Tagebuch
14. Mai 2018
Dass mich eines Tages das Thema „Literarisches Rokoko“ beschäftigen würde, hätte ich niemals gedacht, auf dem Umweg über unseren Nationalheiligen und seine studentischen Ruhmestaten in Leipzig und später in Straßburg bin ich quasi an den Speck gezwungen worden. Gleichzeitig muss ich Mails beantworten, die mich in Verlegenheit bringen, weil sie in mir einen Experten sehen an Stellen, wo ich mich nie selbst so sehe. Offenbar recherchiere ich für meine Texte so, dass Leser zu der Auffassung gelangen, ich wüsste nun alles, was sie nicht wissen. Ich freue mich über jede Reaktion, die mir zeigt, dass meine Seite gelesen wird, zumal es morgen genau sieben Jahre her ist, dass sie freigeschaltet wurde. Manche meiner Rubriken bediene ich nicht mehr oder kaum noch, andere dafür umso intensiver, doch ist mit diesem Jahr in meiner privaten Prioritätenliste das eigene Buch vor das Internet gerückt, das wird auch so bleiben. Zwei kommen noch in diesem Jahr hinzu.
13. Mai 2018
Einer problemlosen Anreise gestern folgte eine staubasierte Heimfahrt heute. Eben noch hörten wir den Langebrücker Hauskuckuck rufen, der vermutlich um einen Platz im Guinessbuch der Rekorde kämpft, und schon klebten wir am hinteren Ende des Staus auf der A 4. In der Reihe neben uns ein röhrender Porsche, die mittlerweile gut erzogenen Kraftfahrer bildeten eine Rettungsgasse, obwohl es nichts zu retten gab. Zwei der sehr hübschen neuen Toyota C-HR sahen wir unterwegs, einer mit Züricher Kennzeichen ZH. Der erinnerte uns überflüssigerweise an den angenehmen Theaterabend im Staatsschauspiel, Gastspiel des Schauspielhauses Zürich. Neben vielem, was man lernend und genießend sehen konnte, war besonders eindrucksvoll, wie Regisseurin Barbara Frey eine stringente Strichfassung gelang, in der nichts fehlte, obwohl vieles fehlte. Am Ende waren alle vier Darsteller und drei Darstellerinnen nackt, für den Schlussbeifall in Bademäntel gehüllt. Bitte wiederkommen!
12. Mai 2018
Zu Rudolstadt wird heute als ein Höhepunkt der Spielzeit Goethes „Iphigenie“ gegeben, ich werde, weil es die Premiere ist, nicht dort sein. Ich würde, wenn es die Premiere nicht wäre, allerdings auch nicht dort sein, denn ich habe mich wegen „Der zerbrochne Krug“ in der Inszenierung des Schauspielhauses Zürich, Regie Barbara Frey, für einen Betriebsausflug nach Dresden entschieden, wo man mit Gastspielen neuerdings ein außerordentlich glücklichen Händchen beweist. Da die beiden nächsten Aufführungen der „Iphigenie“ in der auslaufenden Spielzeit auf Tage fallen, die mich von einer Dienstreise ins Weichbild der Heidecksburg abhalten, kann es schlimmstenfalls gar geschehen, dass ich das Werk überhaupt nicht sehe, es sei, man schleppt es als Wiederaufnahme in die kommende Saison. Meinen allgemeinen Iphigenien-Bedarf deckte ich in den zurückliegenden Wochen immerhin auf Lektürewegen, weil mich die schöne „Crone“, Corona Schröter, beschäftigte.
11. Mai 2018
Die Lesezeichen in meinen aktuell 4 Goethe-Büchern, die ich gleichzeitig lese, rücken unmerklich voran, ich kann einfach nicht mehr als zweimal Goethe in Darmstadt an einem Tag lesen, schiebe deshalb auch einmal Goethe in Berlin dazwischen oder Goethe im Fichtelgebirge, selbst Goethe in Rudolstadt ist nicht ganz vor meiner Neugier sicher und alles dient nur dem einen ungenannten Ziel. Wenn gar nichts mehr geht, sichte ich portionsweise den Stapel „200. Geburtstag von Marx“, der seit dem 5. Mai auf dem Teppich darauf hofft, ausgeschlachtet zu werden. Marx und Goethe lese ich nicht, das Thema erschöpft sich schneller, als es Vergnügen macht. Der Gedanke, dass Goethe zu Fuß öfter von Frankfurt nach Darmstadt lief, lässt mich jedesmal, wenn ich das wieder in anderen Worten bei einem der vierhundertundsieben Goethe-Biographen lese, darüber nachdenken, ob die beiden Städte früher näher beieinander lagen, eine Art Kontinentaldrift später die Strecke dehnte.
10. Mai 2018
Zum Himmel bin ich nicht aufgefahren, der Bollerwagen mit lauwarmem Bier war auch noch nie meine ganz starke Übung, ich habe einfach zum Zeitpunkt X die Frage, ob wir nach dem Essen ein wenig spazieren gehen, dahingehend beantwortet, dass es besser wäre, vor dem Essen zu gehen, dann könnte ich nach dem Essen meine wohlverdiente Ruhe genießen wie immer an Mon- bis Sonntagen. Die wohlverdiente Ruhe fand fast pünktlich statt, nur das Essen, das verteilte sich auf einen Hauptgang am Großen Teich und einen Nachtisch in dem nicht mehr ganz neuen neuen Café am Technologie-Terminal, der früher nur Hauptbahnhof hieß. Wir verspeisten Eisportionen, die für vierköpfige Familien ausreichend gewesen wären. Zu Hause genossen wir später den wunderbaren Starkregen mit den wunderbaren Hagelkörnern, die leider nicht groß genug waren, um vernünftige Versicherungsschäden an all den schönen Autos zu verursachen in unserer Straße. Nur Autowäsche.
9. Mai 2018
Noch kann ich, es ist Schillers Todestag, vom Meister etwas lesen. Denn mit dem anno 1902 in zwei Auflagen erschienenen Heft „Goethe und Ilmenau“ von Paul Pasig bin ich zur Hälfte fertig und muss nun erst einmal meine liebe Hausärztin Christine aufsuchen, die mich in gewissen Abständen zu sehen wünscht. Wir reden bisweilen eher über das Theater als über meine momentan eher nicht erwähnenswerten Wehwehchen, insbesondere aber reden wir über den jeweilig neuen jeweilig gleich unfähigen Gesundheitsminister und seine jeweils fehlgeleiteten Reformen. Den Urologen unter meinen Schulfreunden habe ich noch nicht aufgesucht bisher, ich weiß aber, dass er der Gruppe der bestverdienenden Mediziner angehört, was ich ihm gönne. Wo doch selbst ein Wieland einst einem Bertuch die Einnahmen leise neidete und ein Schiller dem Körner berichtete, dass Herder und Bertuch einander hassen. Schon haben wir Schiller berufen: Auf zur Stadtlinie!
8. Mai 2018
Nicht nur die Kluft zwischen arm und reich wird immer größer in Deutschland, auch die Kluft zwischen prominent und „Wer ist das denn?“. Prominente sitzen tagelang in jedem Morgen-, Mittags- und Nachmittags-Magazin, in jeder Talkshow des Abends und der Nacht, wenn sie eine neue CD, einen neuen Krimi oder eine neue Schmuckkollektion zu verklickern haben, im ZEIT-Magazin dürfen sie von ihrem Traum erzählen oder was sie rettete, zwei wunderbaren Marketing-Formaten mit High-End-Anspruch. Heute gedenken wir Richard von Weizsäckers, der auf die irre Idee kam, vierzig Jahre nach Kriegsende das Kriegsende Befreiung zu nennen. Gestern sahen wir einen erschütternden Film, der zeigte, dass erst 51 Jahre nach Kriegsende die bis heute ungesühnten Euthanasie-Verbrechen in einer (west-)deutschen Heil- und Pflegeanstalt während der Nazizeit ins Blickfeld gerieten. Gut, dass wir hier die Stasi hatten, sonst kämen wir auf ganz falsche Gedanken.
7. Mai 2018
Mit Charlotte Schiller trete ich in den 97. Geburtstag meines Vaters ein. Sein 98. wird der 80. von Volker Braun werden. Wenn es so weit ist, sind meine ersten sieben Renten vernascht und ich muss mich nicht wundern, dass die Galionsfiguren der Lyrikwelle der DDR, die wie vieles Nachahmung ähnlichen Geschehens in der Sowjetunion war, nun in die Generation Rollator hineinwachsen. Doch hätten wir nur Lyrikwellen nachgeahmt, wäre vielleicht manches erträglicher geworden. Leider gefiel unseren Vorhut-Männern auch manches andere, die Lyrik dafür gerade gar nicht. Als Volker Braun sechs Jahre alt wurde, hatte mein Vater noch zwei Tage bis zu seiner Gefangennahme. Zum Einsatz in Schlesien war es nicht mehr gekommen. Mutti Langer, von der ich nie erfahren habe, wer sie war, hat zu ihrem und seinem Geburtstag Kuchen gebacken, einen Brief an Gerda schrieb er am 7. Mai 1945 nicht. An seinem Grab standen wir gestern, die Blumen in der Schale haben sich erholt.
6. Mai 2018
Weder war das alljährliche Groß-Familientreffen besonders anstrengend noch gar sonst negativ. Das Wetter herrlich, der Weg von Dörnfeld nach Pennewitz gut befestigt und einen im Bau befindlichen Spielplatz passierend, der Friedhof sah wohl lange keine solch überfallartige Volksversammlung fast aller Altersgruppen. Dennoch war ich heute platt wie ein gewalzter Wattwurm im Schlick, mehr als zwei Kapitel in zwei verschiedenen Goethe-Büchern auch bei guter Absicht nicht zu bewältigen. Also: Neue Woche, neues Glück, heute nur Regeneration und ein Kölner Tatort am Abend. Die aus Weißenstadt mitgebrachte Scheurebe aus Randersacker macht sich gut, den Blauen Silvaner lassen wir folgen, der gelbe Muskateller darf neben seinen Kollegen aus der Wachau noch etwas ruhen. Ich habe gelernt, dass eine größere Zahl großer schwarzroter Ameisen Dreijährige soweit beunruhigen können, dass Opas Arm herhalten muss, um die Gefahrenzone sicher im Hochsitz zu passieren.
5. Mai 2018
Für 15,80 Euro erwarb ich heute sehr zeitig diverse Zeitungen, die ich sonst an einem Sonnabend nicht kaufe. Die ich sonst kaufe, kommen noch hinzu. Und alles nur wegen olle Karl. Olle Karl hat heute seinen 200. Geburtstag und er hätte sich wahrscheinlich einen Zwerchfellriss gelacht, wäre er Zeuge des eifrigen Medientreibens um ihn geworden. Dicke fette Beilagen, Sonderseiten, im Radio Berichte direkt aus der Hauptstadt der Bewegung, aus Trier, wo es einen Original-China-Nischel zu enthüllen gilt. Sogar die Kirche dorten feiert ihn, denn er ist dort getauft worden, seine spätere Frau Jenny ist dort getauft worden und das mit dem Opium fürs Volk, das ist ihm halt rausgerutscht, das kommt in den besten evangelischen Familien vor. Die Katholiken haben dagegen gar längst ihren eigenen Marx, der sich bei seinem Namensvetter sogar die Buchtitel borgt, wenn es den Verkauf zu fördern verspricht. Und ich, einst durchsuchte ich alle (!!) 43 Bände nach dem Wort „Fortschritt“.
4. Mai 2018
„Es war ein stummer Abschied. Kein Redner sprach, kein Freund rief dem Toten ein Wort des Gedenkens nach, nur eine leise Musik hatte die Gestapo erlaubt.“ So erinnert sich Maud von Ossietzky. „Am frühen Nachmittag, kurz nach 15 Uhr, es war der 4. Mai 1938, hörte das Röcheln auf, es trat eine tiefe, tiefe Stille ein. Carl v. Ossietzky war seinen Leidensweg zu Ende gegangen.“ Liest man 80 Jahre später vom Geschehen um Dr. Kurt Wannow, der sich wegen Untreue und Unterschlagung vor Gericht zu verantworten hatte, ist man sprachlos. Die Zeugenaussage des betrogenen Friedensnobelpreisträgers vom 25. Februar 1938 offenbart auch eigene Gutgläubigkeit. Der vorgebliche Rechtsanwalt hatte ein Fünftel des Preisgelds als Honorar kassiert, außerdem auch den großen Rest dem schwerstkranken Klienten vorenthalten. In dessen letzter Buchbestellung bei Calvary & Co. vom 9. März 38 findet sich der Chesterton-Krimi: „The Wisdom of Father Brown“.
3. Mai 2018
Je weiter die DDR in der Geschichte verschwindet, umso unbeschwerter behaupten selbst linke Blätter ungeprüft und ahnungslos Unfug, NEUES DEUTSCHLAND lässt heute nicht nur die Nachricht, in Paris hätten am 1. Mai 1000 Vermummte sich eine Straßenschlacht mit der Polizei geliefert, wie eine gute Nachricht aussehen, das Blatt kolportiert auch die Falschbehauptung, die Leipziger Universalbibliothek des Reclam-Verlages habe Wolfgang Leonhard nicht gedruckt. Hat sie aber, wenn auch erst 1990, als man schon zwei Bände für 10 Mark zu verkaufen wagte. Längst ist Reclam Leipzig ein abgeschlossenes Sammelgebiet. Ich las eben ein seit meiner Würzburgreise auf dem Wartestapel liegendes Goethe-Buch zu Ende, Titel: „Ihr glücklichen Augen …“, Untertitel „Goethe und Franken“. Immer wieder verblüfft, welche Kuriosa übermotivierter Lokalpatriotismus hervorbringt, mit Gewinn las ich dennoch, wie Kleinigkeiten munter sehr wichtig gemacht werden.