Tagebuch
5. November 2019
Der Ladestein, der mir gestern vom Herzen fiel, als ich die Kartonberge sah, die für uns gesammelt worden waren, mündete heute in den allerersten entspannten Lesevormittag seit fünf Wochen. Den zweiten Band von Theodor Fontanes Darstellung „Der deutsche Krieg von 1866“ legte ich mir gestern bereits auf den Arbeitsplatz, Lesezeichen auf Seite 115. Diese Kriegsdarstellung ist nicht im Ansatz mit sonstiger Prosa Fontanes zu vergleichen. Mein Interesse ist allein sachlicher Natur, nachdem ich vor Jahren die Düppeler Schanzen sah in Dänemark und später las, was Fontane dazu schrieb. In Gehren stapeln sich nun für morgen nicht weniger als 44 Bananenkartons voller Bücher, nach den Faustregeln der Kenner an die 1800 Bände. Im Testament meiner Eltern vom 27. Februar 1988 gilt den Büchern ein eigener Punkt, der glücklicherweise nur die Pflichten beider Parteien, nicht meine regelt. Bei den letzten drei Kartons hätte ich heulen müssen, habe aber nur Muskelkater.
4. November 2019
Nach dem Arbeitseinsatz an der Haushaltsauflösungsfront nach unserer Heimkehr heute erst der Text zum Horvath in den Kammerspielen. Ich graste ein wenig nach Regisseur Kruse, den vor Jahren der alte Augstein wegen seiner „Hamlet“-Inszenierung im SPIEGEL abwatschte und der danach 1994 ausgleichend porträtiert wurde. Seit 2002, wenn ich es richtig sah, schweigt sich das Hamburger Nachrichtenmagazin aus über den Hamburger Kruse. Unsere vorwöchige Bitte um Bananenkartons zum Büchertransport fand ein überwältigendes Echo, REWE überbot alles, was wir uns hoffend ausgemalt hatten. Ich freilich kombiniert mit dem Alptraum, dass wir die Ladung nicht sicher verstaut bekommen mangels Kartondeckeln und anhängender Stabilität auf der Ladefläche. Wir füllten und stapelten, das große Regal leerte sich rasant, Restarbeiten für morgen bleiben noch. Wir essen in Gehren und sind noch am Abend satt, als der ZDF-Dreiteiler zum DDR-Ende begann.
3. November 2019
Beinahe hätten wir uns nach dem Theater in einen Laden gesetzt, der 7,80 Euro für ein Glas Wein wollte. Wir flohen und landeten nach Fahrt mit der Kleingruppenkarte am Savigny-Platz, wo uns ein ganzer Liter für 23 Euro kredenzt und für den späten kleinen Hunger Pizzabrot gebacken wurde, das gar nicht auf der Speisekarte stand. Das ist die Art Gastronomie, die der Osten an sehr vielen Orten auch 30 Jahre nach dem und so weiter nicht erlernt hat. Heute schon wieder Heimreise, der ICE kommt pünktlich, handelt sich aber bis Wittenberg 10 Minuten Verspätung ein. In Erfurt sind wird dann schon wieder vorzeitig und haben zur Belohnung keine Einfahrt. Heute wäre Joachim Seyppel 100 Jahre alt, zu dem ich ohne Todesfall ganz sicher etwas geschrieben hätte, schon wegen der dissidentischen Artikelkopien meiner Studienzeit, die aus dem Westen in meinem Ostberlin landeten und noch heute verblassend mein Archiv zieren. Seyppel schrieb auch etwas zu Fontane.
2. November 2019
Natürlich kennen wir in Berlin viele Ecken nicht. Heute führt uns die Familien-Expedition ins Unbekannte nach Kreuzberg. Wir bestiegen selbigen, sahen im dortigen Victoria-Park oben „Das Nationaldenkmal“, von dem wir nie etwas gehört hatten, das Nationale gehört nicht zu den Berliner Lieblingsdingen. Der Wasserfall schon stillgelegt, der Blick auf die Großbeerenstraße lässt sich nicht stilllegen. Anders als Hamburg seinen Bismarck lässt Berlin immerhin sein 1813-Memorial nicht zuwachsen. Wir laufen die Bergmannstraße ab, sehen Nebenstraßen, die wie Kopien aus Karlsbad anmuten. Wir essen in „Rocco und seine Brüder“ überraschend gute Sachen und haben noch genug Zeit, um uns auf den abendlichen Theatergang einzustimmen nebst Vorbereitung. Ich freue mich auf mein erstes Mal „Glaube Liebe Hoffnung“, nach reichlich zwei Stunden ist alle Freude dahin, ich lernte eine Regie kennen, von der ich keine weiteren Proben zu erleben wünsche.
1. November 2019
Wir fühlen uns gut aufgehoben in dem Hotel, in dem ich schon namentlich begrüßt werde, nachdem ich die selbsttätige Tür passiert habe. Die Abläufe wiederholen sich: wir stellen unser Gepäck unter, weil das Zimmer erst um 14 Uhr zur Verfügung steht, wir eilen zu unseren Lieblingsgeschäften, ich will endlich meinen Geburtstagsgutschein einlösen und bekomme tatsächlich das Buch zum halben Preis, von dem ich hoffte, es zu finden: den Ehebriefwechsel von Eva und Erwin Strittmatter. Dazu gibt es, ebenfalls zum halben Preis, den ersten Band der neuen Hesse-Briefausgabe: 1881 – 1904. Im Kindergarten werden wir erwartet, in der Schule werden wir erwartet, es ist sehr kalt in Berlin, wir haben nichts hinreichend Warmes mit, aber schon morgen soll es deutlich milder werden. Für uns ist heute ein privater Jubiläumstag. Der 1. November 1979 war der erste Tag unseres ersten eigenen Mietverhältnisses, somit wohnen wir heute seit genau 40 Jahren auf der Pörlitzer Höhe.
31. Oktober 2019
Noch vor der französischen Erstaufführung von Eugene Ionescos „Die Nashörner“ im Januar 1960 gab es die Uraufführung des bis heute berühmten, nur leider kaum noch gespielten Stückes in Düsseldorf unter der Regie von Karlheinz Stroux: am 31. Oktober 1959. Liest man lediglich die knappe Charakteristik des Stückes, wie sie Georg Hensel in seinem monumentalen „Spielplan“ gab, dann staunt man, wie aktuell das ist (und bleibt). Schaut man dagegen am Sonntag ins Kritikportal „Nachtkritik“, gewinnt man (vorige Woche etwa) den Eindruck, es werden überhaupt keine Stücke mehr gespielt, nur Romane, Filme, Projekte kommen auf die Bühnen, fast alle nach einer halben Spielzeit schon so veraltet wie die TAGESSCHAU-Sensationen vom vorigen Dienstag. Wer war doch gleich dieser Rezo, war das dieser dicke Grüne, der immer Wein trank? Nee, das war Rezzo, der Wein in sich als alten Schlauch füllte. Heute die finale Stromablesung am Zähler in Gehren.
30. Oktober 2019
Die Oktoberrente ist auf dem Konto, die TEAG hat in Gehren noch einmal abgebucht, die finale Abrechnung folgt nach dem Zählerablesen zum morgigen Monatsende, ich habe das Formular in Bereitschaft liegen. Den Mietvertrag für unsere Wohnung in der Talstraße 14, datiert auf den 10. November 1959, unterschrieben von Bürgermeister Alfred Koch und meinen Eltern, sehe ich zum ersten Mal, das Mietverhältnis begann am 1. Juli 1959. Vielleicht krame ich gelegentlich in meinen Erinnerungen. Ich fand auch sämtliche Quittungen zum Umzug aus der Talstraße in die Obere Marktstraße, alles in allem kostete es knapp 17.000 DM, teuerster Posten das neue Bücherregal für das kleine Zimmer. Für die Beschieferung der Wetterseite in der Talstraße gab es einst eine Hebung der Miete, ich fand auch einen Antrag auf Mietminderung wegen der Langzeitbelästigung durch die anfallenden Arbeiten. Wahrscheinlich abschlägig beschieden, Missstimmung beendet die Mietzeit.
29. Oktober 2019
Der handgeknüpfte Berber aus dem Gehrener Wohnzimmer wandert in ein Auto mit Rudolstädter Kennzeichen, er siedelt in ein Arbeitszimmer über. Wir liefern zum wiederholten Male bei „Gib und Nimm“, lassen diesmal aber die Kisten und Säcke mit dort, es könnte in einer Woche dennoch eine allerletzte Ladung geben. Ich versuche noch einige Spezial-Bücher loszuwerden, ehe alles in den mittleren Norden geht. Zugleich vernichte ich schweren Herzens Hunderte von Karteikarten mit den Sprachübungen meiner Mutter, alles handgeschrieben, alles mit farbigen Kugelschreiberminen: Englisch, Portugiesisch, Französisch, sogar Polnisch, Schwedisch und vor allem Ungarisch. In den Klarsichtfolien auch landeskundliche Beiträge aus Zeitungen. Zu Hause leistet der Papierschredder Schwerstarbeit: alte Rechnungen für Strom, Gas und Telefon, manches Dokument bekommt eine Gnadenfrist. Die letzte Umsiedlung aus unserer Wohnung in unseren Keller betrifft „Text+Kritik“.
28. Oktober 2019
Morgens werde ich von Eiskratzern geweckt, auf dem Balkon blühen die Blumen noch wie neu mit immer neuen Blüten. Unser Wahlergebnis bringt die Kommentatoren zum Schwitzen. Absehbar war das und wir haben nur die Wahl zwischen Wahlen, bis das Ergebnis irgendwie zufriedenstellt, oder Koalitionen, die undenkbar scheinen. Zweckbündnisse von mehr als drei Parteien wachsen sich zum Normalfall aus, die Griechen hatten kurzzeitig unter Tsipras sogar einmal einen Faschisten in die Regierung genommen, das Abendland ging nicht unter. Unser Landtagsabgeordneter setzte sich am Ende doch noch durch, sein Kompagnon aus Arnstadt nicht. Gerade 20 Jahre ist es her, da die CDU hier die absolute Mehrheit gewann, nachdem Schröder in Berlin als Wahlsieger von 1998 ein volles Jahr Selbstfindung zelebrierte. Die SPD saust von der anderen Seite her auf die Fünf-Prozent-Hürde zu, an der sich mehrere Kleinparteien schon tummeln. Es geht weiter mit kostenlosen Kita-Jahren.
27. Oktober 2019
Zeitig zur Wahl, Beteiligung offenbar gut. Wir begegnen Menschen, von denen wir ahnen, wen sie wählen. Ich darf in meiner Wahlkabine sogar sitzen, weil sie so niedrig aufgestellt ist. Die Fotos vom Klassentreffen trudeln ein. In Gehren finde ich einen Brief der Versicherung, die ich eben noch glaubte, loben zu müssen, weil sie nach meiner Information über den Tod meiner Mutter so rasch handelte und sogar den überzahlten Beitrag erstattete. Nun schickt dieselbe Versicherung meiner Mutter die Beitragsrechnung für die Zeit von Ende Dezember 2019 bis Ende Dezember 2020. In diesen gigantischen Läden weiß die linke Hand nicht nur nicht, was die rechte tut, es gibt offenbar gar keine Hände mehr. Auch zwei Kataloge, deren Absender mir versicherten, die Kundenummer meiner Mutter zu löschen, haben schon wieder neue Kataloge geschickt. Am Abend Abschied vom Tatort aus Luzern, über den neuen aus Zürich im kommenden Jahr werde ich nicht mehr schreiben.
26. Oktober 2019
Die beste Idee war es nicht, meine Bücherspende auf den Tag der offenen Tür in den Ilmkreis-Kliniken zu legen, auch wenn es zuerst ganz gut klang. Es war viel zu viel los, es gab ein Foto in einer Patientenbibliothek, in der die Bücher noch gar nicht aufgestellt waren. Am Nachmittag, wie seit fast einem Monat, wieder Gehren, Demontage von Möbeln in der Küche, Abtransporte zu „Gib und Nimm“ und in die Papier-Container. Frohe Kunde noch kurz vor der Abfahrt: die Fahrt mit dem Kleintransporter ins ehemalige Land der Frühaufsteher findet statt. Jetzt heißt es, Bananenkartons sammeln. Plan für den morgigen Sonntag: ich will mich an das Regal mit den Sprachbüchern machen, das ist das letzte, das ich noch nicht Band für Band sichtete. Am Abend Fahrt zum Gabelbach zum Klassentreffen, ich komme ein wenig zu früh, war nicht der einzige, der 18 Uhr im Terminkalender stehen hatte. Dann aber so viele da, wie länger nicht: wir reden über Pflegefälle.
25. Oktober 2019
Nach dem Schuss in den Ofen mit der Handarbeitsfrau gestern, einem kompletten Missverständnis, heute die Absage aus Kassel: zu viele unserer Bücher stehen in den dortigen Beständen. Wir müssen es glauben. Neuer Versuch in Sachsen-Anhalt: Wir werden alle Bücher auf einmal los, müssen sie aber selbst anliefern und bekommen dafür natürlich nichts. Tut sich das Transportproblem auf, ein Termin ist vorsorglich vereinbart, ein Helfer steht bereit, muss allerdings noch endgültig zusagen. Pünktlich neun Uhr stehen wir am Haupteingang des Krankenhauses, unsere Bücherspende umfasst, wenn ich richtig zählte, 154 Hardcover-Bände, 17 Paperbacks, fast alle voluminös, weshalb einige Kisten benötigt wurden. Die beiden letzten Theatertermine des Jahres 2019 sind fixiert: Horvath in Berlin, Kleist in Leipzig. Telefonat wegen des morgigen Klassentreffens. In Gehren Kleinarbeit für mich, erneute Fahrt zu den blauen Tonnen, es geht viel Glas in die Nachbarschaft, Fortgang morgen.