Tagebuch

14. August 2024

Der Medienkritiker Goethe schrieb einst, an die Öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten gerichtet, dies: „Es ist ein eigner, grillenhafter Zug, / Daß wir durch Schweigen das Geschehene / Für uns und andre zu vernichten glauben.“ Warum mir das in die Finger fällt, als ich lese, dass die ukrainischen Attentäter an Nordsstream 2 ihrer Verhaftung entgingen, als sei es selbstverständlich, dass sie welche waren, also Ukrainer, unbekannt, welchen Auftraggebers, da ging mir der Hut hoch. Denn ich erinnere mich der frühen Mutmaßungen, die auf der flachen Hand lagen wie Salamischeiben auf der Pizza, die sich verbanden mit der Aussage, es könne verheerend sein für unsere Waffenliefer-Mentalität, wüssten wir offiziell, was wir inoffiziell nach dem Altprinzip Cui Bono? ahnten. Also während unsere Freunde im Land der ehemaligen Untermenschen Geiselnahmen betreiben für künftige Tauschgeschäfte, etwas späte Wahrheit? Vor 30 Jahren starb Elias Canetti unbeeindruckt.

13. August 2024

Man kann am 13. August natürlich an die Mauer denken, die inzwischen länger weg ist, als sie da war. Man kann auch an Johann Elias Schlegel denken, der vor 275 Jahren starb und ein Klassiker vor den Klassikern war. Ich denke, dank einer sehr freundlichen Zusendung aus Berlin, an den 13. August 1937, der auf einen Freitag fiel. Mit Wirkung dieses Freitags erteilte am 27. August 1937 die Geheime Staatspolizei Darmstadt dem Schriftsteller und Kunsthistoriker Dr. Arthur Eloesser Auftrittsverbot als Redner. Das im Bundesarchiv Lichterfelde bewahrte Schreiben begründet das Verbot mit einer Rede Eloessers in der Steinthal-Loge in Hamburg am 25. Februar 1937. Ein halbes Jahr benötigte die Gestapo also für ihre Entscheidung, was kaum tröstet. Die 1909 gegründete Loge war eine von drei jüdischen Logen in der Hansestadt. Eloessers Redethema ist nicht überliefert. Für mich zwei bis dato unbekannte Lebensdaten. Jeder neue Fund ist und bleibt willkommen: logisch.

12. August 2024

Beim Blättern in einer alten „Berliner Zeitung“ von Ende Juni finde ich die Überschrift „Pannen und Perspektiven“, darüber ein Foto von Christian Drosten, darunter die Unterzeile „Der Charité-Virologe Christian veröffentlicht ein Buch zur Corona-Zeit“. Nur wer nichts macht, macht auch keine Fehler, lautet der Lenin-Spruch verantwortlicher Redakteure in solchen Fällen. Fehler in Überschriften wirken gravierender als solche in der sechsten Textspalte unten, bis wohin laut Rezeptionsforschung kaum noch jemand liest. Aus meiner Zeitungszeit sind mir Bürger männlichen Geschlechts erinnerlich, die Bannflüche aussprachen, als ich ihren Familiennamen in einem Artikel zweimal verschieden schrieb. Wie es Charité-Virologen ergeht, wenn sie genannt werden wie Marta im brasilianischen Fußball, weiß ich nicht. Früher gab es Korrektoren, später Schlussredakteure, was es jetzt gibt, weiß ich nicht. Ansonsten ist heute der 125. Geburtstag von Alfred Kantorowicz.

11. August 2024

Mit zwölf goldenen, dreizehn silbernen und acht bronzenen Medaillen hat sich Deutschland in Paris nicht eben mit Ruhm bekleckert. Insgesamt gewannen 62 Länder mindestens eine Goldmedaille, gar 84 Länder überhaupt eine Medaille. In manchen Ländern wird der Gewinner zum Nationalhelden ausgerufen, es gibt sogar eigene Feiertage. Nun geht es weiter mit den Fernsehprogrammen ohne neue Tatorte, denn es folgen noch die Paralympics und wegen Diskriminierungsvermeidung stehen alle öffentlich-rechtlichen Programmräder weiter still. Gelber Muskateller bleibt dennoch der Wein am Sonntag, wenn wir zu Hause sind. Und weiter lese ich Heinz Knobloch, weiter lese ich den vor sieben Jahren unterbrochenen Paul Ilg, auf den wir stießen, als wir Uttwil besuchten, wo er 1957 starb. Uttwil versteht sich als „das Dorf der Dichter und Maler“, man nannte es auch das „Ascona am Bodensee“. Sehr klein, sehr fein, sehr ruhig, 2013 kamen wir von Arbon her über Romanshorn.

10. August 2024

DSF muss übersetzt werden, höre ich von meinen unermüdlichen Sofortlesern am Chiemsee und auf Norderney. Also das war „Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft“, man musste Mitglied sein, wenn man ein „Kollektiv der sozialistischen Arbeit“ werden wollte, es war auch das gemeinsame Wodka-Trinken bisweilen nicht zu vermeiden. Nach zwei Tagen mit mehr als 11.000 Schritten folgt heute einer mit weniger, denn es ist Groß-Feierei angesagt mit Bräteln und Würsten, Salaten und alkoholischen Kaltgetränken. Die Suchmaschine bietet für den französisch- und rumänisch-sprachigen Schriftsteller griechisch-rumänischer Abkunft mit Namen Panait Istrati zwei Geburtsdaten an: den heutigen 10. August, bei Wikipedia dann den 22. August, beide 1884, was immerhin tröstet. Der 16. April 1935 gilt als Todestag für alle Beteiligten, also warten wir bis dahin ab, weil uns rumänische Original-Geburtsurkunden nicht zur Verfügung stehen bis auf weiteres.

9. August 2024

Eben dachte ich noch, dass früher der Bezirk Gera mehr Medaillen für die DDR bei Olympia holte als jetzt diese 83-Millionen-Ballung, die in 60 Jahren erfolgreich den Leistungsgedanken beerdigte. Wem es eher darum geht, kleine Verlierer sich nicht diskriminiert fühlen zu lassen, als Mentalität von Siegern zu erziehen, der darf sich nicht wundern, dass selbst die, die Leistung kennen, nicht zum Höhepunkt den eigenen erreichen können. Immerhin: Zuwanderung beweist ihre Wirksamkeit im Sport besser als sonst. Ohne Hintergründler/innen mit deutschen Müttern wäre die Bilanz zwei Tage vor Abpfiff wahrscheinlich nahe den Inseln St. Lucia oder Puerto Rico. So aber jubilieren wir und genießen die achtfache Fernsehwiederholung jeder einzelnen Bronzemedaille. Vor 130 Jahren wurde Michail Sostschenko geboren, der heute nicht für sein Land starten dürfte, dafür aber war er ein Begnadeter, dessen „Kuh im Propeller“ in die Geschichte der DSF einging und darüber hinaus.

8. August 2024

Der 8. August 1999 war unser erster kompletter Tag in Jämjö, Provinz Blekinge, in Südschweden. Von Abfahrt bis Ankunft alles in allem 20 Stunden, Fährhafen in Rostock gut gefunden, Haus in der Einöde nach Schlüsselübergabe gut gefunden. Natur satt oder pur, wie es im Neusprech heißt. Drei Wochen Schweden vor uns. Danach 23 Jahre Pause, bis wir unter den vier skandinavischen auch die schwedische Hauptstadt besuchten. Unsere Fähre hieß „Mecklenburg-Vorpommern“, wir saßen die komplette Überfahrt nach Trelleborg an Deck, unser Peugeot stand auf dem Oberdeck. In Schweden sind die Supermärkte auch am Sonntag geöffnet. Und die Rehe in Jämjo haben keine Furcht, sich uns zu zeigen. Beim Eintragen erster Daten in den 2025er Jubiläumskalender finde ich wenig für Juli, ganz anders als für 2024. Und sehe, dass ich drei alten DDR-Chargen nicht zu ihrem 75. Geburtstag werde gratulieren können, weil sie den geheim halten. Regina Scheer ist eine davon.

7. August 2024

Am 7. August 2004 saßen wir abends auf dem Balkon und genossen Wein plus Aussicht. Das mit dem Wein klappt, wenn das Wetter mitspielt, immer noch sehr gut. Das mit der Aussicht dagegen verschlechtert sich von Jahr zu Jahr. Die einstige Ersatzpflanzung der Stadt für einen vollkommen zufällig umgehauenen Baum wuchert und wuchert. Früher sah ich Oehrenstock, sah den Langen Berg, konnte mir einbilden, sogar das Denkmal dort oben zu erkennen. Jetzt sehe ich Blätter und nichts als Blätter, selbst die Tankstelle ist unsichtbar von meinem Arbeitszimmer aus. Der Tag rückt näher, da wir dauernd Licht anschalten müssen, weil es zu dunkel wird in unseren Zimmern zur Stadt. Ich lese weiter in „Herztöne und Zimmermannssplitter“ von Heinz Knobloch, bin jetzt bei seinem Beitrag zum Bitterfelder Weg angelangt, der ihn in die Rostocker Neptun-Werft führte. Das Nachwort schrieb Reiner Kunze, von dem alte Ost-Sachen längst antiquarische Raritäten wurden.

6. August 2024

Drei Namen heute: Günter Caspar, Harald Hauser und Heinz Drewniok. Hauser starb vor 30 Jahren, seine dramatische Erzählung „Im himmlischen Garten“ muss ich ungelesen wieder in den Keller tragen zu den alten Heften der NDL, die da brav darauf warten, ab und zu aus der buchstäblichen Versenkung geholt zu werden. Im Heft 3/1958, der Zufall will es, finden sich auch Günter Caspars „Gedenkblätter für Max Schroeder“, von denen ich gestern unter anderem für heute kurz schrieb. Vor 100 Jahren saß Hans Fallada in Greifswald eine dreimonatige Gefängnisstrafe ab. Über den 6. August 1924 schrieb er, mit sich selbst leicht unzufrieden, erst einen Tag später, dafür aber gleich mehr. Er hatte von Zelle 32 in die 33 wechseln müssen, weil seine ursprüngliche geweißt wurde. Wanzen gab es in beiden Zellen. Zu Heinz Drewniok schrieb ich am 9. März 1988 eine ganze Seite mit meiner mechanischen Schreibmaschine voll. Heute las ich sein „Die Sau“, 1985 uraufgeführt.

5. August 2024

Arzttermin am Morgen, wir mussten zeitiger frühstücken, saßen aber trotzdem lange im Warteraum. Als wir gegen 11 Uhr wieder zu Hause waren, setzte ich mich kurz entschlossen an einen kleinen Text zu Günter Caspar, dessen 100. Geburtstag morgen ist. Er war zu DDR-Zeiten und noch danach der große Fallada-Herausgeber, aus seinen Nachworten hat er ein Buch gemacht, das ich nicht besitze, dafür aber die Biografien von Werner Liersch, Tom Crepon und Alfred Gessler. Den klar schlechtesten Ruf hat seit vielen Jahren Crepon, der jene berühmte Nebentätigkeit zum Schaden anderer ausübte, darunter Brigitte Reimann bespitzelte und eben Liersch behinderte. Ich habe mich damit nie näher befasst, es kommt mir nur unter bei passender und unpassender Gelegenheit. In der Apotheke zum wiederholten Male alle Medikamente vorhanden, ich trug sie nach großer Runde nach Hause, die 10.000 Schritte auch heute zu erreichen. Abends Stabhochsprung schwedisch.

4. August 2024

Mit Joachim Ritters Sohn Henning Ritter hatte ich vor Jahren einen kleinen Mailwechsel. Erst als ich kürzlich mit Ernst Cassirer befasst war, kam mir der Name von Ritter wieder vor die Augen, der promovierte bei Cassirer und war auch sein Assistent. Alles, was ich zu Joseph Conrad aus Regalen und Ordnern geholt hatte, wanderte heute wieder zurück. „Der Mensch wird geboren, um seine Zeit auf dieser Erde zu dienen, und dieser Dienst wird durch die Arbeit geadelt, die nicht des Nutzens wegen getan wird.“ So Conrad in „Der Spiegel der See“. Den lasse ich in Griffweite. In einem Buch von Bernhard Fehr, „Von Englands geistigen Beständen“ aus dem Jahr 1944, fand ich noch einen kleinen Beitrag zu Conrad, den ich sicher gelesen hätte, wäre er mir eher in die Hände gefallen, aber das Buch liegt quer bei mir an einer schwer zugänglichen Stelle. Nachts unsäglicher Lärm von einigen Idioten in einem roten Auto, die minutenlang hupten, wen auch immer sie ärgern wollten.

3. August 2024

Mit „Vor 100 Jahren starb Joseph Conrad“ bin ich fertig geworden, las noch in meinen Archivalien, auch in „Der Spiegel der See“, wo Conrad über Seiten hin sich mit dem Anker auf Schiffen befasst und zeigt, dass es keine dümmere Formulierung gibt für das , was tatsächlich geschieht, als die vom „Anker werfen“. Nun gut, früher las ich bei allen Seeräuber-Romanen immer hinten das Glossar, um stets zu wissen, wovon gerade die Rede war, bei den Segelschiffen war es schlimmer als bei den Dampfschiffen, letzthin hat es wenig genützt, mit Luv und Lee bin ich schon hart an der Grenze zur Überforderung. Vor 40 Jahren starb Wladimir Tendrjakow, dessen 100. Geburtstag mir im vorigen Jahr immerhin dreifach wichtig war: zwei alte Sachen dabei, die ich neu ins Netz stellte. Zehn Jahre vor Tendrjakow starb Joachim Ritter. Das „Historische Wörterbuch der Philosophie“ ist für mich für immer mit seinem Namen verbunden, das dortige Stichwort „Fortschritt“ half mir für mein Diplom.


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