Tagebuch
25. November 2019
Das Kapitel „Krieg“ in Gordon A. Craigs sympathischem Buch „Über Fontane“ brachte ich gestern im Hotel noch zu Ende, bei ihm kommt Kissingen nicht vor, er führt aber in aller Knappheit in alles ein. Heute nach dem Frühstück mein Weg zum Kapellfriedhof, an dem wir wohl drei Dutzend Mal vorbeifuhren, ihn aber nie besuchten. Es dauerte ein Weilchen, bis ich die gesuchten Grabstätten fand, nur eine hat neue Tafeln, die anderen sind mehr oder minder verwittert. Der Friedhof ist, folgt man den Sterbedaten, bis Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre noch in Betrieb gewesen, danach nur noch selten bei größeren Familien-Stätten. Die frischen Kränze vom Volkstrauertag noch überall zu sehen. Ein alter Mann frühstückend zwischen den Gräbern, ein jüngerer ziellos umherschauend. Eine Frau am Rollator berührte die Maria im Zugangsbereich und murmelte Gebete. Das Hotel verwöhnt uns wie gewohnt, wir sind munterer als gestern noch, wo wir den Tatort verschliefen.
24. November 2019
Die finale Abrechnung der TEAG für den Stromverbrauch meiner Mutter ergibt eine Gutschrift von 27,11 Euro. Ich überlege, ob ich die in Aktien anlege oder in geschlossene Immobilienfonds. Ein amerikanischer Tabakkonzern, von dem ich nie hörte als Nichtraucher, zahlt mehrmals im Jahr die derzeit höchsten Dividenden weltweit. Wenn man ein Aktiendepot hat und 40.000 auf einen Ruck investiert, kann man 1200 Euro im Jahr, 100 Euro im Monat, erwirtschaften. Ich warte lieber auf die nächste Rentenerhöhung und die erste Dividenden-Ausschüttung der Genossenschaft nach meiner Einlagenaufstockung. Kann sein, dass ich dann im Juli 2020 ein Schild an meine Tür hänge: Wegen Reichtums geschlossen. Heute aber geht es erst einmal an die fränkische Saale, der Platz in der Tiefgarage ist reserviert, die nette Dame im Stadtarchiv legt mir Material bereit über die Zeiten, als in Kissingen und Nüdlingen Schlachten geschlagen wurden, die Preußen vertrieben die Bayern.
23. November 2019
Dies sind die Zufälle, die ich mag. Ich fahre zum zwölften Male nach Bad Kissingen, zum zehnten Male mit Übernachtungen kombiniert – und die taz, die ich nun wirklich maximal dreimal im Jahr kaufe, füllt heute anderthalb Seiten mit Bad Kissingen. Außerdem hat sie noch ein sehr schlechtes Gedicht über Weihnachtsmärkte und eine steile These im Blatt: Männer machen den Klimawandel, nicht etwa, wie bisher fälschlich angenommen, Menschen. Ich würde noch einen Schritt weiter gehen und sagen: es sind alte weiße Männer, die den Klimawandel machen, genau genommen sind es alte weiße Männer mit orangefarbigen Gesichtern oder solche, denen der Stielkamm ins Klo gefallen ist, nennen wir sie Boris oder Donald. Wahlweise könnten wir noch Wladimir dazu zählen, den alten Tigerjäger. Während ich gestern schnöde vergaß, an André Gide zu erinnern oder an die Uraufführung von Barlachs „Der tote Tag“ vor 100 Jahren, buchte ich einen Andorra-Urlaub 2020.
22. November 2019
Eigentlich hieß sie Mary Anne Evans, zu Ruhm aber kam sie als George Eliot. Sie schrieb ganz dicke und ziemlich dicke Romane und der Weimarer Bertuch Verlag hat deshalb alternativ ein nur 40 Seiten umfassendes Büchlein mit dem Titel „Zu Gast in Weimar“ produziert. Ich sah es noch nicht, aber das will nichts bedeuten. Heute ist der 200. Geburtstag von George Eliot und einige Medien sind altmodisch genug, dessen zu gedenken. Danke, Medien. In meinen Beständen steht außer „Silas Marner“ nichts, es steht zwischen „Die Sturmhöhe“ von Emily Brontë und „Die Kunst zu lesen“ von John Ruskin. Meine Lesepräferenzen würden mich derzeit eher auf Ruskin lenken, aber wen interessieren schon meine Präferenzen. Im Veranstaltungskalender von Bad Kissingen las ich von einem Gastspiel des Theaters Hof in der kommenden Woche, das damit wirbt, nicht nur Filme und Romane auf die Bühne zu bringen. Ich fahre hin, verzichte aber doch auf das Gastspiel.
21. November 2019
Zu nachtschlafener Zeit aus dem Bett, einen Gefrierschrank bei Aldi kaufen, man weiß nie, wie die Nachfrage ist und Söhne mit Frühschicht könnten zu spät kommen. 45 Minuten Telefonat mit Ulm. Der Brief mit den Fotos ist angekommen. Viel Mitgefühl für unser siebenwöchiges Schuften in Gehren. Traurige Botschaft von der Frau meines Cousins. Meinen Tagebuch-Eintrag vom 13. Februar zu Iwan Krylow müsste ich zitieren, das Lesezeichen im Reclam-Buch steckt noch an derselben Stelle. Nur ist heute bereits der 175. Todestag. Gedenken müsste ich auch des Herrn de Voltaire, den man laut Charles de Gaulle nicht verhaftet. Mein Kalender weist mich auf dessen 325. Geburtstag hin, der freilich so wenig wichtig ist wie fast alles. Immerhin las ich sein Stichwort „Todesurteile“ in seinem „Philosophischen Wörterbuch“. Großer Kopf, aber das weiß man ja, wenn man etwas weiß. Kleiner Text zu Fontane fertig, muss morgen nur noch Korrektur gelesen werden.
20. November 2019
Die Kritik steht im Netz, ich konnte dem tschechischen Regisseur leider absolut nichts Lobendes nachsagen, fand aber bei Arnold Zweig noch gestern eine schöne Aussage über Theater, die dem Irrtum unterliegen, Dramen seien Problemlösungsangebote für Grübler in akademischem Rang. Es gibt leider nicht genügend promovierte Grübler, die ausreichen, in größeren Städten mehr als zwei, maximal drei Abende die Häuser mit Gelächter zu beschallen, wenn vorn poststrukturalistisch-postmigrantischer Gender-Kahlbühnen-Abend zelebriert wird. Obwohl es sie natürlich gibt, die den Einfall, Prinzessin Hamlet einen Ophelio an die Seite zu geben, bannig geil finden: endlich mal was anderes. Das kann man ins Unendliche treiben: Königin Lear mit ihren drei Söhnen, Schneewittrich und die sieben Zwerginnen, die dann allerdings Kleinwüchsige heißen müssten wegen der Gefahr, die Diskriminierungsbeauftragte des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe auf den Plan zu rufen.
19. November 2019
Die Rechnung von Eichhorn & Schöne ist da, erfreulich weniger heftig als erwartet. Ich zahle sofort online und bedanke mich noch einmal ausdrücklich, indem ich meinen TAGEBUCH-Eintrag vom Freitag fürs Hausarchiv ins Gewerbegebiet sende. Der Text für THEATERGÄNGE schmort noch immer, dafür gibt es am Abend viele schöne Tore gegen Belarus. So sagen heute im Fernsehen alle, als ob sie Angst hätten, Weißrussland zu sagen. Konsequent wäre es dann, alle Länder in den Nachrichten mit dem Namen zu bezeichnen, den sich die Länder selbst geben. Wir ahnen, dass schon bei Ungarn, nicht zu reden von China, die Sprecher von einer Blamage zur nächsten holpern würden wie es die Fußballreporter seit Jahren tun. Wäre Finnland dann nicht Suomi, wie jeder in Ehren ergraute Briefmarkensammler weiß? Womit ich bei der hinterlassenen Sammlung wäre, die in voller Größe große Flächen im Esszimmer wie im zweiten Schlafzimmer blockiert. Immer noch.
18. November 2019
Während wir in Leipzig weilten, erschien zu Hause mit heftiger Verspätung der verlängerte Bildtext zu meiner großen Buch-Spende für die Ilmkreis-Kliniken in der „Heimat-Zeitung“, ich griene in die Kamera der Verwaltungsdirektorin neben meinen 9 Büchern, die gespendeten 180 Bücher sieht man nicht. Freundliche Kollegen der mir angetrauten Gattin achten für uns auf alles, was in den lokalen Blättern erscheint. Margaret Atwood hat heute ihren 80. Geburtstag. Sie ist mit der Fortsetzung von „Der Report der Magd“ derzeit in vieler Munde, den Nobelpreis für Kanada bekam Alice Munro. Ob es wie bei Peter Handke ausgleichende Gerechtigkeit gibt, dem nach Elfriede Jelineks Preis jeder prophezeite, das sei es nun für ihn gewesen, will ich nicht prophezeien, es gäbe anschließend auch wenig Grund für irgendeinen Migrationshintergründler aus Ex-Jugoslawien, gegen die graue Preisträgerin zu wettern wegen politischer Unkorrektheit. Heute ein Negativ-Rekord an Schritten.
17. November 2019
Die ersten Sätze meiner Kritik habe ich geschrieben, was freilich für den Sonntag nicht viel bedeutet nach dem reichlichen Hotel-Frühstück. Der ICE kommt zehn Minuten später und trotzdem pünktlich in Erfurt an. Einen Hinweis auf ein leer gefressenes Bordrestaurant wie am Freitag gibt es nicht, wir hätten es ohnehin nicht frequentiert. Ein Mathematiker-Pärchen wie am Freitag gibt es auch nicht, es sprach am Stück eine Stunde über n gleich n-Fälle und Lösungswege, die der eine Dozent anerkennt, der andere mit einem Punktabzug bestraft. Die Mathematikerin besucht zwar die Lehrveranstaltungen, weiß aber nicht, wie der Mann vorne aussieht oder gar heißt. Herrlich ist doch die Mathematik. Am Abend gibt es 30 Jahre Lena Odenthal mit Ben Becker. Ulrike Folkerts kann tatsächlich auch spielen, wenn man sie lässt. Ich versuche, meine Hermannsschlacht-Datei noch etwas zu modernisieren, ehe ich die begonnene Besprechung fortsetze. Ein reizendes Reiz-Thema.
16. November 2019
Wer für die kurze ICE-Strecke von Erfurt nach Leipzig keine Platzkarte reserviert, muss unter Umständen stehen. Ich stand. Ich habe in den letzten sieben Wochen so viel gestanden, kombiniert mit Hebe- und Tragearbeiten, dass mir die kurze Zeit wenig ausmachte. Hätte ich geahnt, was mich heute für eine seltsame „Hermannsschlacht“ im Schauspiel Leipzig erwartet, wäre ich wohl weniger enthusiastisch losgelaufen. Immerhin: das bleibende Erlebnis des Tages war der Zoo Leipzig. Wir sahen im Koala-Haus zwei ruhig Eukalyptus mampfende Koalas, was unter Glück zu verbuchen ist, denn die schlafen 18 bis 20 Stunden am Tag. Wir sahen mit ihrer Zunge weiches Futter züngelnde Schuppentiere, die man, so die Wärterin, in dieser Beschäftigung auch nur selten sieht. Ein eben noch in der Hand präsentiertes Kugel-Gürteltier machte seinem Namen alle Ehre und kugelte in eine Mulde, wo es liegen blieb. Was ist dagegen ein Kleist aus dem Text- und Rollen-Häcksler?!
15. November 2019
Die gute Nachricht kurz vor der Abreise nach Leipzig: der Sperrmüll-Rest von Dienstag ist entsorgt. Alles ging, von Auftrag bis Erledigung des Auftrages, in weniger als zwei Stunden über die Bühne. Dagegen der kommunalisierte Abfallwirtschaftsbetrieb des Ilm-Kreises: Antrag auf Entsorgung wochenlang vorher, Termin der Entsorgung wochenlang später, die Hälfte bleibt dennoch stehen. Statt alles mitzunehmen und die Mehrmenge in Rechnung zu stellen zu Gunsten der kreislichen Einnahmeseite, überlässt der beauftragte Ilmenauer Umweltdienst privaten Anbietern gute und fix generierte Einnahmen. Man kann dies Wirtschaftsförderung auf Umwegen nennen oder aber auch als postsozialistische Ignoranz gegenüber wirtschaftlicher Betriebsführung betrachten. Immerhin verschaffte mir der Ärger mit dem AIK das Vergnügen, einer bürgerfernen Argumentation einer Beraterin zuhören zu dürfen, die mich zudem auch noch anmaßend nannte. Weiter so, Ilm-Kreis!
14. November 2019
Früher war Grünheide berühmt für Robert Havemann und die ihn rund um die Uhr bewachenden Brigaden der Sozialistischen Spitzelarbeit. Jetzt will Elon Musk hin und Elektroautos bauen, dazu Arbeitsplätze schaffen noch und nöcher. Da sollten sich die Herrschaften, die sich derzeit um die Doppelspitze der ältesten deutschen Sinkflugpartei bemühen, mal einige Scheiblein abschneiden. Stattdessen kommt Olaf Scholz auf die grandiose Idee, Kaninchenvereinen, die sich nicht der Aufnahme von Füchsen und Schlangen öffnen, die Gemeinnützigkeit zu entziehen. Die erste Welle des Aufschreiens ist durch, wie ich gestern spät sehen konnte. Noch ist es nicht lange her, als Harald Martenstein darauf hinwies, dass ein Knabenchor, der Mädchen aufnimmt, kein Knabenchor mehr ist, sondern ein gemischter Chor und in den konnten schon immer Mädchen aufgenommen werden. Volker Braun, der 80 wurde im Mai, nannte dergleichen die „Eskalation des Blödsinns“.