Tagebuch
7. Juni 2018
Nachtrag Leysin: Bergerfahrungen sind hilfreich, wenn man bei weit über 20 Grad einen Bus besteigt, der zum Grand St. Bernard auffährt. Denn oben, Überraschung, liegt noch massiv Schnee, die glatten Schneewände neben der Fahrbahn reichen weit über die Köpfe. Mit zwei Jacken sind wir gerüstet, einige klappern kurzärmlig mit den Zähnen. Zweiter Halt in Aosta, uns bleibt nur Zeit für sensationelles Eis und das Römische Theater, wir sehen auch beide antiken Tore. Aus Italien nach Frankreich, wo wir in Chamonix Mont Blanc eine kleine Stadtrundfahrt mit einem Bähnle erleben und anschließend sehnsuchtsvoll auf die Bahn zum Aiguille du Midi schauen, die im Augenblick gerade ihre Revision in der Zwischensaison erlebt. Sie fährt bis auf 3842 Meter, man kann den Blick rundum natürlich auch mit Google View erleben, Genuss ist anders. Chamonix sah uns nicht zum letzten Mal. In Leysin schon das letzte Abendmahl, für uns ohne Jünger, dafür fein dreigängig.
6. Juni 2018
Nachtrag Leysin: Genfer See, Lac Leman, wir steuern zuerst Montreux an, halten kurz zum Foto-Stopp am Schloss Chillon, das wir auch von innen bestens kennen. In Montreux reicht die Zeit mal eben so für Freddy Mercury, wir erinnern uns des hiesigen Kunst- und Trödelmarktes, von dem wir 2010 zwei nette Stück heimbrachten, eines zeigt Zeit an. Dann nach Genf, wo wir ein wenig Stadt sahen, einen schönen Rundblick aus dem Riesenrad genossen, eine Kleinmahlzeit anschließend zum Preis einer gesamtdeutschen Großmahlzeit. Unser Schiff war rund zwei Stunden unterwegs mit ein paar Zwischenstationen, darunter Nyon, das jeder Fußball-Fan kennt als Ort von Auslosungen, denn dort ist der UEFA-Hauptsitz seit 1999. In Yvoire betraten wir wieder festes Land, französisches, denn die „cité médiéval“ liegt auf der französischen Seite des Genfer Sees. Blumen und Eis, „glacé“ heißt es hier natürlich. Heimwärts über Vevey und Evian, ich fotografierte einen Marx vor Voltaire.
5. Juni 2018
Nachtrag Leysin: Wer mit der Gornergratbahn fahren will, muss Täsch ansteuern, von dort braucht man zehn Minuten mit dem Zug nach Zermatt, wo die Zahnradbahn nach oben startet, wir nehmen die ab 11.36 Uhr. Von 1604 auf 3089 Meter über NN geht es, man steigt des Rundblickes wegen oben noch reichlich dreißig Meter höher und starrt dann zum Matterhorn, welches von Wolken zart umschmeichelt wird, bisweilen fürwitzig oberhalb aber seine Spitze zeigend. Die Dufourspitze kann man auch sehen, die gibt sich jedoch eher unauffällig von hier aus. Und wenn man genug Zeit hat, in dieser schönen Höhe ein Fläschlein vom Fendant zu nehmen, das es gegen 22 Franken hier zu erwerben gibt, dann sieht man immer wieder einmal das Matterhorn fast wolkenfrei in der Sonne. Die Busladung ist begeistert bis maximal begeistert, die Panoramen lösen da und dort Stöhnanfälle aus wie in einer US-amerikanischen Orgasmusschule. Nach dem Abendessen Rotwein aus Spanien.
4. Juni 2018
Nachtrag Leysin: Es geht nach Leukerbad, von dem zu sagen wäre, dass man es nicht zwingend gesehen haben muss, wenn man nicht Fan von Leukerbad und Umgebung ist, für die Umgebung hatten wir keine Zeit. In Sion regnete es und die Bimmelbahn, die angeblich an Montagen nicht fährt, fuhr trotzdem. Wir schauten uns Sion an, Hauptstadt des Kantons, die halbwegs sittenwidrig auch Sitten genannt wird im Land der Mehrsprachigkeiten, obwohl es nur eine einsame deutsche Enklave gibt, nämlich Bellwald, wo wir anno 2006 eine nette Woche hatten. Zwei Stunden blieben bis zum Start gen Saillon, das damit wirbt, den offiziell kleinsten Weinberg der Schweiz in seiner Gemarkung zu haben, der Berg gehört dem Dalai Lama und wird von Prominenten gepflegt, von denen wir jedoch keinen sahen. Dafür tranken wir Fendant unter Bäumen für nur drei Franken das Glas und eine Frau verbreitete das dumme Gerücht, auch der Rotwein sei Fendant: Fake News pur.
3. Juni 2018
Nachtrag Leysin: Der Bus, stellt sich heraus, ist für die engen Kurven ungefähr zweieinhalb Meter zu lang, was denen, die auf der jeweiligen Talseite sitzen, aufwärts und abwärts gewisse Schauer aufwärts und abwärts jagt. Der Busfahrer, bis dato auf solchen Pisten unerfahren, meistert seinen Job mit Bravour und entwickelt dabei eine sensationell defensive Fahrweise, die ihm am fünften Tag die Frage eines Porsche-Carrera-Fahrers, der überholen möchte, einbringt, wo er denn seine Fahrerlaubnis gemacht habe. Im Schweizer Wallis natürlich nicht. Immerhin, nach fast zwölf Stunden Fahrt rollt unser Samsonite in Richtung Lift, wir haben das Zimmer 442, es enthält fünf Betten, einen Stuhl und einen Hocker, zwei der Betten sehen von unten her aus wie Futterkrippen, das und die anderen Zimmer beherbergen in der Wintersaison Familien mit Kindern. Nach dem Essen Kurzausgang in Richtung unserer Ferienwohnung von 2010. Der Weg ist uns aber zu weit.
2. Juni 2018
„Solothurn ist eine überraschend schöne alte Stadt mit wuchtigen repräsentativen Bauten, die dem Status Bischofssitz sich verdanken. Wir erstiegen gegen drei Franken den Turm der Kirche St. Ursen und hatten einen wunderbaren Rundblick über Altstadt und Rest.“ So steht es im Tagebuch von 2008 unter dem 2. Juni, auch getrocknete Rosenblätter sind da vermerkt, die dem edlen Essen am Abend eine sehr spezielle Note gaben. Am 3. Juni fuhren wir nach Bern, was mir in einer Hinsicht auf alle Fälle unvergesslich bleiben wird: dort stieß ich in einem Antiquariat mit Goethe-Ecke auf die zweibändige Taschenbuch-Ausgabe von K. R. Eisslers psychoanalytischer Goethe-Studie über die Jahre 1775 – 1786. Noch heute verursacht allein die Nennung des Namens Eissler Schluckauf bei allen Hardcore-Goetheanern der Generation Hörgerät. Wenn wir morgen oberhalb des Genfer Sees eintreffen, werden wir eher Nachklassisches im Auge haben, Schnee ganz oben.
1. Juni 2018
Sagt die alte zur sehr alten Frau, die ihren Rollator bergauf schiebt, auf deren Frage nach dem Wetter am Wochenende: „Es soll regnen. Wenn Stadtfest ist oder so, regnet es meistens.“ Schon 1973 zur falschen 700-Jahr-Feier der Stadt Ilmenau goss es aus Eimern genau auf den Festumzug und damals gab es weder Feinstaub noch Klimawandel, nur einfach Sozialismus in den Farben der DDR. Wenn in der DDR der Botschafter Pjotr Abrassimow den Ukas aus Moskau übermittelte, knallte das Politbüro die Hacken zusammen. Heute hat diesen Job der neue US-Botschafter von Trumps Gnaden inne, das mit den Hacken klappt immer noch bestens. Warum wir Schutzzölle auf Whisky erheben wollen, nicht auf amerikanische Filme, ist klar: ein Dutzend privater TV-Sender müsste die weiße Fahne hissen, zumal auch die erzfette Roseanne in Ungnade gefallen ist, das Aas. Und dann ist heute auch noch der 80. Todestag von Ödön von Horvath. Paris, ja, das war in Paris.
31. Mai 2018
„Genau 578 Kilometer waren zu fahren, ehe wir hier landeten und wir hatten eine kleine Mühe, unser Quartier zu finden, das wohl im Internet als Seminarhaus firmiert, hier aber Haus am Kreuz heißt und gar nicht zu übersehen ist, wenn man es weiß.“ So steht es unter dem 31. Mai schlicht im unveröffentlichten Tagebuch des Jahres 2008. Die Reise nach Erschwil war die Realisierung eines aus Neugier erstandenen Plans, das so genannte Schwarzbubenland kennenzulernen, von dem wir regelmäßig hörten wegen einer Partnerschaft mit Großbreitenbach. Jetzt schaue ich in der Google-Draufsicht in den Hof an der Schmelzistraße, in der Ecke des Parkplatzes Holunder und am Ende waren wir mehr in Basel und in Solothurn als bei den Schwarzbuben. Wir hatten Gastgeber, die uns die Art Basel ans Herz legten und uns Weine und Speisen kredenzten, die jedem Gourmet-Führer Ehre machen würden. Mich begleiteten die „Briefe der Frau Rath Goethe“: 10 Jahre weg seitdem.
30. Mai 2018
Der Lebensuhr kann man, anders als der Armbanduhr, nicht für früher fünf, jetzt inzwischen sieben Euro, eine neue Monozelle einsetzen und dann geht sie wieder in normalem Tempo. Die Lebensuhr ist gewissermaßen verlötet: kein Rankommen, nicht einmal Anti-Aging-Duschgel von Aldi hilft. Weil das so ist, langer Anlauf zu einer wenig überraschenden Pointe, wendet sich der Blick öfter zurück als nach vorn. Heute wendet sich mein Blick in meine Studienzeit, als ich, wie ich sagen würde, wenn ich ein Altbundesbürger wäre, Philosophie, Ethik, Ästhetik, Geschichte, Psychologie, Politische Ökonomie und Germanistik studierte. In Ästhetik musste ich zum Thema „Ursprung der Kunst“ unter anderem „Briefe ohne Adresse“ lesen, Verfasser ein gewisser Georgi W. Plechanow, der nun wiederum heute vor genau 100 Jahren in einem Ort starb, der damals zu Finnland gehörte, später zu Russland. Es gilt als gesicherte Erkenntnis, dass nicht Putin in Finnland einmarschiert ist.
29. Mai 2018
Es gibt Levin Schücking, den mein zweibändiges Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller unter Droste versteckt, also Annette von Droste-Hülshoff, und es gibt Levin L. Schücking, den Enkel des Levin ohne L und dieser L-Enkel hat heute seinen 140. Geburtstag. Von ihm besitze ich bescheidene zwei Bücher. Eines heißt „Essays über Shakespeare, Pepys, Rossetti, Shaw und anderes“, es stammt aus der Recherche-Bibliothek des Westdeutschen Rundfunks WDR, das andere trägt den Titel „Die Charakterprobleme bei Shakespeare: Eine Einführung in das Verständnis des Dramatikers“ und stammt aus der Zeit, als Schücking Professor in Leipzig war (1925 – 1944). Für Lokalpatrioten wichtig: er hatte auch sechs Jahre lang ein Extraordinariat in Jena inne, von wo es ihn nach Breslau zog. Als es mich erstmals nach Breslau zog, hieß es nicht mehr so und ich staunte, was man alles Autobahn nennen kann. Später strömten EU-Gelder, was ich schon wegen meines Kürzels begrüßte.
28. Mai 2018
Würde sich der Wert der Telekom-Aktie aus der Zuverlässigkeit der Mitarbeiter vor Ort berechnen, könnte man die Anteile wahrscheinlich nur noch unter Dementen verhökern. Ist es schon schlimm genug, dass der Laden die Ankunft eines Monteurs nicht präziser als mit zwischen acht und zwölf Uhr angeben kann, man kennt wohl die Ankunft des Propeller-Transporters auf dem Flughafen Altenburg nicht so genau, noch schlimmer wird es, wenn 90 Minuten nach der Endzeit noch immer niemand aufgetaucht ist. Da vorsorglich die Leitung bereits abgeklemmt ist, kann man noch nicht einmal auf einen Anruf hoffen oder selbst nachfragen. Man kann auch das Internet nicht benutzen, das da auf Highspeed umgestellt werden soll, wozu die Telekom dort leider nicht in der Lange ist, nur ihr Netz ist es eben. Man soll nichts Böses dabei denken. Am anderen Ende der Stadt, meinem, funktioniert das, nicht zu reden von Ländern wie Estland, wo man macht, wovon wir nur reden.
27. Mai 2018
Wenn sich Fossilien treffen, nennt man das ein Fossilientreffen. Ich nehme an einem solchen seit vielen Jahren teil, wann immer es keinen anderen Termin gibt, der dagegen spricht. Die Umläufe der Fossilien werden kürzer, die Pausen während des Umlaufs, den man natürlich auch Wanderung nennen darf, werden länger und schließlich, wenn alle beisammen sitzen zum fröhlichen Trunke, gehen nicht nur die Ersten früher als früher auch die Letzten entweichen unter Austausch bester Wünsche bis zum nächsten Jahr eher als früher. Heute hatte ich dennoch einen Kopf, den ich nicht zwingend schwer nennen würde, leicht war er allerdings auch nicht und es bemächtigte sich zeitig eine unabweisliche Müdigkeit meiner. Den Pflichtteil über Theaterskandale hatte ich hinter mir, einen kleinen Ausflug zu George Bernard Shaw auch und schließlich las ich über die Stadelmann-Gesellschaft. Ja, Goethes Diener erhängte sich, nachdem er zuvor noch ein Ehrengast gewesen war.