Tagebuch

13. Januar 2018

Meine hellseherischen Fähigkeiten würde ich bei einer werblichen Darstellung meiner persönlichen Schokoladenseiten (darf man die überhaupt noch so nennen in Zeiten der Kriege gegen versteckten Zucker und verstecktes Alles und Jedes) nicht auf das erste Flipchart-Blatt platzieren. Dennoch: ich wage die Prognose, dass der Krieg gegen die Geschlechtergrenzen oder für ihr Verschwimmen noch auf Bühnen geistern wird, wenn unsereiner von einer über eine slowakische Agentur vermittelten ungarischen Vollzeit-Pflegekraft den Hintern geputzt bekommt. Der einfache Tausch war gestern, die einzelne Figur muss heute bröseln. „Der Sturm“ war gestern, heute ist „Der zerbrochne Krug“. Wenn unsere Freunde aus der Sondierungsbranche uns nun auch noch eine Regierung bescheren, ehe wir den Osterspaziergang nahe Dessau beginnen, dann wollen wir zufrieden sein. Noch im Januar sehe ich deshalb die „Sonny Boys“, Neil Simons Vorwegnahme jeglicher Groß-Koalition.

12. Januar 2018

Meine früheste Auseinandersetzung mit Ferenc Molnar fiel in den Sommer 1981, ich las zuerst „Kohlendiebe“ von ihm, dann das „Wiegenmärchen“. Ich schrieb noch mit Kugelschreiber, die Zitate rot, das andere blau. Sein mit Abstand berühmtestes Bühnenwerk, „Liliom“, sah ich bis heute noch nicht, obwohl es die eine oder andere Gelegenheit gegeben hätte. Dafür dann in Rudolstadt die weithin unbekannte Komödie „Delila oder Das Liebesnest“, auch schon wieder fast zwei Jahre her. Molnar ist am 12. Januar 1878 in Budapest geboren und ich beginne an seinem 140. Geburtstag mein Theaterjahr 2018. Nicht mit ihm allerdings, sondern mit Shakespeare. Dem ich morgen Kleist folgen lasse. Das ist am Ende einer Woche sehr tröstlich, in deren Mitte ich von einer Autorin lesen musste, die den zweiten Band ihrer Erotikreihe veröffentlichte, in dem von einem Halbindianer geschrieben steht: „Sein Speer regte sich.“ Ja, liebe Speerfreundinnen, auch das will Literatur sein.

11. Januar 2018

Kaum auszudenken, wenn im Volk der Enten eine MeToo-Debatte geführt würde. Entenmänner, die so genannten Erpel, sind klassische Vergewaltiger. Wer jemals beobachtete, wie gnadenlos ein Laufenten-Erpel seine auserwählte Ente über die Komposthaufen jagt, der weiß, soziale Medien unter Enten würden deren Aussterben nach sich ziehen. Unter Tauben gilt die Regel „Nein heißt nein“ mit erstaunlicher Konsequenz. Ich habe einmal in Paris buchstäblich stundenlang zugeschaut, wie unendlich niedrig die Erfolgsquote der Täuberiche ist: sie rennen sich die Füße platt um die Angebetete, gurren sich die Kehlen wund und dann - kurz vorm Aufsitzen, fliegt die Gute einfach weg. Damals lernte ich bedauern, dass Tauben nicht grinsen können. Die grinsenden Taubendamen in Sichtweite der bedepperten Gurr-Trottel, was für herrliche Ergebnisse hätte doch die Evolution hervorgebracht. Wir Menschen feiern englische SM-Romane und posten danach gegen Übergriffe.

10. Januar 2018

An das Titelbild kann ich mich nicht mehr erinnern, auch wenn ich es jetzt vor mir habe: unten ein kleiner Honecker, darüber das geborstene Symbol des Händedrucks vom Vereinigungsparteitag 1946, die Schlagzeile „SED unter Druck“, unten rechts auf der Griffecke: „Die innere Situation der DDR. Das Manifest der Opposition. 2. Teil“. Die Veröffentlichung, besorgt von Ulrich Schwarz, führte am 10. Januar 1978 zur Schließung des SPIEGEL-Büros in Ost-Berlin. Zwei meiner engsten Freunde hatten damals Kontakt zu Schwarz, das Manifest machte die Runde, die Stasi rotierte. IM Fischer musste seine Ohren innerhalb der Studiengruppe noch mehr spitzen. Es gab eine Phase der offenen Beschattung vom Start in der Linienstraße bis zum Bratkartoffel-Mittag in der Dimitroff-Straße. Die Genossen gaben sich keinerlei Mühe, unauffällig zu bleiben. In Benin aber interessiert das niemanden. Dort ist heute Voodoo-Tag, es tanzen Honeckers schwarze Nymphomaninnen.

9. Januar 2018

Der Statistiker in mir verlangt, den gestrigen Kurt Schwitters als 100. Text meiner Rubrik ALTE SACHEN auszuweisen, was hiermit getan ist. Der Nebel ist verglichen mit dem montäglichen weniger grau. Für die Himmelblau-Hormonausschüttung reicht es freilich noch nicht. Ich halte mich, wenn ich nicht gerade am Textblock fürs nächste Buch bastle, mal wieder an den guten alten Jean Anouilh. Einen flotten Dialog schubst man nicht von der Bettkante, sagt ein swasiländischer Weiser. Mein alter Literatur-Kalender erfreut in diesem bisher nicht übertrieben schönen Jahr 2018 mit Tag-Synchronität, in ihm ist heute Dienstag. In ihm finde ich verknüpft die Geburt von Simone de Beauvoir und den Tod von Wilhelm Busch, die Geburt von Kurt Tucholsky und den Tod von Katherine Mansfield. An Mansfield schätze ich, dass sie keinerlei Theorie-Grundlagen für Gender lieferte, die Phlogiston-Wissenschaft der Gegenwart, wie sie von sehr bösen Leuten genannt wird.

8. Januar 2018

Weil Papi Diktator war, konnte er Sohnis Geburtstag zum Nationalfeiertag erklären. Das war 2010. 2011 dann warf Papi den Löffel in die Ecke und Sohni wurde Diktator. Sohni ist ein dickes Kind mit einer so unfassbar beschissenen Frisur, dass man schon ihretwegen ihr Demokrat werden muss. Sohnis Volk trainiert das ganze Jahr für große Aufmärsche, weshalb es wenig Zeit zum Essen hat. Ab und zu muss es auch außerplanmäßig zum Beifallkreischen antreten, wenn Sohni wieder eine Rakete getestet hat. In der DDR war Kim die Abkürzung für „Köstlich Immer Frisch“ und bezog sich auf Eier. Was hätte Kurt Schwitters gesagt, wäre ihm ein Kim begegnet? Als ich mein altes Textlein aus der „Neuen Hochschule“ wieder las, schien es mir, als hätte ich es gestern geschrieben, was aber nur bedeutet, dass ich wenig dazu lernte seit 1887. Kein gutes Zeichen. Immerhin habe ich im Kampf gegen meine lieben Hilfsverben ein paar knappe Teilsiege errungen. Also Nachsicht bitte.

7. Januar 2018

Weil schon der Freitag den Kulturbedarf reichlich deckte, blieb der Sonnabend nicht nur am Abend für die „Dicke Wirtin“ am Savigny-Platz, auch am Tag fiel Zeit für ein zartes Ambrosetti-Bierchen ab. Eine ruhige Runde bei Langer & Blomqvist trug ein Stempelchen auf der Bonus-Karte ein. Zwei volle Umläufe gönnte ich dem Wochenmarkt auf dem Karl-August-Platz. Wohnte ich dort, ich wäre längst Wochenmarkt-Fan geworden. Wir ließen nach dem Auschecken unser größeres Gepäck an der Rezeption und hatten noch einen netten Familien-Vormittag. Der ICE pünktlich wie am Freitag schon trotz leicht verspäteter Abfahrt und Überraschungshalt in Bitterfeld. In Erfurt erkundigte sich ein Bürger beim Fahrpersonal, ob STB Straßenbahn bedeute. Es hat schon blödere Vermutungen auf dieser Welt gegeben. Immer schaffen es einige Menschen, in den falschen Zugteil zu steigen. Aber selbst Schadenfreude ist nicht mehr das, was sie früher einmal war, sagt der Nostalgiker. Nun gut.

6. Januar 2018

Die von mir notierten Öffnungszeiten des Literaturhauses stimmten zwar, aber leider nur für das Wochenende. Das bot plötzlich die wunderbare Chance, sich endlich einmal im Käthe-Kollwitz-Museum nebenan umzusehen, das am Ende dieses Jahres an dieser Stelle schließen wird. Ich sah erstaunt, dass manche Menschen Ausstellungen entgegen der gezeigten Chronologie besichtigen. Sie beginnen oben mit dem Tod und enden unten mit der Geburt, umsonst aller Plan und Zeitleiste im Treppenhaus. Kollwitz reichte nicht ganz, das Zeitloch zu füllen, ich wusste einfach zu viel von ihr noch aus dem vorigen Jahr. Dafür konnte ich dann die überaus nette Dame an der Literaturhaus-Kasse mit anderthalb Neuigkeiten über Hesse-Editionen in der DDR und die vorjährige Apoldaer Hesse-Ausstellung erfreuen. Um Martin Hesse, Hermanns Sohn, und seinen Briefwechsel mit dem Vater geht es in der Fasanenstraße. Ich erfuhr auch Dinge, die neu waren für mich. Das mag ich.

5. Januar 2018

Nein, den Ortsnamen Seeon hörte ich nie im Leben. Nun aber, weil ich Zeit überbrücken muss bis zur Abfahrt der Stadtlinie, kaufe ich im Kaufland ein Bier mit dem Namen „Hop Gun“, definiert als „Dry Hop Brown Ale“, dann wie immer meine drei Zeitungen, die jetzt 8,40 statt 8,30 Euro kosten. Zu Hause schaue ich, woher das Bier eigentlich kommt: Camba Bavaria GmbH Seeon. Dann greife ich zum nicht teurer gewordenen oben liegenden Printmedium und lese über die Klausurtagung der CSU, die im Kloster, ei der Daus, Seeon stattfindet. Jetzt erklärt sich mir der urbayrische Name des Bieres, das mit seinen 6,4 Prozent in Belgien noch fast als Dünnbier gelten würde, hierzulande aber den Status des Doppelbocks hinsichtlich Alkohols straff übertrifft. Damit ist fließende Überleitung gesichert zur heute beginnenden Abwesenheit am Arbeitsplatz. Ich gedenke, die neue Hermann-Hesse-Ausstellung in der Berliner Fasanenstraße zu besichtigen. Und einen Geburtstag zu feiern.

4. Januar 2018

Jedes Kind kennt sein Buch „Peterchens Mondfahrt“. So steht es im heutigen ARD-Videotext und ich zweifle zum wiederholten Male daran, ob dort unter den Text-Verantwortlichen auch einige Zurechnungsfähige arbeiten: Wie kann man solchen Unfug behaupten? Unmassen von Kindern können nicht lesen, Unmassen von Kindern wachsen in bildungsfernen Schichten auf und lesen nicht, obwohl sie es bis zu einem gewissen Grade beherrschen. Gerdt von Bassewitz? Fast 100 Jahre mausetot? Sein Grab schon seit 60 Jahren eingeebnet. Immerhin: erst war das 1912 ein Buch, dann ein Stück für Kinder. Vielleicht hat er auch „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ geschrieben unter einem Pseudonym? Nicht einmal das kennen alle Kinder. Ich arbeite mit Schwung an einem Druckmanuskript. Während zwei infantile Politiker sich gegenseitig twittern, wie lang und rot und steif ihre, ja was eigentlich, ach ja, Atomknöpfe sind. Wenn man dran rubbelt, spucken sie sogar.

3. Januar 2018

Zu Maxie Wanders 85. Geburtstag hatte ich eigens die „Tagebücher und Briefe“ aus dem Regal gezogen, die Gatte Fred Wander 1979 aus dem Nachlass seiner so früh verstorbenen Frau edierte. Doch wie knapp vor Jahresfrist sein 100. Geburtstag verstreichen musste, ohne dass ich ihm ein paar Zeilen widmete, so ist es heute mit ihr. Ich tröste mich: Was ich am 1. Januar ankündige, kann  ich nicht zwei Tage später schon wieder außer Kraft setzen, so schnell ist nicht einmal die SPD. Über Protokolle nach Tonband hätte ich ohnehin ungern geschrieben. Auch zu Rose Ausländer nur diese Erwähnung, obwohl ich mir vor Jahren eigens einen Gedichtband von ihr kaufte. Draußen Sturm mit Regen-Graupel-Kombination. Ich suchte ohne allzu große Mühe die 30 gemeinsamen Silvester heraus, werde noch eine versandfähige PDF-Datei daraus machen, damit im Bedarfsfall der Bedarf befriedigt werden kann. Für die 31 gab es bereits erste Vorabsprachen: ergebnisoffen.

2. Januar 2018

Nachtrag: Abreisetag aus Bad Windsheim nach gemeinsamem Frühstück. Wir halten noch einmal am Getränkemarkt, die Weinträger nehmen weitere 13 neue Biersorten auf. Der befürchete Stau auf der Autobahn bleibt aus, wir sind nach etwas mehr als zwei Stunden wieder zu Hause. In der Post keine Überraschungen, drei Restlieferungen aus dem alten Jahr, darunter für mich Kurt Hillers „Köpfe und Tröpfe“. Die Wohnung ist ziemlich ausgekühlt, die alte Ordnung braucht eine Weile. Der Rest der Weihnachtsdekoration verschwindet, reihenweise Telefonate mit den üblichen guten Wünschen. Erstaunlich wenig Mails im Posteingang, die seit dem 2. Oktober ignorierte Website hat endgültig das Sichtfeld der Favoriten verlassen und müsste nun eigens angewählt werden, wozu es keinen Grund gibt. In VOLLTEXT wird Werner Bergengruen von Thomas Stangl als „Der Goethe der Fünfzigerjahre“ tituliert. Was sofort die Frage nach dem Goethe der 60er, 70er, 80er aufwirft.

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  1. 1. Januar 2018

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