Tagebuch

8. Februar 2022

Sollte eines fernen Tages die postakademische Eckhard-Ullrich-Forschung auf mein Exemplar von Siegfried Jacobsohns „Schaubühne“, Jahrgang 1907, stoßen, dann wird der vermutlich junge Master-Aspirant auf Seite 289 erkennen: Oh, der hat den ersten aller Beiträge von Theodor Lessing für die „Schaubühne“ haargenau an dessen 150. Geburtstag gelesen. Ich werde mich in meinem Urnengrab dann zwar schlecht auf die Seite rollen können mangels Seite, aber ich werde sagen: Ja, so war das: Von 42 Lessing-Arbeiten für Jacobsohn, gedruckt in insgesamt 58 Heften, es waren eben bis zu fünfteilige Arbeiten darunter, las ich die erste am 8. Februar 2022, dem 150. Geburtstag des merkwürdigen Mannes. Und das hatte ausschließlich den Zweck, noch zusätzliches Material für eine im Entstehen begriffene eigene Auslassung zu liefern. Die ist noch nicht fertig, aber sie wächst und gedeiht. Was sich von meinem Giro-Konto nicht sagen lässt: unbezahlte Rechnungen hemmen.

7. Februar 2022

Soweit Augenblicke ansprechbar sind, wissen wir seit Goethe, dass es wenig ratsam ist, ihnen mit „Verweile doch!“ zu kommen. Was dem Augenblick als solchem vergleichsweise an seiner hinteren Front vorbeigeht, interessiert einen Kollegen mit rückwärtigem Schwanz und dem Geruch von schwefelhaltigem Duschgel umso mehr: Seelen-Beute ist angesagt. Teufel, noch eins! Wie komme ich darauf? Man muss ja nicht im uralten Griechenland herumsuchen, wo diese Philosophen über Flüsse philosophierten, in die man nicht zweimal steigen kann, um dann von den noch größeren Schlaumeiern zu hören: auch einmal klappe nicht. Folgerung: Die Flüsse der alten Griechen waren die Augenblicke des alten Goethe. Wenn Goethe ganz nebenher versucht hätte, in Bad Berka eine Liga zum Schutz des Baumziesels zu gründen gemeinsam mit Lehrer und Pastor, müssten wir dann zu den jeweiligen Goethe-Jubiläen der weltweiten Baumzieselforschung neue Impulse verschaffen?

6. Februar 2022

„Musik der Welt“ heißt das schmale Bändchen, der abgeplatzte Rücken ist geklebt. Innen lese ich eine „Meinem lieben Mitarbeiter“ beginnende Widmung von einem Herrn Felix Wernow aus der Sedanstraße 4 in Dresden (Datenschutz mal beiseite). Der beschenkte Mitarbeiter hieß, wenn ich die Handschrift richtig entziffere, Hermann von Tückum. Das Büchlein, das ihn trösten sollte in der schweren Zeit von November 1918, ist von Alfred Mombert. Es erschien als Nummer 181 in der Insel-Bücherei und befindet sich genau deshalb als Sammelstück in meiner Bibliothek. Sonst ist mir der Dichter Mombert stets fremd geblieben. Heute ist sein 150. Geburtstag, am 8. April jährt sich zum 80. Male sein Todestag. Er starb im schweizerischen Winterthur an den Folgen einer Haft im südfranzösischen Konzentrationslager Gurs. Richard Dehmel widmete ihm sein Gedicht „Äonische Stunde“ Jahre früher, starb er doch selbst schon am 8. Februar 1920: „Du himmlischer Zecher!“

5. Februar 2022

Neben der Diskurs-Band Tocotronic, deren Frontmännin sich seit 30 Jahren die Haare übers linke Auge (mit dem rechten sieht man besser!) zwirbelt, nur die Trainingsjacken mit den Ärmelstreifen sind nicht mehr up to date (oder war das eine andere Band?), nimmt sich ein gewisser Ulrich Ditzen wie nichts aus, also wie fast nichts. Unter seinem Namen Hans Fallada war er früh berühmt. Als er lange tot war, erlebte er eine Renaissance, wie sie selten über das lesende Deutschland schwappte. Ständig gab es neue Briefbände, ständig gab es neue, vollständige Ausgaben, man konnte zeitweise glauben, Fallada sei der meistverstümmelte Autor der Neuzeit gewesen. Dabei weiß eine sehr große Gruppe von Bürgern sämtlicher Geschlechter, wie Bücher aussähen, wenn nicht so genannte Lektoren ihnen Schliff überhaupt oder wenigstens noch einen finalen Feinschliff verpassten. Wie auch immer: heute vor 75 ist Hans Fallada gestorben. Ihn zu lesen ist immer noch gut genutzte Zeit.

4. Februar 2022

Wenn ich also das Internationale Olympische Komitee wäre, dann würde ich Olympische Spiele nur noch nach Deutschland vergeben. Dort reißen sich die Städte geradezu um die Ausrichtung und es werden auch keinerlei Uiguren in Arbeitslager gesperrt, also in Deutschland. Menschenrechte und Pressefreiheit sind perfekt organisiert vom Bundespresseamt. Die Zeiten, da wir „Wir sind Papst!“ jubelten, gehören der Vergangenheit an, wir fordern im Gegenteil heute, der Papst möge sich Asche aufs Haupt kippen lassen, solange es noch Asche gibt, siehe fossile Brennstoffe. Nie aber haben wir gejubelt „Wir sind IOC!“, obwohl wir allen Grund gehabt hätten. Bei Olympischen Spielen in den USA, Mutterland des Indianer-Wohlstandes, der Mexikaner-Liebe und der Alten Weißen Männer, wäre alles in Gefahr: Wir würden Fracking unterstützen, die Eroberung von Grenada nachträglich rechtfertigen. Wozu überhaupt noch Olympia, wo wir doch ohnehin nichts mehr gewinnen dort?

3. Februar 2022

Noch bin ich gut drei Wochen von meinem Geburtstag entfernt und schon trage ich mein Geschenk am Arm. Alles nur, weil mein Fitness-Armband an der vermutlichen Sollbruchstelle seinen Geist aufgab. Das war der dritte Abschied nach irreparablem Armbandschaden. Das neue Gerät nun hat uns zwar gestern Nerven gekostet, bis es lief, bis es synchronisiert war mit meinem Smartphone und bis es nicht mehr ständig summte und brummte, um mir albernste Nachrichten zu signalisieren. Seither aber läuft es. Während das alte selbst einen Gang zur Mülltonne großzügig belobigte als hervorragenden Workout, ist das neue karger, es sagt einfach: Los!, wenn ich mich länger nicht bewegt habe, was vorkommt, wenn ich vor meinem Computer sitze und riesige Werke über die Doktorarbeiten anderer Menschen verfasse. Dafür stehe ich, während ich dies schreibe, schon vor dem Jahresrekord an Schritten, auch meine bewältigten Treppen werden nun registriert: Rekorde!!

2. Februar 2022

Mehr Arzttermine innerhalb einer Woche hatte ich zuletzt, als ich in einem Krankenhaus lag und das ist dann ja doch schon wieder zwölf Jahre her. Ich lebe in der merkwürdigen Überzeugung, es gehe mir besser, wenn ich weiß, warum es mir nicht gut geht. Unter anderem leide ich darunter, dass ich nicht abschalten kann, wenn ich die öffentlich-rechtlichen Sender die Rolle vom George W. Bush übernehmen sehe, die Achse des Bösen zu bekämpfen. Heute stellt eine Nachrichtensendung das Wort „inzwischen“ vor eine bekannte Zahl. Demzufolge hat Russland 120.000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine stationiert. Die Zahl ist, wie gesagt, keineswegs neu, aber das „inzwischen“ ist geeignet, dem gedächtnisschwachen Konsumenten einen andauernden Prozess zu suggerieren, der gar nicht stattfindet. Mir fällt dann immer ein: „auch mit bereits regulären Truppen“. Das war, als 5.45 Uhr zurückgeschossen wurde. Schmerzen muss man aushalten, ich bin da ein braver Patient.

1. Februar 2022

Vor 50 Jahren starb Karl Grünberg. Wohl trug ich das Datum in meinen Kalender ein, wohl schaute ich auch nach, wann der Name schon einmal bei mir fiel, man kann es prüfen über die Suchfunktion auf meiner Seite. Wirklich nahe kam er mir aber erst wieder, als Gisela Wagner, die Tochter von Karl Schrader, der sich ab 1945 Paul Körner-Schrader nannte, auf ihn zu sprechen kam, als sie mit mir über meine Bemerkungen zu „Die silbernen Kugeln“ telefonierte, dem späten Kinderbuch ihres Vaters. Grünbergs „Brennende Ruhr“ las ich im August 1967, kein halbes Jahr nach meiner Jugendweihe, unmittelbar anschließend „Es begann im Eden“. Es folgten „Sturm auf Essen“ von Hans Marchwitza, „Dr. Sorge funkt aus Tokio“ von Julius Mader und „Eugen Leviné“ von Michail Slonimski. Sage einer etwas gegen meine Sozialisation. Sie hat nicht verhindert, dass ich heute Leserpost von Theaterbesucherinnen bekomme, die meine Sicht, nicht die des Publikums, teilen.

31. Januar 2022

Können gute alte DDR-Haubitzen, die noch sehr gut in Schuss sind, weil sie nie zu einem Überfall auf ein benachbartes Territorium benutzt wurden und deshalb im friedlichen Finnland landeten und von dort großzügig an Estland weitergereicht wurden, nun in die Ukraine geliefert werden, weil dort neben Kochgeschirren, Chesterkäse in Büchsen und Schutzhelmen gegen Putin eben auch etwas an richtigem Schießkram gebraucht wird, wenn die Russen kommen? In Zeiten, wo die Politik von Werten bestimmt wird und nicht mehr von Ökonomie, angeblich steht das im Koalitionsvertrag so, geht das gar nicht. Gebratene Werte, notfalls Wertinnen, haben gegenüber echtem Fleisch immer den Vorteil, nicht dick zu machen. In meinem marxistisch-leninistischen Grundlagenstudium lernte ich, dass erst das Fressen kommt und dann die Moral. Die Ethikkommission empfiehlt, das nie so direkt zu sagen: Sein oder Bewusstsein, hat sich das nicht schon dieses Weichei Hamlet gefragt?

30. Januar 2022

Wann las ich zuletzt eine Dissertation komplett zu Ende vor diesem Sonntag Ende Januar 2022? Es ist auf alle Fälle sehr lange her. Ich hätte sie womöglich nie gelesen, wenn es nicht die Doktorarbeit von Arthur Eloesser gewesen wäre, verteidigt im Jahr 1893 an der Universität, an der ich auch fünf Jahre lang studierte. Sie hieß damals noch Friedrich-Wilhelms-Universität und hatte Professoren und Dozenten, bei denen ich auch gern Vorlesungen gehört, in deren Seminaren ich gern gesessen hätte.  Ein Semester in Genf wäre mir nicht möglich gewesen. Damals konnte man nicht Professor werden, wenn man ein Jude war, es sei denn, man verabschiedete sich von seinem Glauben. Zu meiner Zeit konnte man fünf Jahre Philosophie studieren, ohne in der Partei zu sein, vier Jahre ein befristeter Assistent sein, ohne in der Partei zu sein. Dann wurde es aber langsam sehr eng. Eloesser ging zur Zeitung, als akademisch nichts weiter ging. Die Doktorarbeit aber ist seltsam lesertauglich.

29. Januar 2022

Ich weiß nicht, ob eine gelegentlich als Double der anderen auftritt: Jedenfalls erinnert mich ein Foto von Olga Tokarczuk heftig an Fotos von Juli Zeh. Macht aber nichts. Heute wird die polnische Literatur-Nobelpreisträgerin 60 Jahre alt, wozu man Frauen im Allgemeinen und besonderen eher selten gratuliert. Sie erhielt den Preis für 2018 nachträglich und auf diesem Wege gemeinsam mit Peter Handke, der den Preis für 2019 einstrich. Er ist 20 Jahre älter als seine Kollegin und muss deshalb am Ende des Jahres schon seinen 80. feiern. Als ich mir „Der Schrank“ kaufte, eine dünne Sammlung von sieben Erzählungen Olga Tokarczuks, war sie noch weit vom Groß-Preis entfernt und sah auf der Umschlagklappe mädchenhaft aus. Das zum Beispiel schaffen Männer selten bis nie. Ein bisschen Wirbel verursachte Esther Kinsky 2019, als sie zehn Jahre verspätet erklärte, warum sie seit 2009 keine Tokarczuk-Bücher mehr übersetzt. Rein zufällig natürlich erst 2019.

28. Januar 2022

Es verblüfft schon, wenn man in einem gesamtdeutschen Antiquariat neubundesländlicher Prägung für ein Leipziger Reclam-Büchlein, einst gegen 2 Aluminium-Mark erhältlich, 15 bis 22 Euro auf den Tisch des Hauses legen soll und es liegt nicht einmal ein Aktfoto von Margot Honecker bei. Die Rede ist von „Die Tatarenwüste“ von Dino Buzzati. Die gab es zuerst 1942 auf Deutsch, da hieß sie noch „Im vergessenen Fort“, später hieß sie „Die Festung“ und dann wie im italienischen Original einfach „Die Tatarenwüste“. Die DDR, um bei ihr zu bleiben, in der wirklich nicht alles gut war, erlaubte Anna Mudry ein Nachwort ohne Marx und Engels, aber mit sehr viel Franz Kafka. Zuvor durfte schon der katholische Verlag St. Benno Buzzati drucken: „Die Mauern der Stadt Anagoor“. Und auch Christine Wolter nahm für ihren dicken Zweibänder mit italienischen Erzählungen einen Titel von Buzzati auf: „Panik in der Scala“. In deren Nähe starb der Autor am 28. Januar 1972.


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