Tagebuch

3. Oktober 2023

Mehr Lametta war früher nicht immer. Aber mehr Einladung. Jahraus, jahrein flatterten sie ins Haus, bisweilen von echten Oberbürgermeistern oder Sparkassenchefs unterschrieben, auch von Landräten. Inzwischen vergessen und vergangen. Während wir uns früher mehr oder minder launige Reden anhörten und die stets unvermeidlichen Grußworte der stets unvermeidlichen Granden des regionalen Politikgeschäfts, sitzen wir am Vorabend des Staatsfeiertags nun vor dem nicht mehr taufrischen Fernseher, schauen uns „Babylon Berlin“ an und mitten in Episode 8 verabreden sich zwei im Scheunenviertel Mulack-/Ecke Gormannstraße. Da habe ich vier komplette Jahre gewohnt und erkenne natürlich nichts. Meine Ecke war ja die Ecke nach den Bomben, die jetzige Ecke sieht völlig anders aus als meine und wieder noch völliger als die frühere. Immerhin: heute sind wir 33 Jahre eingemeindet, unter den Nachwendekindern sind bereits die ersten Großmütter: Let‘s dance!

2. Oktober 2023

Melodramatisch gesagt: Am 2. Oktober 1973 starb mein Traum vom Journalismus. Ich erlebte in Leipzig den aktiven Totschlag einer Hoffnung, die noch am 25. September ebenda genährt worden war. Auf der Basis schriftlicher Spitzelberichte eines Kollegen, der den stellvertretenden Leiter der Abteilung spielte während meines Volontariats in Suhl, kegelte mich eine Dame, die in meinem alten Tagebuch als „Phrase in Person“ gekennzeichnet ist, aus meiner beruflichen Perspektive. Sie war die Gattin eines damals und später noch vor sich hin dozierenden Professors für innenpolitische Journalistik, später Theorie und Praxis des Journalismus. Seine Predigten hätte ich wohl über mich ergehen lassen müssen, andere auch. So aber, heutigen Phrasenschwafel anwendend, machte ich aus der Sauerei eine Chance, bewarb mich vergeblich neu, um schon 14 Tage später einen wunderbaren Job als technische Hilfskraft an der Technischen Hochschule Ilmenau anzutreten: in der Bibliothek.

 

1. Oktober 2023

Das Schöne an unserer Straße ist ihre Geräusche verstärkende Wirkung. Man hört alle auf ihren Balkonen lauthals telefonierenden Mitmenschinnen sehr deutlich. Man hört die Müllabfuhr als Ersatzwecker. Man hört, wie etwa heute vor zwanzig Jahren, die eiskratzenden Frühaufsteher an ihren Autoscheiben. Und weil wir den lieben Klimawandel haben, kratzt heute zu Monatsbeginn niemand Eis. Viele gehen in kurzen Hosen, ich nur im Hemd mit kurzen Ärmeln, die Hose lang bis auf die Schuhe. Unser Ziel ist das Gabelbach-Hotel, wo wir erstmals zum Sonntags-Lunch gemeldet sind. Nur die Kellnerin behauptet uns zu kennen, sonst keine mir Bekannten. Spaziergang bis zum Jagdhaus Gabelbach, wo ein Tourist sagt: Ach, das ist der Kickelhahn. Er merkt es noch selbst. Eine Schautafel im Hotel-Foyer hat mein alter Lateinlehrer getextet. Der langjährige Besitzer, der nach der Wende wie ein Einmann-Heuschreckenschwarm eingefallen war, wird nur sehr knapp erwähnt.

30. September 2023

Als der Kritiker Arthur Eloesser im Juni 1901 neben anderen das Buch „Camera obscura. Fünf Geschichten“ besprach, im Verlag Georg Weiß Heidelberg erschienen, lebte sein Verfasser noch: Ferdinand von Saar, ein Österreicher, am 30. September 1833 geboren. Fünf Jahre später, am 23. Juli 1906, erschoss er sich vor seinem Handspiegel nach erfolgloser Krebsoperation. 1908 erschien eine zwölfbändige Werkausgabe von ihm, der sich vor allem mit einigen seiner 32 Novellen etwas Nachruhm sicherte. Als Dramatiker sah er sich am Anfang, scheiterte aber damit gründlich. „Saar war immer zwischen zwei Zeiten, Mensch des Untergangs und des Übergangs“, schrieb Eloesser später in seiner zweibändigen Literaturgeschichte. DDR-Leser lernten ihn mit „Leutnant Burda“ (bb-Buch) kennen, mit „Die Steinklopfer“ (Insel-Bücherei), mit „Requiem der Liebe“ (Sammlung Dieterich“ und zuletzt noch mit „Novellen aus Österreich“ in der „Österreichischen Bibliothek“.

29. September 2023

Vor 50 Jahren starb Wystan Hugh Auden, ein Engländer mit amerikanischer Staatsbürgerschaft, in Wien. In die DDR verliefen sich von ihm Gedichte: ein Poesiealbum Nummer 92, noch von Bernd Jentzsch herausgegeben, ein Band der zweisprachigen Art von Volk & Welt Berlin, Titel „Glück mit dem kommenden Tag“. In meiner Insel-Sammlung findet sich auch Band 811 „Shakespeare. Fünf Aufsätze“. Begraben ist Auden in Kirchstetten nahe St. Pölten, dort gibt es eine Gedenkstätte und heute beginnt im Schloss Totzenburg ein Poesiefestival, das bis zum Sonntag geht. Morgen wird die Installation „Das letzte Automobil: W. H. Audens VW Käfer“ eröffnet. In Ilmenau gab es vor 25 Jahren die Enthüllung des Ziegenbrunnens, meine Augen waren dabei dienstlich gestimmt, auch wenn mit Vorbereitungen zur Bad-Sanierung hinreichend private Angelegenheiten zu regeln waren. Eine zu schützende Quelle verriet mir die Dauer-Alkoholisierung eines allseits bekannten Bürgers.

28. September 2023

Wenn ich heute an Donna Leon denke, weil sie 81 Jahre alt wird, ist es angenehmer, als an mich zu denken, wie ich vor 50 Jahren zwischen Hoffnung und Selbsttäuschung umherschwankte. Von den inzwischen 31 Brunetti-Krimis besitze ich keinen einzigen, sehe aber Verfilmungen, die die Autorin nicht besonders gut findet, sehr gern, weil ich in ihnen Orte in Venedig wiedererkenne: Brücken, Seitenkanäle. Am liebsten sehe ich den Blick von Brunettis Dachterrasse. Ein Leon-Buch liegt aber doch in einem meiner Regale quer: „Über Venedig, Musik, Menschen und Bücher“. Sie erzählt da unter anderem von einem Turm- und Uhrenwärter namens Alberto, der Philosophie studierte und Blaise Pascal zu seinem Spezialgebiet erwählte: „… wir sind in Venedig, wo weniges so ist, wie es auf den ersten Blick erscheint.“ Das unterschreibe ich. Donna Leon ist seit 2020 eine Schweizer Staatsbürgerin mit Migrationshintergrund. Das hat wohl mit Diogenes zu tun, dem Verlag in Zürich.

27. September 2023

Endlich und frühzeitig darf sich der Ilm-Kreis darüber freuen, dass es einen ernsthaften und auch ernst zu nehmenden Gegenkandidaten für Landrätin Petra Enders gibt. Allein der Gedanke, nicht in jedem Kreisamtsblatt mehr Enders-Fotos zu sehen als Honecker-Bilder in „Neues Deutschland“ zur Leipziger Messe, sollte eine gewisse mediale Fröhlichkeit auslösen. Zunächst aber bellen Hunde, die ihre tiefe Betroffenheit zum Ausdruck bringen müssen. Ein berufsmäßiger Listenplatzrutscher mit solider eigener Stasi-Erfahrung kläfft mit Argumenten, die einschlägige Schulung verraten, die Karawane, das Sprichwort sagt es, zieht weiter. Wir werden, bei allseits erfolgreicher AfD, ohnehin die DDR näher rückend erleben: die so genannten demokratischen Parteien werden nur Schulter an Schulter dem drohenden Wahlsieger ein Schnippchen schlagen können: Was der DDR Blockpartei war und Nationale Front, braucht nur noch einen frischen Namen: die Totale Koalition vielleicht.

26. September 2023

Einmal Leipzig, immer Leipzig? Roderich Benedix jedenfalls starb daselbst am 26. September 1873, wo er am 21. Januar 1811 das Licht der sächsischen Welt erblickt hatte. Zwischendrin war er Vieles, vor allem erfolgreich. Als Schauspieler nicht ganz so sehr wie als Komödienschreiber, am Ende seines Lebens befasste er sich mit der allgemeinen Shakespeare-Begeisterung, die er, so bald der Buchtitel, Shakespearomanie nannte. Die Buchpremiere erlebte er selbst nicht mehr. Im Corpus der Theaterkritiken von Theodor Fontane finden sich immerhin 35, die sich mit Inszenierungen der immer wieder gespielten Benedix-Werke befassen, eine 36. Kritik blieb ungedruckt. Dass Benedix auch kurz zum Ensemble des Meininger Theaters gehörte, sei den Werra-Patrioten ans Herz gelegt. „Aschenbrödel“, „Der Störenfried“ und „Die zärtlichen Verwandten“ sah Fontane am häufigsten. „Nie ist unser Ausharren besser belohnt worden. Brillant!“ schrieb er 1871, da lebte Benedix noch.

25. September 2023

Frank Kuschel saß heute vor 20 Jahren ausdauernd auf dem Bänkchen vorm Saal des Amtsgerichts, kam als Zeuge dann aber nicht mehr zu Wort. Es ging um Holzdiebstahl, er war damals Chef einer einschlägigen verdächtigen Firma. Lustiger Medienauftrieb. Am Vormittag erlebte ich erstmals im Gericht einen der berüchtigtsten Linkskriminellen Ilmenaus. Er war so oft vorbestraft, dass er nie genau wusste, was ihm gerade aktuell zur Last gelegt wurde. Elf Monate auf Bewährung wurden in 15 Monate ohne Bewährung umgewandelt. Seine Sorge war, nicht in ein Gefängnis eingewiesen zu werden, in dem aus seiner Sicht Rechte einsaßen. Eine armselige Jammergestalt, die Alkohol und Drogen hinter Antifa versteckte. „Das Große Welttheater“ zu Ende gelesen, Fontana nach Fontane, blöder Zufall. Ich gehe zu Max Mell über, von Österreich nach Österreich. „Gegen nichts wird man so schnell gleichgültig wie gegen Naturschönheiten“, schrieb Fontane, doch die Abendröte liebte er.

24. September 2023

Meine Bestände an tschechischer und slowakischer Literatur sind sehr bescheiden, ich besitze mehr Titel allein von Günter Kunert als von Jan Neruda bis Milan Kundera. 17 der 81 Titel stammen von Karel Čapek, fast alle habe ich gelesen. Von Ladislav Fuks steht nur „Herr Theodor Mundstock“ in meinem Regal, die DDR veröffentlichte seinen Erstling von 1963 im Jahr ihres Hinscheidens. Zehn Bücher in deutscher Übersetzung sind heute gebraucht greifbar in 50 Exemplaren, vorgestern waren es noch deutlich mehr. Was womöglich am heutigen 100. Geburtstag des Pragers liegt, der schon 1994 starb. Da Fuks weder ein bekennender Dissident noch ein Charta-Unterzeichner war, hat ihn der Westen in seiner souveränen Ignoranz weitestgehend übersehen. DDR-Ausgaben machen 90 Prozent aller antiquarischen Angebote aus. Auch Jiři Fried und Miroslav Holub hätten in diesem Jahr kurz der Vergessenheit entnommen werden dürfen, auch sie Jahrgang 1923, auch sie längst tot.

23. September 2023

Wegen Corona ein Jahr verspätet der Wochenendausflug nach Magdeburg vor einem Jahr: Freitag Ankunft, Sonntag Abreise. Ich sah, bewegungsunfähig, wie ich war, von Magdeburg nichts, die Wege zum Essen und zurück waren Torturen. Zum heutigen Samstag lese ich bei Walter Werner aus dem Jahr 1980: „In Nerudas Dichtungen ereignen sich noch die glücklichen Verwandlungen der immer seltener werdenden, im Aussterben befindlichen Naivitäten.“ Und: „An Nerudas Versen las ich als Forderung ab: Gedichte müssen ihre Notwendigkeit beweisen.“ Und weiter: „Vor allem die anschaulichen Dinge sind mir, seit ich Nerudas Gedichte liebe, vertrauter geworden.“ Pablo Neruda starb am 23. September 1973 in seinem Haus. Es war verwüstet und teilweise zerstört, beschreiben Zeugen die Szenerie wenige Tage nach dem Pinochet-Putsch gegen Allende. Carlos Rincón schrieb damals: „Es gibt Formen zu sterben, die ein Mord sind.“ Das durfte er so sehen, sage ich zu mir.

22. September 2023

Unter den österreichischen Theaterkritikern nach 1945 war Oskar Maurus Fontana einer, dem nicht der Schaum vors Großhirn trat, wenn er dem Namen und Phänomen Bert Brecht begegnete. Er sah das Gastspiel des Zürcher Schauspielhauses mit Therese Giehse als „Mutter Courage“. Unsereinem sagt das etwas, auch wenn ich die Aufführung selbstverständlich nicht sah. Wien und Zürich lagen für mich auf einem anderen Planeten. Inzwischen war ich mehrfach dort, nie jedoch im Theater. Nur den „Jedermann“ erlebte ich in Salzburg vorm Dom ohne Schnürlregen. In meinem Mail-Postfach sammeln sich aktuell die Einladungen zu Premieren, darunter zu „Hamlet“ in Meiningen. Andreas Kriegenburg führt dort Regie. Meine hausinterne Suchmaschine bringt ihn in Zusammenhang mit einer Inszenierung von „Kabale und Liebe“ in Düsseldorf, die ich in einer Fernsehaufzeichnung erlebte. „Kabale und Liebe“ war mein letzter Theatergang vor 16 Monaten: Meiningen Juni 2022.


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