Tagebuch

18. Oktober 2023

430 Mark der DDR betrug mein Monatsgehalt in der Bibliothek der TH Ilmenau, da war eine Prämie von 50 Mark schon ein gewaltiger Brocken, eine Gehaltserhöhung um 20 oder 30 Mark ein Ereignis. Am 18. Oktober 1973 erreichte mich ein Brief der Humboldt-Universität mit Einladung zum Eignungsgespräch am 26. Oktober. Wie groß meine Hoffnungen waren, weiß ich nicht mehr, dass sie sich zerschlugen, natürlich noch. Auf dem Balkon uns gegenüber heute die Hausmeisterin der Genossenschaft, was Wohnungsabnahme bedeutet. Später sah ich: der Briefkasten zugeklebt, der Name vom Klingelschild entfernt. Vierzig Jahre Ilmenau Geschichte, der Rest nun Wismar. Der Hermes-Bote spät mit dem Wein, doch eine große Kiste, nicht wie versprochen zwei. Zum Glück kräftiger Besuch im Haus, wir feiern den Geburtstag nach, der uns nach Kissingen entführte. Nun fehlt nur noch eine Lieferung aus Eisenstadt, nach Wachau und Weinviertel einmal Burgenland.

17. Oktober 2023

Es ist mir tatsächlich gelungen, ein paar Zeilen zu Ingeborg Bachmann zu schreiben und gleich ins Netz zu stellen, das am Tag 33 mit mehr als 10.000 Schritten in Folge. Vor 50 Jahren hatte ich schon meinen dritten Arbeitstag in der Hochschulbibliothek, Zweigstelle ET im Kirchhoffbau auf dem Ehrenberg. Eine meiner damaligen Kolleginnen starb 2020 fünf Tage nach ihrem 74. Geburtstag, was ich erst erfuhr, als ich fünf Monate später zufällig ihren Grabstein auf dem Ilmenauer Friedhof fand. Am 17. Oktober 1998 hatte unser Sohn sein erstes Landesliga-Heimspiel Basketball gegen Mühlhausen in Ilmenau, lang ist es her. Er kam als Sieger nach Hause, zehn Punkte auf dem Konto. Das Gastland der Frankfurter Buchmesse ist Slowenien und jemand sagt, dort schreibe offenbar jeder Zweite Gedichte. Die Rede des Philosophen Slavoj Žižek soll Buhrufe erzeugt haben, melden die Nachrichten. Wenn ich sein Bild sehe, sehe ich meinen Nachfolger in meiner Redaktion, leider.

16. Oktober 2023

Vor zwanzig Jahren freute ich mich auf meinen am nächsten Tag beginnenden Urlaub im Burgund. Mouthier en Bresse war das Ziel, vorher Zwischenübernachtung in Niederkassel, nachher wieder. Ein zweiseitiges Schreiben mit den Unterschriften meines Chefredakteurs und des von diesem gern vor Zeugen gedemütigten stellvertretenden Chefredakteurs kündigten mir an, dass mein Abschuss unmittelbar bevorstehe. Es folgten noch ein paar Kuriositäten, ehe ich am 1. Dezember Abschied nahm, meine letzten zehn Stunden in der Redaktion. Beim heutigen Blättern in mir gebliebenen Dokumenten merke ich, wie weit das weg ist. Jetzt weiß ich besser als damals, welche Wege diese oder jene Information nahm. Die Professorin Hedwig Richter, die ihren heutigen 50. Geburtstag nicht verhindern konnte, kommt auf der ersten Google-Seite immer noch mit ihrem Verständnis für das Besprühen des Brandenburger Tores vor, Historikerinnen sind nicht mehr das, was sie waren.

15. Oktober 2023

Nur im April und im September waren wir noch nie in diesem Hotel, noch nie hörten wir mehr leichte Klagen darüber, wie eng es in der Tiefgarage zugehe. Vielleicht hat das damit zu tun, dass die Leute gegen den angeblichen E-Auto-Trend immer dickere Karren fahren. Doch selbst in der Fernsehwerbung wagen einzelne Firmen nach langer und verlogener Präsentation ausschließlich von E-Autos wieder etwas mehr Realismus. Die Leute wollen mehrheitlich die Kurzstrecken-Brezeln nicht. So viele Kaffee-Pausen legen nicht einmal Abteilungsleiterinnen ein, wie die neuen Steckdosenfreaks auf längeren Strecken. Darüber hinaus wäre heute Italo Calvino 100 Jahre alt geworden. Er verfehlte das Ziel um etliche Jahre, starb schon am 19. September 1985, vier Wochen vor seinem 63. Geburtstag. Wie kommt man als Italiener zum Vornamen Italo? Man muss in Kuba geboren sein. Wäre ich da geboren, hätte meine Mutter mich vielleicht Thüring Ullrich genannt.

14. Oktober 2023

Nachtrag: Das ist tatsächlich unser dreizehnter Aufenthalt in diesem Hotel, seit 2011 waren wir nur 2016 und 2022 nicht da. Jetzt treffen wir Leute, die seit 25 Jahren und mehr immer wieder kommen, einer mehrmals im Jahr: mit und ohne Gattin. Ein älteres Paar aus Frankfurt/Main hauptsächlich wegen einer Autowerkstatt, wo sie ganz persönliche Betreuung finden. Nach dem Tiefpunkt vor zwei Jahren, als das Personal sich fast in Luft aufgelöst hatte, jetzt wieder alles wie in besten Zeiten: jeder auch nur halbwegs geleert aussehende Teller bringt die Bedienung zur Frage, ob er schon abgeräumt werden darf, das Weinglas wird ständig nachgefüllt. Nur der trockene Weiße ist nicht mehr im Angebot. Rosé und Rot (Domina) helfen darüber hinweg. Im Zeitungsladen hole ich meine gestern bestellten Blätter mit Buchmesse-Beilagen, alles klappt wie am Schnürchen. Und das Geburtstagskind findet eine Flasche Silvaner feinherb im Zimmer, kombiniert mit Glückwünschen.

13. Oktober 2023

„Wieder einmal hat es mein Chefredakteur geschafft, mir den Tag zu verderben.“ Als ich das vor zwanzig Jahren festhielt, ahnte ich noch nicht, dass mein Ende in Ilmenau eingeleitet war. Einer Schuld war ich mir nicht bewusst, mein Versäumnis war winzig, in geordneten Häusern nicht der Rede wert. Wenn man aber, ohne es zu ahnen, auf einer Abschussliste steht, gilt selbst ein zu locker gebundener Schnürsenkel als Provokation des Chefredakteurs. Eigentlich wären wir heute in Italien, die Genussreise zu genießen, die als Geburtstagsgeschenk für meine eheliche Mitarbeiterin gedacht war. So genießen wir die Färbung der Blätter bei unseren täglichen Wanderungen zum 10.000-Schritte-Ziel. Und fahren ersatzweise nach Bad Kissingen. Es wird unsere 13. Anreise und das an einem Freitag, den 13., sind wir abergläubisch? Einst setzte sich gar Matthias Biskupek auf unsere Fährte, er wollte wissen, was uns da immer wieder anlockte: das Casino an der Saale war es nicht.

12. Oktober 2023

Schrecklich: aus dem Stand versagt das Gedächtnis. Warum hatte ich einen kurzen Mail-Wechsel mit Deborah Vietor-Engländer? War es Fontane, war es Alfred Kerr? Spät noch las ich gestern vom Sterben Alfred Kerrs in Hamburg, das in den Morgenstunden des 12. Oktober 1948 endete, ich las es in ihrer großen Kerr-Biographie, die 2016 bei Rowohlt erschien. Und ich weiß auch nicht aus dem Stand, ob ich in Hamburg-Ohlsdorf an Kerrs Grab stand oder nicht, nachdem ich viel zu lange das Grab von Wolfgang Borchert gesucht hatte. In der Biographie ist auch Arthur Eloesser dreifach genannt, was mich 2016 noch kaum berührt hätte. Kerrs Werk ist mir nahe, nicht nur die Kritiken des Theatergängers, auch die Briefe aus Berlin. Aufgeschlagen liegt vor meinem Bildschirm eine Kritik, die am 2. Oktober 1929 im Berliner Tageblatt stand. Kerr forderte das Propagandastück mit Kunst: „Davon ist und ist und ist nicht abzugehen.“ Das ging gegen den kunstlosen Friedrich Wolf.

11. Oktober 2023

Meine Mutter wurde am 11. Oktober 1958 30 Jahre alt. Das war ein Sonnabend, kein arbeitsfreier, das kam erst später. Johannes R. Becher starb nach einer Krebsoperation an diesem Tag. Unter den Büchern meiner Eltern waren zwei von ihm: „Ausgewählte Dichtung aus der Zeit der Verbannung 1933 – 1945“, 2. Auflage im Aufbau-Verlag GmbH Berlin, versehen mit dem Stempel „Gertrud Steinnagel“ und einer handschriftlichen Widmung „Zur frdl. Erinnerung an Ursula Borchert und Annelies Müller“. Ich kann nicht mehr nachfragen, wer diese Damen waren. Das zweite, deutlich schmalere Buch war „Heimkehr. Neue Gedichte“, ebenfalls Aufbau-Verlag Berlin W 8, ohne GmbH jetzt und mit dem Namenseintrag „Osw. Ullrich“. Beide Bücher sind schon früh in meinen Bestand gewechselt. Becher hatte damals riesige Auflagen, für Lyrik heute unvorstellbar. Die erste Gedenk-Ansprache hielt Walter Ulbricht höchstselbst, es folgten Alexander Abusch und Stephan Hermlin.

10. Oktober 2023

Vor fünfzig Jahren gab es das alles am 10. Oktober noch nicht: Welttag gegen die Todesstrafe, Welttag der seelischen Gesundheit, Welthundetag. Ich schrieb einigermaßen unfröhlich in mein Tagebuch, ärgerte mich, dass ich einfach nie schaffte, was ich wollte. Immerhin blickte ich auf eine Nacht in Berlin zurück: ohne Quartier, von Kneipe zu Kneipe, schließlich in den Wartesaal, um am nächsten Morgen pünktlich vergeblich den Versuch zu unternehmen, mich für Theaterwissenschaft zu bewerben. Die saßen in der Universitätsstraße, wo zwei Jahre später auch meine Philosophie saß. Ich sah an diesem Tag Cox Habbema mit ihrem Eberhard Esche vor der Uni, dann Ekkehard Schall mit Gattin Barbara in der Friedrichstraße, dort auf dem Bahnhof Agnes Kraus und schließlich auf dem Ostbahnhof noch Dietmar Richter-Reinick. Die Welt ist ein Berliner Dorf, dachte ich. Die Freude des Tages: meine Geschichte in der Oktobernummer der Armeerundschau, sogar illustriert.

9. Oktober 2023

Wer hätte das gedacht: Zwei Landtagswahlen im wild gewordenen Westen helfen dem Osten. Dass Journalisten gern ins Wasserglas pusten, etwas zu erzeugen, was sie als Sturm dortselbst verkaufen können, wissen wir. Nun aber ist die Erklärungssülze zum Erfolg der AfD, Unterabteilung Erfolg im Osten, vom Tisch. Für intellektuelle Leser in jenem Westen: das Narrativ ist im Arsch. Wenn eine Partei in den Ländern, die gern Geberländer genannt werden, zweitstärkste Kraft wird, die man so und so nennen darf laut Gerichtsbeschluss, dann ist etwas faul südlich von Dänemark und wenn Nancy tatsächlich von einer SPD-geführten Ampel in Hessen geträumt hat, sollte man sie dezent vorsorglich auf Wahrnehmungsstörungen testen und ihr Teilnahme am Verkehr vorläufig versagen. Falls die Wählerwanderungs-Analysen stimmen, dann wissen wir, dass die West-Linken gemäß dem, Achtung: Hufeisen-Narrativ, schneller überlaufen als ein Topf Dünnmilch auf dem Gasherd.

8. Oktober 2023

Die Mediengesetze sind unerbittlich. Kaum gibt es einen neuen Krieg, nein: kaum gibt es einen neuen Krieg, der uns in jeder Hinsicht näher geht als der in der Ukraine, ein Krieg gegen unseren Erzfreund Israel: schon sind wir, wo wir früher bereits einmal waren: Besorgte Gesichter hoffen vor laufender Kamera, dieser Krieg möge so schnell wie möglich enden. Für den Ukraine-Krieg haben alle Beteiligten längst Waffenlieferungen für die nächsten drei, vier Jahre geplant, nix mit solchen Wünschen nach raschem Ende. Dank zahlreicher Einwanderer aus aller Herrinnen Länder haben wir die ersten Ansätze zum Austrag fremder Konflikte auf unserem Boden. Ist halt so, kommt vor. Israel wartet nicht auf vier Panzer, zwei Geschütze und ein paar Helme aus Deutschland. Das kleine Land hilft sich selbst. Wenn ich Präsident der Ukraine wäre, würden meine Füße kühl: Amerika vor dem Absprung und irgendwann lässt sich nicht mehr verheimlichen, wer da Nordstream sprengte.

7. Oktober 2023

Vom Fischerfest sahen wir nur noch den leeren Großen Teich und einige Fischer, die recht kleine Fische aus einem in einen anderen Behälter käscherten. Ein sehr großer Hund bekam Fische zum Fressen geboten, kaute auf zweien auch tapfer herum, am Ende aber trafen sie seinen Geschmack wohl doch nicht. Im Speisezimmer, beinahe hätte ich Esszimmer geschrieben, können wir jetzt ganz unbedenklich unser Licht anlassen, ohne das Rollo zu ziehen. Unsere Balkon-Gegenüber, Franz und Carola, sind plötzlich und unerwartet ausgezogen, am Dienstag sahen wir sie erstmals in mehr als 30 Jahren beide nebeneinander auf dem Balkon auf den frisch gemähten Hang hinabschauen: es war der Abschieds-Blick, wie wir nun wissen. Wenn ich ins Bett gehe, ist es drüben jetzt immer dunkel, wo sonst zu beliebiger Nachtzeit Licht war, niemand raucht mehr auf dem Balkon tagsüber. Sie sind, wie ich neugierig erfragte, nach Wismar gezogen in die alte Heimat. Rentner tun sowas wohl.


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