Tagebuch

12. Oktober 2019

In der Post heute in Gehren die letzte Ausgabe des „Deutsch Kroner Heimatbrief“. Wie es der Zufall will, am Tag nach dem Geburtstag, den es nicht mehr gab. Heimatbrief wie auch Verein lösen sich auf, es wird also auch keinen Gedenkvermerk mehr geben. Ich werde der Verantwortlichen eine Mail zukommen lassen. Das letzte Heft macht Werbung für den „Schneidemühler Heimatbrief“ und „Der Westpreuße“, vielleicht hätte meine Mutter sich das sogar als Ersatz bestellt. Nun aber scheint von denen, die noch Erinnerungen an die alte Heimat haben, kaum jemand mehr zu leben. Den Vormittag brauche ich, um wenigstens eine der offenen Kritiken zu schreiben, der „John Gabriel Borkman“ wird tatsächlich fertig. Für morgen verabrede ich, nicht nach Gehren mitzufahren. Will zu Hause vorankommen. Wir fahren nach Dresden, wollen „Der Kirschgarten“ sehen, werden von frühlingshafter Wärme überrascht, können noch auf der Terrasse sitzen. Das Riesenrad steht noch.

11. Oktober 2019

Heute wäre meine Mutter 91 Jahre alt geworden, es fehlten ihr am Ende genau zwei Wochen. Mir entging gestern erstmals seit Jahren die Vergabe des Literatur-Nobelpreises. Von Tokarczuk besitze ich ein einsames, schmales Bändchen, von Handke etwas mehr, er hat einen eigenen Aktenordner in meinem Archiv. Zu meinen Lieblingen gehört er nicht. Die Grabplatte ist wieder aufgesetzt, nun steht Gertrud unter Oswald Ullrich, die Gebinde sehen noch sehr gut aus trotz teils heftigen Regens. Einer wollte heute zum Geburtstag gratulieren, den ich seit seiner frühen Kindheit in der Talstraße kenne, aber seit Jahren weder sah noch sprach. Seine Mutter war eine meiner Lehrerinnen. Zweiter Sparkassen-Termin heute mit Sterbeurkunde. Besuch bei einer Frau aus dem Handarbeitszirkel des Gehrener Kulturbundes, Schufterei an den Bücherregalen. Die Allianz hat tatsächlich bereits den Restbetrag erstattet, die Rentenversicherung die Rente zurückgebucht, beides rekordverdächtig.

10. Oktober 2019

Ganz nebenbei geht es auch in unserer Wohnung rund, die Rennerei ist messbar: ich komme den vierten Tag in Folge auf mehr als 10.000 Schritte. Ich brauche Platz für alles, was ich mitnehme in meine Regale. Ich entfalte wilden Entsorgungseifer. Trenne mich von Dingen, um mich nicht von Dingen trennen zu müssen. Nebenbei immer ein Blick auf Ibsen. Ich sehe erstmals „John Gabriel Borkman“, die Premiere am 13. September verpasste ich wegen des Urlaubs. Ich werde zeitiger losfahren, kenne nunmehr den Umleitungsweg, der nicht ausgeschildert ist. Die großformatigen Märchenbände, die ich einst aus Berlin anschleppte aus dem tschechischen Kulturzentrum, finden einen guten Platz. Ich sortierte alle Ungarn-Bestände neu, schaffe Platz im Keller für Zeitschriften, an deren Platz in der Wohnung Bücher landen. Im Kalender steht heute der Ein-Euro-Tag, den wir nun nicht mit einer einzigen Fahrt nutzen können: Zeitmangel. Apothekenwunder: alles auf Lager.

9. Oktober 2019

Mir ging es nicht gut gestern, Entspannung erst, als ich beginne, mich um Urlaub für 2020 zu kümmern. Wir werden nach Andorra fahren, nach Korsika und Sardinien und dann nach Langenlois. Heute wieder ein Ast neben unserem Auto, die Genossenschaft reagiert perfekt: Am Freitag soll nun doch der ganze Baum endlich gefällt werden, der eine ständige Gefahr darstellt. Erneut Horror am späten Nachmittag. Am Vormittag bin ich allein in Gehren, die Scherenschnitte gehen von den Wänden, ich gebe Regina auch die Bücher mit von mir, die sie noch nicht besitzt. Sie liest bisweilen in diesem Tagebuch und auch die Theaterkritiken. Eine Frau, die eigentlich nur Handtücher und Tischdecken haben wollte, stürzt sich über die Stricksachen, als wäre das heute eine öffentliche Haushaltsauflösung gewesen. Unglaublich, wie Menschen sein können: dreist, unverschämt, ohne jedes Gefühl, was geht. Morgen werden wir nur kurz kommen, vor allem Märchen abtransportieren.

8. Oktober 2019

Zwischen allem gestern auch noch das Fädenziehen beim Kieferchirurgen, er macht es diesmal nicht selbst, alles dauert länger. Lange Suche nach dem Briefkasten der Antennengemeinschaft. Heute die Trauerfeier, die Akustik in der Feierhalle schien mir gar nicht so grässlich wie vorher beschrieben. Das Pommernlied hörte ich zum ersten Male. Die Rede sehr gut, wir waren alle einer Meinung. Vom Friedhof zu Fuß zu gemeinsamem Kaffee und Kuchen beim Bäcker, wo meine Eltern langjährige Kunden waren. Kuchen wie aus dem Buch für gute Kuchen. Anschließend noch einmal zur Wohnung. Meine Kinderfreundin aus der Talstraße wird die Scherenschnitte mitnehmen nach Berlin, wir verabreden uns für morgen. Die Mail mit der Urkunden-Kopie am Morgen raus,  Brief an die TEAG raus, Brief ans Finanzamt selbst abgegeben. Und immer Arbeit an den Regalen, den Schränken, diverse Stapel, Umsortierungen fürs Antiquariat, das Fotos will, ehe es anrückt.

7. Oktober 2019

Dies wäre der 70. Jahrestag der DDR gewesen. Zwei lange Versuche, einen echten Menschen der Telekom an den Apparat zu bekommen und nicht nur die üblichen Stimmen vom Band, die den Anrufer von A nach B weiter leiten. Ihnen reicht eine Mail mit Kopie der Sterbeurkunde. Die will auch die TEAG und zwar mit der normalen Papierpost. Erstaunlich die Allianz. Sie nehmen die Abmeldung am Telefon entgegen, bekunden Beileid, versprechen Rückzahlung von Resten und zu allem noch schriftliche Nachricht. Das Finanzamt will einen Antrag auf Stornierung für die nächste Vorauszahlung, eine Kopie der Sterbeurkunde und die Restzahlung für 2018. Mit dem Bestatter reden wir fast zweieinhalb Stunden. Es gibt viele Anknüpfungspunkte, nicht nur der vergangenen drei Todesfälle wegen, es gibt gemeinsame Bekannte, Berührungspunkte biographischer Art, seine Mutter war auch in Dreißigacker zur Lehrerbildung. Wir verabreden uns auf 20 Minuten vorher.

6. Oktober 2019

Entwertungshorror. Auch mit Nachlässen ist es wie mit Verkäufen fast aller Art, die unter Druck erfolgen. Wir sind zeitig in Gehren, ich stehe lange auf dem Bürgersteig, den Mann zu erkennen an seinem Autokennzeichen, das dann doch ein anderes ist, als ich dachte. Die Buchstapel warten auf dem kleinen Wohnzimmertisch, die Kartons mit den Heften. Der Mann sucht kennerisch und sehr zielgerichtet. Von den Bänden „Spannend erzählt“ interessieren ihn nur wenige, ebenso von den verschiedenen Heften der DDR-Groschen-Literatur. Der Schock kommt beim Preisangebot, ich bin überrumpelt. Ich verliere sogar zwei Titel, die ich behalten hätte, hätte ich die Kartons vorher noch gesichtet. Wir essen beim Griechen, sind ganz allein, können mit dem Inhaber reden. Wir erfahren von verlassenen Dörfern, in denen sich Albaner ansiedeln. In der Post der Steuerbescheid für 2018. Ich werde morgen telefonieren, wie das Verfahren ist. Leisten Tote noch Steuernvorauszahlungen?

5. Oktober 2019

Warum braucht ein Blasorchester ein Schagzeug, fragt heute der Allgemeine Anzeiger. Das frage ich mich ehrlich gesagt auch, wobei ich bisher gar nicht wusste, dass es Schagzeuge überhaupt gibt. Vielleicht gibt es sie, um arbeitslosen Tommlern einen Nebenjob zu verschaffen, die partout nicht auf Blockföte umschulen wollen. Der „Urfaust“ gestern mit End-Faust gestreckt wegen der so genannten Verständlichkeit, wie mir zuvor zugeflüstert wurde. Die Hauptdarsteller des End-Faust saßen im Parkett, ich sah auch Florian Martens und saß neben einem Professor aus Braunschweig. Noch vor einer Woche hätte ich dem verlässlich sagen können, wann meine Kritik fertig sein wird. Das wollte der nämlich wissen. Doch ist es nicht einfach, den Schalter im Kopf umzulegen von Trauerfall auf Theatergang, von Kündigungen, Abmeldungen, Schrankräumungen, von Gängen wegen Kaffee und Kuchen nach der Trauerfeier. Ausgerechnet in diesem Oktober 5 Theatergänge.

4. Oktober 2019

Immerhin schaffe ich erste fünf Absätze meiner Kritik zum Meininger hinkenden „Hinkemann“, dann ist wieder Nachlass-Arbeit vordringlich. Am Sonntag will ein Sammler und Händler von DDR-Unterhaltungsliteratur zu uns kommen, ich muss ihm den fraglichen Bestand zeigen können. Als wir telefonierten, erfuhr ich, was ich eigentlich wegwerfen müsste, weil es keinerlei Nachfrage mehr gibt. Selbst unser kompletter Bestand an DAS MAGAZIN, mit allen Aktfotos: unverkäuflich. Und dann lese ich in einer hiesigen Tageszeitung, das Heft sei dieser Tage 95 Jahre alt. Welch ein Blödsinn: die erste Ausgabe erschien 1954. In einem Regal steht noch die Fläschchensammlung, in der Mitte der Sechziger begonnen, alle Arten von Hochprozentigem in Miniatur, alles mit echtem Original-Inhalt, wachsversiegelt gegen Verdunstung. Ob sich dafür jemand interessieren könnte? Abends wieder ins Theater, diesmal Weimar, diesmal der „Urfaust“, ein Labsal gegen den Toller.

3. Oktober 2019

Die Feier zum Tag der Deutschen Einheit gestern mit einigen Neuerungen im Redeteil: nicht mehr die endlosen Begrüßungen der vergangenen Jahre, es fehlten auch etliche der immer Begrüßten, so die Alt-Landräte und die Neu-Landrätin. Festredner ein Mann aus der Wirtschaft, Gründer, schon in den späten achtziger Jahren in der DDR in der TH Ilmenau auffällig geworden mit erfinderischer Kreativität, ergraute Zeugen der „Messe der Meister von Morgen“ in den Mensa-Sälen erinnern sich. An ihn und vor allem auch seinen Mitgründer. Ich las den Tag über Tollers „Hinkemann“, an die Erstlektüre vor mehr als vierzig Jahren sind keine Erinnerungen geblieben außer der des starken Eindrucks. Verblüffend viel Substanz fast hundert Jahre nach der ersten Niederschrift verblieben, verblüffend wenig Expressionismus im Text. Die Inszenierung in Meiningen leider ein Fehlgriff in fast jeder Hinsicht. Ich hatte dem Namen des Regisseurs vertraut, der mich bisher nie enttäuschte.

2. Oktober 2019

Lange Gespräche gestern mit den Schwestern meiner Mutter, auch mit Schweden ist geredet. Zur Trauerfeier werden die hinterbliebenen Geschwister alle nicht kommen können. Zu alt, zu krank, zu weit weg. So wird die Feier im engsten Kreise tatsächlich eine. Heute Telefonate, möglichst viel vom Nachlass in gute Hände kommen zu lassen. Ich werde mich, so schwer mir das fällt, von sehr vielen Büchern trennen müssen, es fehlt schlicht an Platz. Ich drehte gestern eine große Runde in Gehren, ging durch die einstige Talstraße, in der ich von 1959 bis 1979 wohnte, zum Steinmetz, der die Grabplatte entfernt und dann wieder mit neuer Beschriftung aufbringt: ich hatte in der Nacht geträumt, ich hätte die falschen Daten angegeben. War aber alles richtig, alles gut auf der Karte an der Pinnwand. Das Haus, in dem ich mein erstes Kinderzimmer hatte, sieht von vorn noch fast aus wie 1959, nur die Haustür ist neu und die Briefkästen, allein die Wetterseite ist grau geschiefert.

1. Oktober 2019

Meine ehemalige Tageszeitung bringt einen Beitrag unter der Überschrift „Der politische Horror von Frankenstein“: Der Hyper-Skandal im Kreis Kaiserslautern betrifft ein Ehepaar Schirdewahn, das im örtlichen Gemeinderat allen Ernstes, man stelle sich vor, eine Fraktionsgemeinschaft bildet, obwohl sie in der CDU und er in der AfD ist. Wäre dem armseligen Schreiber das Wort Horror ebenso hirnlos leicht in die Rübe gestiegen, wenn der Ort des Geschehens, sagen wir: Blankenstein gewesen wäre? Mit Wort- und Sprachverklumpungen sollten gerade Vertreter der Berufsschreiber-Zunft souverän umgehen können. Theoretisch natürlich nur. Von den Christdemokraten kann ich zu ihren Gunsten nur hoffen, dass eine Polit-Gemeinschaft eines Ehepaares für sie nicht blanker Horror ist, sonst wären sie ja vor wirklichem Horror absehbar gänzlich hilflos. „Schockwellen bis Berlin“, wie viel bare Print-Blödheit lassen wir uns eigentlich vorsetzen, bis uns der Kragenknopf wegfliegt?


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