krimis verschiedener DDR-Reihen. In der Post Beileidswünsche aus Ditzingen. Ein Zimmer und die Küche sind bis auf geringe Reste leer. Im Wohnzimmer jetzt deutlich mehr leere Schrankfächer als volle.
14. Oktober 2019
Der Geburtstag nach dem Geburtstag, erstmals ohne großzügiges Oma-Geschenk. Kurztrip nach Gehren, Umzugskisten werden gefüllt, Regalreihen für den Händler präsentabel gemacht. Ich verpacke für mich Teile des Frankreich-Bestandes, der arbeitsteilig bei meinen Eltern stand und auch dort gesammelt wurde: Balzac, Zola, Hugo, Stendhal. Eine Ausgabe mit Cezanne-Briefen lege ich dazu. Ich gewinne so viel Platz, dass ich die Bredel-Sammlung meines Vaters aufnehmen kann. Zur kleinen Feier fahren wir nach Frauenwald in den „Waldfrieden“, wie auch 2018 schon, diesmal mit Fleisch vom Grill, das es erst ab 17 Uhr gibt. Alles sehr gut. Ich zahle die Rechnung. Bezahlt ist auch schon der Steinmetz, die Anzahlung für Korsika und Sardinien ist geleistet. Ein Termin für den Sperrmüll ist beantragt. Einiges geht tatsächlich über eBay-Kleinanzeigen weg, sogar der alte Kühlschrank und der Elektroherd. Bei uns sieht es mehr und mehr wie in einem Warenlager aus.
13. Oktober 2019
„Der Kirschgarten“ ziemlich unentschieden, gestreckt mit Fremdtext, selbst eine Greta-Thunberg-Anspielung fehlt nicht. Es ist zum Heulen. Nun habe ich seit 2013 fünfmal Tschechows letztes Stück gesehen, beim Nachlesen meiner alten Kritiken sehe ich viele Details wieder vor mir und vermisse umso mehr eine schauspielerische Sternstunde, wie sie Nina Hoss bot. Wir kommen gut nach Hause. Ich bestücke zwei Taschen mit Büchern, die ich aus meinen Beständen mit in die Verramschung bringen will, ich brauche hier Platz. Es ist verblüffend, wie leicht ich mich jetzt von Erinnerungen trenne. Die Auflösung des mütterlichen Haushaltes, der so brutal wertlos geworden ist, wird zum Schnellkurs in Pietätlosigkeit. Bücher aus Kindheit und Jugend, von denen ich mich noch vor kurzem nie getrennt hätte, auch im Wissen, sie nie wieder in die Hand zu nehmen, nun wandern sie ab in eine ungewisse Perspektive. Es wird tatsächlich Platz in meinen DDR-Beständen.