Tagebuch

4. April 2022

Eines der vielen Stalin-Opfer unter den russischen Schriftstellern hieß Michail Kolzow. Der alte Aufbau-Literatur-Kalender legt den Tag seiner Ermordung auf den 4. April, der neue Aufbau-Kalender kennt das Datum gar nicht mehr und WIKIPEDIA lässt ihn vollends schon zwei Jahre länger tot sein. Das Nachwort eines Leipziger Reclam-Bändchens vergisst dezent alle Umstände seines Schicksals, soweit sie nicht positiv lesbar sind. Immerhin: Kolzow traf im Spanienkrieg auf Ernest Hemingway und der machte in seinem Roman „Wem die Stunde schlägt“ aus ihm den Journalisten Karkow. Ich erinnere mich meiner Studentenzeit in Berlin, da wir, parallel zu den Vorlesungen und Seminaren zur Geschichte der KPdSU, Opferzahlen zu ermitteln versuchten. Es waren erschreckend viele Opfer unter den namhaften Autoren von Tretjakow bis Mandelstam. Die Wahrheit ist nicht nur das erste Opfer jeglichen Krieges, auch im Frieden geht es ihr meist schlecht.

3. April 2022

Der Sonntag „Judika“, lese ich, betont den Gehorsam Christi und unseren Gehorsam gleich mit. Ich weiß nicht, wie viele Menschen inzwischen Google nutzen müssen, um zu erfahren, was denn dies sei: Gehorsam. Wie sehr gehorsam war Michail Schatrow, der heute nicht 90 Jahre alt wird, weil er am 23. Mai 2010 bereits gestorben ist? Er habe sich als Dramatiker, ist zu lesen, mit kritischer Sympathie mit Lenin und der Sowjetunion auseinandergesetzt, andernorts ist er der Mann, den die Deformationen des Sozialismus unter Stalin zu Bühnenstücken anregten. Da er in Moskau geboren und gestorben ist, würden unsere Kulturpatrioten ihn aus dem Lehrkanon streichen, wenn er je drin gewesen wäre, was ihm aber nie gelungen ist. Hätte ich einstens nicht die Reihe „Spektrum“ des Verlags Volk und Welt gesammelt, wäre meine Bibliothek eine Schatrow-freie Zone. So aber steht da der schmale Band Nr. 18, Titel „Bolschewiki (Der 30. August)“. Ich las ihn am 10. Mai 1976.

2. April 2022

Da ist er nun, dieser Todestag. Ich habe mir sogar auf  Youtoube „Komm auf die Schaukel, Luise“ angehört, meine Molnár-Datei ist auf Wachstum angelegt. Daneben lese ich brav und tapfer die Theaterkritiken von Alfred Polgar, dem Molnár sehr am Herzen lag. Und Alexander Roda Roda ist ebenso mein täglich Brot. Mein Medienblick zwingt mir die Frage ab, warum Kriegsfotografen in der Ukraine gern Frauen in dicken Pelzmänteln vor rauchenden oder brennenden Häusern belichten und ich höre von sachverständiger Seite, diese Pelzmäntel seien vielleicht der wertvollste Besitz, der gerettet werden muss. „derfreitag“, Jakob Augsteins Wochenblatt, das ich bisweilen gern ein wenig schmähe, hat in seiner jüngsten Ausgabe, die ich mir verspätet vornehme, gleich mehrere hypergute Artikel zum Thema Ukraine, einer dabei auch vom großen Häuptling selber auf der Titelseite. Wunderbar, dass nicht alle gerade auf dem Klo saßen, als der Herr Hirn regnen ließ.

1. April 2022

Vor 25 Jahren notierte ich mir an meinem eigentlich freien Tag die Neuigkeiten, die sich für meine Doppel-Redaktion, der ich seit dem Jahresbeginn vorstand, inzwischen ergeben haben. Der schon absehbare Tod meiner „Außenstelle“ in Arnstadt sandte seine Hiobsbotschafter voraus, ich musste selbst anreisen und mir dies und jenes anhören. Es gibt Chefetagen, die haben ein sehr gespaltenes Verhältnis zu Aprilscherzen und noch dussliger gewählten Terminen für Tiefschläge. Ich arbeite emsig an meinem Beitrag zum morgigen 70. Todestag von Franz Molnár, grub sogar meine alte Theaterkritik wieder aus, für die ich seinerzeit schon allerlei las und auswertete, auf das ich jetzt dankbar zurückgreifen kann. Wen der Erfolg begleitet, auch und vor allem der finanzielle, der hat bei aller Mit- und Nachwelt schlechte Karten. Ich werde auf diesem Umweg in manche Ungarn-Erinnerungen gelockt und stoße auch auf abenteuerliches Unwissen in manchen Schlauköpfen.

31. März 2022

Weißt du auch, was heute für ein Tag ist? Mit schöner Regelmäßigkeit fragte mich das am 31. März meine Mutter. Und pflichtgemäß wissend antwortete ich: Euer Hochzeitstag. Es wäre heute der 72. gewesen, was dann doch kaum vorstellbar ist. Obwohl es natürlich solche Paare im wirklichen Leben gibt: er fast 102, sie fast 94. Immer wenn ich lese, dass jemand etwas sein ganzes Leben lang nicht vergessen wird, bis ich skeptisch. Bei vielen ist noch ein solides Stück Leben übrig, aber sie wissen schon nicht einmal mehr, wer die Frau ist, die ihnen die Schnabeltasse am Bett reicht, was alles andere als lustig ist. Den 50. Hochzeitstag feierten wir seinerzeit im deutschsprachigen Teil Belgiens nach mit Ausflügen nach La Roche, Bastogne, Stavelot und Spa. In Malmedy verweigerte mein Vater den weiteren Gang zu Fuß, setzte sich auf eine Bank und meinte, er werde warten, bis wir ihn wieder abholen. Meine Mutter setzte sich neben ihn. So ist das mit den alten Paaren eben.

30. März 2022

Sage einer was gegen diese Wetterpropheten. Ich kann am Morgen schon das beschneite Ilmenau vom Balkon aus belichten und dieses erfrischende Foto versenden. Mein Mitleid gilt den guten alten Laufenten, die ich seit Jahren bei ihrem emsigen Treiben beobachte, wobei ich weiß, dass Enten keine kalten Füße bekommen. Sonst würden ja auch auf allen Teichen nur niesende Enten umherrudern. Meine Warn-App teilt mir in bekannter Manier freundlich mit, dass ich eine Risiko-Begegnung hatte am 26. Februar, während die mich begleitende Gattin keinerlei solche erlebte, was mich leicht irritiert. Aber es kann natürlich sein, dass wir im Hotelrestaurant an unterschiedlichen Menschen mit vollen (oder leeren) Tellern vorbeigelaufen sind. An Symptomen mangelt es mir, ich vermisse sie freilich nicht. In der Bildbiographie „Einen Handkuss der Gnädigsten“ lese ich heute das Kapitel „Roda Roda und der Film“, sehe den Meister beim Rollenstudium in der Badewanne.

29. März 2022

Mein neuer profitabler Fitness-Tracker zeigt mir heute zum vierzehnten Mal in Folge 10.000 Schritte an, was meine AOK-App veranlasst, mir als „Beginner“ Punkte und Euro gutzuschreiben. Es war zunächst gar nicht so einfach, alles richtig und funktionierend zu installieren, nun aber muss ich nur meinen gegen Falschschreibung allergischen Zugangs-Code hintippen und schon sehe ich den rollenden, beinahe hätte ich: Rubel gesagt, also den Dings, den die Russen nicht mehr wollen. Die Propheten des Wetters prophezeien Kälte und Winter, was mich an jenes wunderschöne Jahr erinnert, da ich nach Spanien wollte und mit all meinen Kollegen den Flieger nach Barcelona verpasste. Auch vor 25 Jahren auf Ischia war das Wetter an diesem letzten kompletten Urlaubstag scheußlich, in Ischia Porto erwischten wir eine enttäuschende Bewirtung, zahlten aber zuletzt nur 58.000 Lire. Wir haben die neuen Reiseunterlagen für Belgien, die Restzahlung ist morgen fällig.

28. März 2022

Zu meinen medial verursachten Verunsicherungen gehört der Umstand, dass ich ständig Ruinen serviert bekomme im Fernsehen, vor denen sich Menschen nach rechts oder links bewegen, manche mit einem Einkaufswagen aus einem nicht sichtbaren Supermarkt. Ich höre von Menschen, die tagelang in Kellern saßen und nichts zu essen und zu trinken hatten. Ich weiß, dass das gelogen sein muss, weil tagelang nichts essen geht, tagelang nichts trinken aber nicht. Wen interessiert angesichts der Bilder und der immer lauter werdenden Fragen, wann wir endlich in diesen Krieg eingreifen, ohne dass es aussieht, als würden wir eingreifen, dass vor just 200 Jahren zu Gotha ein gewisser Rudolph Zacharias Becker starb, dem die Welt das „Noth- und Hülfsbüchlein für Bauersleute“ verdankt. Außerdem könnten wir am 9. April seines 270. Geburtstages gedenken, aber da wird der Krieg immer noch nicht zu Ende sein und die Not nicht nur unter den Bauersleuten sehr groß.

27. März 2022

Seltsamerweise fragt die Frau an der Rezeption wieder, ob ich die Rechnung wünsche, die ich schon habe, weil ich sie beim Einchecken sogleich beglich. Immerhin sind wir willens, auch die nächsten Touren gen Berlin wieder mit dem Hotel zu verknüpfen, welches Frühstück inklusive bietet und nicht einen Sonderzusatzpreis, mit dem man in Mittelafrika ein halbes Dorf eine Woche solide ernähren könnte. Wir fahren wie immer ab Hauptbahnhof, der Zug ist wie immer pünktlich, die Ruhezone nützt uns freilich nicht viel, weil ein westdeutschen Dialekt sprechender Bürger männlichen Geschlechts seine Verlautbarungen an die mit ihm reisenden Damen mittleren Alters ostdeutscher Herkunft wie einen Probedurchlauf für eine Kasernenhof-Ansprache exekutiert. Eine der Damen hängt leuchtenden Auges an seinen Lautsprecher-Lippen und ich erfahre von der Frau an meiner Seite, dass just dieser Mann am Morgen schon im Hotel beim Frühstück heftig nervte.

26. März 2022

Man soll es den Berliner Hotels gönnen, wenn sie wieder so gut ausgelastet sind, dass der Zimmer-Service tatsächlich fast bis 15 Uhr braucht, ehe alles für die neuen Gäste eingerichtet ist. So sind wir unter Zurücklassung unseres Rollkoffers mit Zahlenschloss in die Charlottenburger Gefilde enteilt, dieses oder jenes Geschäft aufzusuchen, welches Waren des täglichen Bedarfs feilbietet, welche in der Provinz nicht ganz leicht zu haben sind: blaue Bleistifte der Sorte B5, die es laut heimischem Bürowarenhandel gar nicht mehr gibt. In Berlin gibt es sie und es gibt auch Textmarker in Farben, die sich unter Waldmenschen in Thüringen offenbar keiner Nachfrage erfreuen. Gut denn, wir haben uns den eben in den Berliner Medien durchgehechelten Ernst-Thälmann-Park angeschaut mit dem Kopf, den ein junger Mann gern eingeschmolzen sehen würde, um mit dem Erlös den Krieg in der Ukraine zu verlängern. Man kann auch rund um den Weißen See wandern.

25. März 2022

Ela, die Gute, die irgendwo in den Hörsel-Bergen in der Gastronomie arbeitet, ist eine geduldige Freundin. Sie hört sich fast eine geschlagene Stunde an, was ihre Freundin, die in Geraberg in die Regionalbahn 46 nach Erfurt steigt, bis Erfurt zu sagen hat an ihrem Smart-Phone. Wir und alle anderen Sitznachbarn im Zug erfahren alles, was das Herz nicht begehrt aus dem Privatleben dieser jungen Frau, die eben keine Studierende ist, sondern nur eine Studentin. Denn sie hat eine Arbeit gefunden, mit der sie sich eine neue Wohnung verdienen will und in diesem Job hat sie nur drei Monate Probezeit. Sie will einen Polizisten in Erfurt besuchen, der sich einsam fühlt und sie hält auch reihenweise Verhaltenstipps für Ela bereit, die zwischendurch hie und da einmal kurz zu Wort kommt. Man lernt Ruhezonen in Fernzügen schätzen, wenn man der nach unten offenen Richter-Skala der freiwilligen Indiskretion ausgeliefert wird in diesem so genannten Personen-Nahverkehr.

24. März 2022

Fast schäme ich mich meiner Voraussage, das deutsche Feuilleton werde uns überschwemmen mit bis dato völlig unbekannten ukrainischen Performance-Künstlern, Dramaturgen, Tänzerinnen, Schriftstellern und -rinnen, Sängerinnen und -ern. Einige Oberfeuilletonisten werden sich fragen, warum sie all diese osteuropäische Warnliteratur nicht ernst genommen haben. Ja, warum wohl?  Weil das ganze Osteuropa niemanden hier auch nur einen Scheißdreck interessiert, wenn schon die eingemeindete DDR niemanden interessiert, warum dann ausgerechnet Litauen oder Belarus oder gar Transnistrien und Inguschetien. Die Verlogenheit tanzt auf den Seilen, wir haben noch nicht von Bulgarien geredet oder Ungarn, die zu uns gehören. Botschafter Melnik bittet zum 3. Weltkrieg, wir laden ihn nicht aus, warum auch? Ein Mann wie er bei uns irgendwo, ganze Szenen würden Amok laufen, ganze Zentralkomitees würden mit bebenden Lippen Protest murmeln, so aber? Schweigen.


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