Tagebuch

30. September 2019

Absprache mit dem Bestattungsinstitut. Dauert eine Stunde. Viel wird uns abgenommen, einiges bleibt dennoch. Zeitungsabmeldungen etwa. Wir sind heute nicht in Gehren. Die Steinmetzfirma wird die Grabplatte abnehmen und auf den neuen Stand bringen. Die Anzeige ist geschaltet, die Texte auf den Schleifen bestellt. Jetzt sind von 13 Geschwistern noch 4 übrig: ein Bruder in Brasilien, ein Bruder in Schweden, zwei Schwestern in Ulm. Die jüngste wird auch schon 80 in diesem Jahr. Eine Familiengeschichte, die geschrieben werden müsste, aber nicht geschrieben werden kann. Wie viele Romane gibt es schon von Erben, die alte Schachteln und Mappen öffnen, alte Fotos betrachten, alte Briefe lesen? Ich habe jetzt ein vierzigbändiges Tagebuch geerbt, alles in schöner Schrift notiert. Viele Bücher mit Notizzetteln wie Lesezeichen: ein Name erinnert an eine Straße, in der meine Mutter wohnte. Sie hält fest, wann ich nach einem lateinischen Zitat fragte.

29. September 2019

Schon erste vorsichtige Blicke in die Hinterlassenschaften meiner Mutter nötigen mir Begeisterung ab: alles geordnet, alles beschriftet, alles aufgehoben, was auch nur irgendeinen ideellen oder historischen Wert hat, das Familienstammbuch weist meine Eltern auf der Heiratsurkunde beide als Geschichtslehrer aus, das hat geprägt. Ich finde einen Brief von mir vom 23. September 1963, in Mühlberg geschrieben, wo ich zur Schule ging, als meine Mutter im Krankenhaus lag. Eine ganze Blechschachtel mit einer Szenerie vor einem „Restaurant Stephanplatz“ enthält alte Ausweise, Pässe, Mitgliedskarten. Visitenkarten meines Vaters aus seiner Nürnberger Zeit, Mitgliedskarten der Büchergilde Gutenberg, erst Erfurt, dann Nürnberg. Jetzt kenne ich alle frühen Adressen. Ich finde Reisedokumente von 1957 und 1961, Prag und Grusinien, Kurunterlagen von 1977. Zum ersten Mal im Leben sehe ich die Sterbeurkunde meiner Schwester vom 18. November 1950, Tag ihrer Geburt.

28. September 2019

Meine Mutter ist tot. Genau zwei Wochen vor ihrem 91. Geburtstag ist sie ihrem letzten Leiden erlegen, zu ihrem und unserem Glück ohne lange Quälerei. Noch am Sonntag telefonierten wir nach unserer Rückkehr aus Italien, sie erzählte vom Besuch der Urenkel, ein Foto davon kannten wir schon. Am Montag wollten wir weitere Vereinbarungen mit dem DRK treffen, mussten verschieben, weil das Sanitätshaus mit den Vorbereitungen noch nicht zu Ende gekommen war wegen des neuen Thüringer Feiertages. Als ich am Dienstag mit dem DRK sprach, war es schon eine vorläufige Absage, meine Mutter lag auf Station 22, von Tag zu Tag wurde es kritischer. Am Donnerstag der Satz, den wir für beginnende Verwirrung halten mussten: „Warum bringt Ihr mir noch was, ich bin doch morgen im Sarg.“ Es war nur ihr Lieblingsjoghurt und frische Wäsche, was wir brachten. Den Freitagsbesuch nahm sie schon nicht mehr wahr. Heute holten wir ihre Sachen ab: mit Protokoll.

27. September 2019

Zum achten Mal bin ich nun in Brüssel, zum siebenten Mal im Hotel Van Belle, zum ersten Mal im Zimmer 6. So beginnt mein Tagebucheintrag vom 26. September 2004. Am 27. September meldete ich die Verteilung von vier meiner Bücher. Professor Timmermans, inzwischen leider verstorben, war so freundlich, sie bei mir als Gastgeschenke für unsere Gesprächspartner zu bestellen. Der Reisepreis hatte sich innerhalb von zehn Jahren verdoppelt, das Programm war dürftiger und blasser geworden. Dass es meine letzte Teilnahme an dieser Reise war, ahnte ich noch nicht, erhielt aber noch lange immer neue Einladungen auch für andere Angebote der Akademie aus Jena. Heute geht es nach Dresden, im MDR sahen wir noch spät gestern einen werbenden Beitrag für Ursula Werner als Mutter Courage. Wenn die Inszenierung ist, wie sie zu sein scheint, können wir uns freuen. Es ist der erste Theatergang der neuen Spielzeit, fünf folgen im Oktober, danach ist der Kalender leer.

26. September 2019

Der Kontrollblick des Kieferchirurgen sagt: alles sieht gut aus, der Termin für das Fädenziehen fällt auf den 70. Jahrestag der Deutschen Demokratischen Republik, der dank Mauerfall keiner mehr ist. Es macht mäßig Freude, jetzt wieder täglich mit den immer noch einseitigen Geschichten über diese Republik konfrontiert zu werden. Der allgemeine Effekt des medialen Weltbildes wiederholt sich auch hier: jede beliebige Mehrheit bleibt ausgeklammert (hatte nicht Demokratie irgendetwas mit Mehrheiten zu tun?), stattdessen Sonderfälle, Sonderfälle, Sonderfälle. Millionen DDR-Menschen haben weder versucht, einen Tunnel zu graben, noch flogen sie vom Gymnasium, noch waren sie Bausoldat. Millionen DDR-Menschen waren nicht Pastorensöhne oder -töchter und selbst die wildesten Dissidenten länger in der SED als andere, denen man es zum Vorwurf macht. Aus Station 22 nichts Neues, man muss jetzt Gesprächstermine vereinbaren, um etwas zu erfahren, Trauerspiel.

25. September 2019

Zu den Erfahrungen, die man jedermann ersparen möchte, gehört die, einem lieben Menschen beim Verfall zuzuschauen und nichts tun zu können. Eben noch einem Scherz zugänglich und schelmisch mit dem Finger drohend, ist plötzlich Irritiertsein der vorherrschende Zustand, Kläglichkeit der Stimme. Was vorgestern Klage gewesen wäre, ist heute Resignation. Kleinste eigene Gesten werden wie fremde Phänomene wahrgenommen. Meine eigene OP wird fast nebensächlich, auch wenn ich am Nachmittag eine Weile sehr heftige Schmerzen habe, nachdem die Betäubung nachlässt. Alles dauerte nicht halb so lange wie im März. Noch einmal Lob, als ob ich einen willentlichen Anteil daran gehabt hätte, wie gut und fest der Kieferknochen geworden ist. Es fühlt sich merkwürdig an, wenn man etwas in den Mund geschraubt bekommt, verglichen mit einer Spritze in den Gaumen ist aber alles das pure Vergnügen. Es herrscht nun erst einmal Brei-Time und Blutorange statt Wein.

24. September 2019

An die verheerenden Folgen aus dem tagelangen Zwangsgenuss von Chlorhexamed Forte kann ich mich noch sehr gut erinnern. Heute nun die Einführung in die zweite Operation mit einem Rundum-Röntgenbild, das mir verrät, wie gut der Knochenaufbau verlaufen ist. Ich sehe, was morgen getan wird, ich werde beauftragt, ein Antibiotikum eine Stunde vor der OP zu nehmen, ich besuche meine Hausärztin wegen eines anderen Rezeptes, gehe mit dem Zahnarzt-Rezept in eine andere Apotheke. Am Ende des Tages lande ich bei 11450 Schritten und das zwei Tage nach dem Urlaubsende. Leider inbegriffen ein Krankenhausbesuch bei einer mir sehr nahe stehenden Person. Der Datenschutz in Krankenhäusern ist mittlerweile so weit fortgeschritten, dass man eine schriftliche Genehmigung erteilen muss, damit ein Besucher an der Rezeption erfahren kann, wo die Patientin liegt. In meinem Falle trug ich heute nachträglich Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht zum Kopieren hin.

23. September 2019

Aus gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen verlautet, dass in der Bevölkerungsgruppe, die in tiefen DDR-Zeiten Arbeiterklasse genannt wurde, Teile des Thüringer weiblichen Gruppenteils sich zur Frage verständigen, dass es ratsam sei, in diesem Jahr LINKE zu wählen, weil, wenn man die CDU wählt, die den schönen Kindertag im September wieder abschaffen will. Ich als LINKE hätte ja wenigstens den 1. Juni zum Kindertag erkoren. Passt einfach besser zur ehemaligen DDR. So muss ich sagen: wenn das Kalkül war, Hut ab, Ziege. Mal schauen, wie sich die weiblichen Wählerströme verhalten. Denn Wählerströme haben eine andere Viskosität und Fließrichtung als die Ströme, in die gewöhnlich unsere Flüsse und Bäche münden: mit denen geht es stetig abwärts. In meinem Viertel sorgen bei 22 Prozent Wahlbeteiligung LINKE-Stammwähler in ihren beigen Popeline-Mänteln für grandiose Wahlsiege bis zu einem Drittel der Stimmen, also sieben Prozent aller Wahlberechtigten.

22. September 2019

Günter Kunert ist tot. Neunzig und ein halbes Jahr alt ist er geworden. In die Tagesschau hat er es in seinem Leben nicht in dieser Länge gebracht, sein Tod verschafft ihm das Vergnügen, das er nicht mehr genießen kann. Da ich kein großes Medium bin, habe ich keinen Nachruf auf Vorrat liegen. Auch ärgert mich, dass nun überall von der Unüberschaubarkeit seines Werkes die Rede ist. Er hat sich vor vielen Jahren über eine Kritik lustig gemacht, die ihm eine verwirrende Vielfalt seiner Texte attestierte. Verwirrt sind immer die Kritiker, die auf der Suche nach gemeinsamen Nennern die Antenne für die einzelne Schönheit verloren haben. Die ganz wichtigen Preise hat er nicht bekommen und ich argwöhnte schon einmal öffentlich, dass das mit seiner Zurückhaltung zu tun haben könnte, Romane zu schreiben. Vielleicht hätte er welche geschrieben, hätte Reich-Ranicki nicht „Im Namen der Hüte“ durch den Wolf gedreht, wahrscheinlicher ist aber, dass er nicht wollte.

21. September 2019

Ausgeschlafener sind wir selten, deshalb fällt uns das frühe Aufstehen ebenso wenig schwer wie das frühe Frühstück. Unsere Koffer werden zuletzt verstaut, weil wir die ersten sind, die aussteigen am Hermsdorfer Kreuz. Wir fahren eine andere Strecke heimwärts: via Triest und Udine, 10.30 Uhr passieren wird die Grenze nach Österreich, ich finde vorher an einer Raststätte noch in Italien einen Viererpack mit verschiedenen umbrischen Bieren, die Craft-Beer-Welle hat auch Italien erreicht. Durch den Tauerntunnel gen Salzburg, schöne Strecke und nahe München fast kein Stau. Wir fahren an Hallein vorbei, wo ich „Don Juan kommt aus dem Krieg“ sah vor auch schon wieder fünf Jahren. Der Bus nimmt in Bayreuth am Bahnhof einen zweiten Fahrer auf, der dann am Hermsdorfer Kreuz übernimmt. Wir müssen kurz auf unser Taxi warten, das uns dann direkt vor der Haustür absetzt und nicht wie vorgesehen am Bahnhof. Vor 21 Uhr sind wir in der Wohnung, packen nur Weniges aus.

20. September 2019

Was Lido di Jesolo ist, lässt sich kaum sagen, eine Agglomeration von Hotels und Appartements vor allem, ein Strand mit endlosen Reihen von Liegen und Sonnenschirmen, die Liegenpreise reichen von 13,50 bis 21 Euro pro Tag, abhängig von der Reihe. Zur Hochsaison fassen sich die Liegenden vermutlich ständig ins Gesicht beim Umdrehen, es gibt endlose Reihen von Läden und Restaurants aller Art, Busse in Richtung dessen, was vielleicht Zentrum ist, fahren keine, man weiß eigentlich gar nicht, wo man sich befindet, orientiert sich an den Farben der Sonnenschirme. Den Ausflug nach Venedig heute haben wir uns verkniffen. Nach 33 Übernachtungen in Venedig, davon 30 am Canale Grande, brauchen wir keine Tagestouren mehr, in zwei Jahren sind wir wieder eine Woche dort. Am Strand auffallend viele dicke alte Frauen. Die Rückkehrer sind alle begeistert, was wir verstehen können. Am Abend wieder Schnelldurchlauf mit vier Gängen, danach Balkon-Abschied.

19. September 2019

Abschied von der Adria, eine Frau hat den Safe-Schlüssel eingepackt und muss noch einmal an den schon verstauten Koffer. In Padua nach drei Führerinnen heute ein Mann: Graziano, der nicht ganz so geläufig deutsch sprach wie die Damen. Zuerst der Platz, den unsere Reisebegleiterin Kerstin als drittgrößten, Graziano als zweitgrößten Europas bezeichnete. Dann die Kirche, die fast alles in den Schatten stellt, was wir bisher im Leben sahen: die Antonius-Basilika, für die uns viel zu wenig Zeit blieb. Immerhin sahen wir die Kapelle der Reliquien mit den Überbleibseln des Heiligen, darunter Zunge, Kinn und Kehlkopf, was einigen eher antireligiös gestimmten Mitreisenden Kopfschütteln abzwang. Wir waren im historischen Innenhof der drittältesten Universität Italiens nach Bologna und Modena. Den berühmten Anatomie-Hörsaal sahen wir nur auf dem Foto. Den gibt es nur im Rahmen einer Führung durch die Universität. Unser Hotel in Lido di Jesolo sehr weit vom Zentrum.


Joomla 2.5 Templates von SiteGround