Tagebuch

28. Februar 2022

Nachtrag: Eigene Blödheit gibt man ungern zu, das ist nicht nur bei Spitzenpolitikern so. Ich also griff, als ich den Beifahrersitz verlassen wollte, zielsicher ins Nichts: kein Schlüsselbund da. Früher hatte ein Kollege alle vier Tage solche Erlebnisse, er ist freilich Jahrgang 1948, da fallen einem schon eher mal die Schlüssel ins Klo oder ins Wasser, man betankt seinen Diesel schneller mit Super, seinen Benziner eher mit Diesel. Nun aber ich, fünf Jahre jünger, wenngleich auch nicht mehr so dynamisch wie zu Zeiten, als das als Sowjetunion getarnte Russland Afghanistan überfiel und die Ukraine noch unter den eigenen roten Bauchfedern wärmte. Da musste erst ein gewisser Gorbi das Halbparkett der Geschichte betreten und den Weg frei machen für den ganz anderen Bruderkrieg. Ich also jetzt lasse meine Schlüssel im Nachtkastel liegen, doch ist zum Glück noch kein Zimmer-Service da gewesen, ihn zu finden. Ich bekomme ihn auf dem Postweg nachgesandt.

27. Februar 2022

Nachtrag: Mein Lebensalter erreicht heute erstmals die Quersumme 15, wir stießen um Mitternacht mit einem Crémant de Loire an, bis die Flasche leer war, was wir auch im jetzigen Alter noch ohne große Mühe bewältigen. Wenn die Arschgesichter dieser Welt es durchsetzen, dass auf Wein und Sekt ein Warnhinweis steht, dann wünsche ich mir diesen: Wein erhöht Ihre Umgänglichkeit und kann zu unkontrollierten Freundschaften führen. Wir fuhren auf Wunsch des einzelnen Jubilars zum Wildpark Schloss Tambach, wo uns ein voller Parkplatz überraschte, eine Schlange an der Kasse und später ein herrliches Wolfsrudel, in welchem mit Glockenschlag zwei Mitglieder anfingen zu heulen, dass es eine wahre Pracht war. Wir kamen einigen Hirschen mit großen Geweihen so nahe, dass es die nächste wahre Pracht war. Wir bedauerten all jene, die zu Hause versuchten, mir zu gratulieren und ein totes Telefon vorfanden, nicht alle haben meine Handy-Nummer, was gut ist.

26. Februar 2022

Nachtrag: Der Weg über die Ausfahrt Eisfeld Süd ist deutlich besser zu fahren als der, den uns das Navi empfahl vor einigen Wochen. Ich habe im Getränkemarkt, den wir erst sahen, als wir auf dem Heimweg waren am 2. Januar, und das war ein Sonntag, schon wieder ein paar neue Sorten Bieres gefunden, freundliche Franken wie immer. Wenn es solche gäbe, müsste man diese ehrliche und nie aufgesetzte Freundlichkeit der Franken zu ihrem Rasse-Merkmal erklären, aber mit den Rassen, das wissen wir, ist das so ein Sache, nur Hühner, Hunde und Katzen haben welche oder keine und die ist dann auch eine, wenngleich keine frei gewählte. In der Therme sind wir zeitig genug, dreimal geimpft sind wir immer noch, brauchen jetzt keinen zusätzlichen Test mehr, weil Impfung Nummer drei schon hinreichend lange zurück liegt. Jetzt kommen wir auch zum Aufguss, es sind deutlich mehr Leute erlaubt, es gilt nunmehr das Schachbrett-Prinzip. Es kleben keine gelben Punkte mehr.

25. Februar 2022

Eigentlich wollte ich heute entspannt in einen kurzen Urlaub fahren, ferner Krieg und nahe Telekom vergällen mir das Vergnügen. Also kann ich auch nur nebenbei erwähnen, dass der mysteriöse Autor B. Traven heute 140 Jahre alt werden würde, wenn das denn ginge. Die Mehrzahl all der vielen Bände Traven, die bei meinen Eltern im Regal standen, sind in Sachsen-Anhalt gelandet, kein halbes Dutzend und die berühmte Biografie von Recknagel stehen bei mir. Mit meinem Vater sah ich sehr jung „Der Schatz der Sierra Madre“ im Gehrener Kino, mit Humphrey Bogart in der Regie von John Huston. Während ich dies schreibe, werde ich entspannter, also weiß ich, was ich tun muss, obwohl ich noch heute früh angesichts der Publikation einer leibhaftigen Professorin, die scheußliche Sätze schreibt und einen saugroben sachlichen Fehler drucken lässt, schon fast auf der Palme saß. Das ist nicht der beste Satz für Kritiker, in den kurzen Urlaub fahre ich nun trotzdem.

24. Februar 2022

Krudes Zusammenfallen der Ereignisse. Russland marschiert oder rollt in der Ukraine ein, bei mir marschiert ein junger Mann von der Telekom ein, um zu schauen, wie denn mein schnelles Internet funktioniert. Es liegt an und keiner hat uns informiert, obwohl wir seit einem halben Jahr warten. Als er weg ist, geht unser Festnetztelefon nicht mehr und bald danach steigt die WLAN-Verbindung aus, das ist hoffentlich nicht schon Putins Rache. Unser Bundeskanzler sagt immer wieder, es liege alles auf dem Tisch. Ich folgere daraus, dass auch deutsche Geschichtsvergessenheit und deutsche Dummheit auf dem Tisch liegen, ahne aber nicht, wieviel Platz sie dort einnehmen. Die Nachrichten teilen mir mit, dass ich als erste Kriegsfolge 2 Euro für mein Benzin bezahlen muss, woran mein friedliebender Staat via Mineralöl- und Mehrwertsteuer saftig mitverdient, wie bei allen Arten von Preiserhöhungen. Werden Sanktionen „Russland kaputt“ schaffen, was niemandem gelang bisher?

23. Februar 2022

Fern auf der Seiser-Alm ist heute Geburtstagsfeier angesagt, die Ziffern 3 und 4 des Geburtsjahres fallen auf wundersame Weise mit dem erreichten Alter zusammen. In Europa kehren wir alle zu gut bekannten Zuständen zurück: der Ost-West-Konflikt ist wieder da, was in Brüssel Tausende Top-Verdiener freuen wird, denn der staubige Inhalt der untersten Schubladen darf nach oben geholt werden. In den veralteten Bundesländern kommt ebenfalls Freude auf: die Hallstein-Doktrin lehrte dort alle, was es heißt, mit Rebellenrepubliken wie der DDR umzugehen, die heute Luhansk oder Donezk heißen. Jeder, der sie anerkennt oder Dinge tut, die nach Anerkennung riechen, muss mit Pressionen, Sanktionen und anderen -ionen zurechtkommen. Ich freue mich auf den steigenden Gaspreis, weil ich kein Gas benutze. Russisches Gas wird naht- und lückenlos durch Fracking- und Katar-Gas ersetzt, weshalb wir dorthin gern großzügig und vorsorglich sportliche Spiele vergeben.

22. Februar 2022

Wir frühstücken wieder zu Hause nach drei sehr netten Hotel-Frühstücken inklusive. An Obst sind wir auf die vorhandenen Bestände angewiesen, die erst mit dem Einkauf der Woche aufgeheitert werden, es ist aber mehr als genug da. An Marmelade sind wir auf unsere Eigenproduktionen angewiesen, die ohnehin unschlagbar sind. Draußen ist das Wetter, welches wir Ilmenau-Wetter nennen, also Scheißwetter. Ich lese nach drei Tagen Alfred Polgar und Günter Kunert wieder Georg Hensel, ich bereite meinen nächsten Beitrag zu Arthur Eloesser vor, der zu meinem jüngsten passen soll. Wir sehen „The Father“ von Florian Zeller und heulen vor uns hin, wie sich das angesichts dieses grandiosen Films gehört. Jetzt bekommen schon Menschen den Oscar, die jünger als die Kinder sind, die wir mehr oder minder erfolgreich aufzogen. Im Berliner Hotel sahen wir abends alle Filme, die wir zu Hause aufnahmen, weil wir dachten, wir würden sie nicht sehen können.

21. Februar 2022

Nachtrag: Wir müssen unser Zimmer erst um 12 Uhr räumen, was uns genug Luft für Abschiede verschafft. Wir können sogar noch meine leer getrunkenen Flaschen von Ambrosetti in den Pfand-Automaten stecken, ehe wir im U-Bahnhof Bismarckstraße verschwinden. Unser Zug wird in Berlin eingesetzt, kommt also nicht aus dem sturmgepeitschten Hamburg. Andere Züge nach Dresden beispielsweise kommen später, weil auf der Stecke Bäume auf die Gleise fielen, was in der mehrfach wiederholten Ankündigung auf Englisch sehr nett klingt, man kann es nach der dritten Wiederholung mitsprechen. Wir fahren auf die Sekunde pünktlich los, wir sind auf die Sekunde pünktlich in Erfurt und wir fahren von Erfurt mit einem regionalen Schnellzug nach Ilmenau, von dem wir gar nicht wussten, dass es ihn gibt. Er hält nur in Neudietendorf, Arnstadt, Arnstadt Süd und dann schon Pörlitzer Höhe. Nix mit Haarhausen oder Elgersburg, von Plaue gar nicht zu reden.

20. Februar 2022

Nachtrag: Die Rezeption unseres Hotels stellt wie jedes Hotel diverse Prospekte und Flyer zur Wahl und Mitnahme. Aus dem Päckchen, das wir mit ins Zimmer schleppen, wählen wir das „Berlin Story Museum im Bunker“, welches wir finden, wenn wir uns via Potsdamer Platz zum Anhalter Bahnhof begeben, von wo 112 Transporte nach Theresienstadt gingen mit jeweils maximal 100 Juden, manchmal weniger, nie aber mehr. Im Bunker sehen wir Bilder eines schrecklichen Pogroms in Lemberg, welches nach Bedarf auch Lwow, Lwiw oder wie auch immer genannt wird. Es waren ukrainische Nationalisten, die da wüteten. Vorher hatten sie die Nazis als Befreier begrüßt, dann halfen sie Juden vernichten. Mich graust, wenn wir heute blöde so tun, als wäre die Ukraine unser absolutes Lieblingsland, dem wir sogar Helme schicken wollen. Nichts für ungut. Auch Letten und Litauer halfen Juden vernichten. Fünfeinhalb Stunden sind wir im Bunker, anschließend fast platt.

19. Februar 2022

Nachtrag: Während wir des Anlasses frönen, der uns nach Berlin gebracht hat, fallen andernorts die Festbankette aus, die wegen des 275. Geburtstages von Heinrich Leopold Wagner geplant waren. Sie finden nicht statt, wäre ehrlicher formuliert, weil sie niemand geplant hat. Seit Goethe seinen alten Sturm-und-Drang-Kumpel beschuldigte, mit seinem Trauerspiel „Die Kindermörderin“ ein Plagiat an der eigenen Gretchen-Tragödie begangen zu haben, hat Wagner es literaturgeschichtlich verschissen, wie man das in gewöhnlich schlecht erzogenen Kreisen nennt. Sturm und Drang, nun gut, man kann ihn nicht ganz verschweigen, aber man kann zur Tagesordnung übergehen, muss dazu nicht einmal einen Geschäftsordnungsantrag stellen. Elise Dosenheimer, die wirklich so hieß, schrieb: „Stoff, Milieu und Gehalt in diesem Drama sind so ziemlich die gleichen, wie bei Lenz.“ Was auch wieder nur Insidern weiterhilft. Im Kant-Kino „In 80 Tagen um die Welt“, sehr herrlich.

18. Februar 2022

Nachtrag: First we take Manhattan, then we take Berlin. Sang einst Leonhard Cohen, der Kanadier, der uns eine Weile auf Kassette (was war das denn?) im Auto begleitete, später auf CD, später auf USB-Stick. Jetzt fahren wir nur selten noch mit dem Auto nach Berlin, Manhattan hat uns noch nie wirklich interessiert, aber unsere Bahncard 25 ruft wie die Brote in „Frau Holle“: Hol uns endlich raus. Dank Corona fast ungenutzt. Und jetzt: Das Pünktlichkeitsfest von der Pörlitzer Höhe bis Berlin Hauptbahnhof. Zwei alte Viererkarten finden sich im Portemonnaie und dann das fast noch größere Wunder: Das Hotel lässt uns mehr als drei Stunden vor der eigentlichen Eincheck-Zeit in unser Zimmer 438. Wir kennen den Innenhof schon, in den wir blicken, wir sehen die Fenster, aus denen wir von der anderen Seite in diesen Innenhof geblickt haben. Berlin besteht aus Hotels mit und ohne Frühstück, es gibt sogar noch Pensionen, die gemeinsame Bäder im Angebot haben.

17. Februar 2022

Sage mir, wer dich feiert und ich sage dir, wer du bist? Heute ist der 200. Geburtstag von Georg Weerth, den einst Friedrich Engels so hoch lobte, dass sogar Franz Mehring kurz zuckte, ehe er abschrieb, was Engels vorschrieb, die Quelle nicht verschweigend, aber wörtliche Zitate auch nicht kennzeichnend. Kein Mensch weit und breit denkt heute an Weerth, medial gesehen, außer: die Junge Welt. Und unser frischer alter Bundespräsident. Zwei komplette Seiten füllt sie. Als ich diese  meinem Archiv zuführe, finde ich: eine knappe halbe Seite Junge Welt von 2006. Damals aus der „Feder“ von Arnold Schölzel, dem vor allem das Lob der DDR am Herzen lag und die Kritik am faulenden, aber dennoch einfach nicht sterben wollenden Kapitalismus. Systemfrage als Pulver zum Aufbrühen, Brühe ohne Ei. Ich habe mir zuletzt Weerths „Streiflichter aus Old England“ aus dem Regal ins Arbeitszimmer geholt. In bester Leseabsicht. Mal schauen, ob das auch wirklich klappt.


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