Tagebuch

3. Oktober 2019

Die Feier zum Tag der Deutschen Einheit gestern mit einigen Neuerungen im Redeteil: nicht mehr die endlosen Begrüßungen der vergangenen Jahre, es fehlten auch etliche der immer Begrüßten, so die Alt-Landräte und die Neu-Landrätin. Festredner ein Mann aus der Wirtschaft, Gründer, schon in den späten achtziger Jahren in der DDR in der TH Ilmenau auffällig geworden mit erfinderischer Kreativität, ergraute Zeugen der „Messe der Meister von Morgen“ in den Mensa-Sälen erinnern sich. An ihn und vor allem auch seinen Mitgründer. Ich las den Tag über Tollers „Hinkemann“, an die Erstlektüre vor mehr als vierzig Jahren sind keine Erinnerungen geblieben außer der des starken Eindrucks. Verblüffend viel Substanz fast hundert Jahre nach der ersten Niederschrift verblieben, verblüffend wenig Expressionismus im Text. Die Inszenierung in Meiningen leider ein Fehlgriff in fast jeder Hinsicht. Ich hatte dem Namen des Regisseurs vertraut, der mich bisher nie enttäuschte.

2. Oktober 2019

Lange Gespräche gestern mit den Schwestern meiner Mutter, auch mit Schweden ist geredet. Zur Trauerfeier werden die hinterbliebenen Geschwister alle nicht kommen können. Zu alt, zu krank, zu weit weg. So wird die Feier im engsten Kreise tatsächlich eine. Heute Telefonate, möglichst viel vom Nachlass in gute Hände kommen zu lassen. Ich werde mich, so schwer mir das fällt, von sehr vielen Büchern trennen müssen, es fehlt schlicht an Platz. Ich drehte gestern eine große Runde in Gehren, ging durch die einstige Talstraße, in der ich von 1959 bis 1979 wohnte, zum Steinmetz, der die Grabplatte entfernt und dann wieder mit neuer Beschriftung aufbringt: ich hatte in der Nacht geträumt, ich hätte die falschen Daten angegeben. War aber alles richtig, alles gut auf der Karte an der Pinnwand. Das Haus, in dem ich mein erstes Kinderzimmer hatte, sieht von vorn noch fast aus wie 1959, nur die Haustür ist neu und die Briefkästen, allein die Wetterseite ist grau geschiefert.

1. Oktober 2019

Meine ehemalige Tageszeitung bringt einen Beitrag unter der Überschrift „Der politische Horror von Frankenstein“: Der Hyper-Skandal im Kreis Kaiserslautern betrifft ein Ehepaar Schirdewahn, das im örtlichen Gemeinderat allen Ernstes, man stelle sich vor, eine Fraktionsgemeinschaft bildet, obwohl sie in der CDU und er in der AfD ist. Wäre dem armseligen Schreiber das Wort Horror ebenso hirnlos leicht in die Rübe gestiegen, wenn der Ort des Geschehens, sagen wir: Blankenstein gewesen wäre? Mit Wort- und Sprachverklumpungen sollten gerade Vertreter der Berufsschreiber-Zunft souverän umgehen können. Theoretisch natürlich nur. Von den Christdemokraten kann ich zu ihren Gunsten nur hoffen, dass eine Polit-Gemeinschaft eines Ehepaares für sie nicht blanker Horror ist, sonst wären sie ja vor wirklichem Horror absehbar gänzlich hilflos. „Schockwellen bis Berlin“, wie viel bare Print-Blödheit lassen wir uns eigentlich vorsetzen, bis uns der Kragenknopf wegfliegt?

30. September 2019

Absprache mit dem Bestattungsinstitut. Dauert eine Stunde. Viel wird uns abgenommen, einiges bleibt dennoch. Zeitungsabmeldungen etwa. Wir sind heute nicht in Gehren. Die Steinmetzfirma wird die Grabplatte abnehmen und auf den neuen Stand bringen. Die Anzeige ist geschaltet, die Texte auf den Schleifen bestellt. Jetzt sind von 13 Geschwistern noch 4 übrig: ein Bruder in Brasilien, ein Bruder in Schweden, zwei Schwestern in Ulm. Die jüngste wird auch schon 80 in diesem Jahr. Eine Familiengeschichte, die geschrieben werden müsste, aber nicht geschrieben werden kann. Wie viele Romane gibt es schon von Erben, die alte Schachteln und Mappen öffnen, alte Fotos betrachten, alte Briefe lesen? Ich habe jetzt ein vierzigbändiges Tagebuch geerbt, alles in schöner Schrift notiert. Viele Bücher mit Notizzetteln wie Lesezeichen: ein Name erinnert an eine Straße, in der meine Mutter wohnte. Sie hält fest, wann ich nach einem lateinischen Zitat fragte.

29. September 2019

Schon erste vorsichtige Blicke in die Hinterlassenschaften meiner Mutter nötigen mir Begeisterung ab: alles geordnet, alles beschriftet, alles aufgehoben, was auch nur irgendeinen ideellen oder historischen Wert hat, das Familienstammbuch weist meine Eltern auf der Heiratsurkunde beide als Geschichtslehrer aus, das hat geprägt. Ich finde einen Brief von mir vom 23. September 1963, in Mühlberg geschrieben, wo ich zur Schule ging, als meine Mutter im Krankenhaus lag. Eine ganze Blechschachtel mit einer Szenerie vor einem „Restaurant Stephanplatz“ enthält alte Ausweise, Pässe, Mitgliedskarten. Visitenkarten meines Vaters aus seiner Nürnberger Zeit, Mitgliedskarten der Büchergilde Gutenberg, erst Erfurt, dann Nürnberg. Jetzt kenne ich alle frühen Adressen. Ich finde Reisedokumente von 1957 und 1961, Prag und Grusinien, Kurunterlagen von 1977. Zum ersten Mal im Leben sehe ich die Sterbeurkunde meiner Schwester vom 18. November 1950, Tag ihrer Geburt.

28. September 2019

Meine Mutter ist tot. Genau zwei Wochen vor ihrem 91. Geburtstag ist sie ihrem letzten Leiden erlegen, zu ihrem und unserem Glück ohne lange Quälerei. Noch am Sonntag telefonierten wir nach unserer Rückkehr aus Italien, sie erzählte vom Besuch der Urenkel, ein Foto davon kannten wir schon. Am Montag wollten wir weitere Vereinbarungen mit dem DRK treffen, mussten verschieben, weil das Sanitätshaus mit den Vorbereitungen noch nicht zu Ende gekommen war wegen des neuen Thüringer Feiertages. Als ich am Dienstag mit dem DRK sprach, war es schon eine vorläufige Absage, meine Mutter lag auf Station 22, von Tag zu Tag wurde es kritischer. Am Donnerstag der Satz, den wir für beginnende Verwirrung halten mussten: „Warum bringt Ihr mir noch was, ich bin doch morgen im Sarg.“ Es war nur ihr Lieblingsjoghurt und frische Wäsche, was wir brachten. Den Freitagsbesuch nahm sie schon nicht mehr wahr. Heute holten wir ihre Sachen ab: mit Protokoll.

27. September 2019

Zum achten Mal bin ich nun in Brüssel, zum siebenten Mal im Hotel Van Belle, zum ersten Mal im Zimmer 6. So beginnt mein Tagebucheintrag vom 26. September 2004. Am 27. September meldete ich die Verteilung von vier meiner Bücher. Professor Timmermans, inzwischen leider verstorben, war so freundlich, sie bei mir als Gastgeschenke für unsere Gesprächspartner zu bestellen. Der Reisepreis hatte sich innerhalb von zehn Jahren verdoppelt, das Programm war dürftiger und blasser geworden. Dass es meine letzte Teilnahme an dieser Reise war, ahnte ich noch nicht, erhielt aber noch lange immer neue Einladungen auch für andere Angebote der Akademie aus Jena. Heute geht es nach Dresden, im MDR sahen wir noch spät gestern einen werbenden Beitrag für Ursula Werner als Mutter Courage. Wenn die Inszenierung ist, wie sie zu sein scheint, können wir uns freuen. Es ist der erste Theatergang der neuen Spielzeit, fünf folgen im Oktober, danach ist der Kalender leer.

26. September 2019

Der Kontrollblick des Kieferchirurgen sagt: alles sieht gut aus, der Termin für das Fädenziehen fällt auf den 70. Jahrestag der Deutschen Demokratischen Republik, der dank Mauerfall keiner mehr ist. Es macht mäßig Freude, jetzt wieder täglich mit den immer noch einseitigen Geschichten über diese Republik konfrontiert zu werden. Der allgemeine Effekt des medialen Weltbildes wiederholt sich auch hier: jede beliebige Mehrheit bleibt ausgeklammert (hatte nicht Demokratie irgendetwas mit Mehrheiten zu tun?), stattdessen Sonderfälle, Sonderfälle, Sonderfälle. Millionen DDR-Menschen haben weder versucht, einen Tunnel zu graben, noch flogen sie vom Gymnasium, noch waren sie Bausoldat. Millionen DDR-Menschen waren nicht Pastorensöhne oder -töchter und selbst die wildesten Dissidenten länger in der SED als andere, denen man es zum Vorwurf macht. Aus Station 22 nichts Neues, man muss jetzt Gesprächstermine vereinbaren, um etwas zu erfahren, Trauerspiel.

25. September 2019

Zu den Erfahrungen, die man jedermann ersparen möchte, gehört die, einem lieben Menschen beim Verfall zuzuschauen und nichts tun zu können. Eben noch einem Scherz zugänglich und schelmisch mit dem Finger drohend, ist plötzlich Irritiertsein der vorherrschende Zustand, Kläglichkeit der Stimme. Was vorgestern Klage gewesen wäre, ist heute Resignation. Kleinste eigene Gesten werden wie fremde Phänomene wahrgenommen. Meine eigene OP wird fast nebensächlich, auch wenn ich am Nachmittag eine Weile sehr heftige Schmerzen habe, nachdem die Betäubung nachlässt. Alles dauerte nicht halb so lange wie im März. Noch einmal Lob, als ob ich einen willentlichen Anteil daran gehabt hätte, wie gut und fest der Kieferknochen geworden ist. Es fühlt sich merkwürdig an, wenn man etwas in den Mund geschraubt bekommt, verglichen mit einer Spritze in den Gaumen ist aber alles das pure Vergnügen. Es herrscht nun erst einmal Brei-Time und Blutorange statt Wein.

24. September 2019

An die verheerenden Folgen aus dem tagelangen Zwangsgenuss von Chlorhexamed Forte kann ich mich noch sehr gut erinnern. Heute nun die Einführung in die zweite Operation mit einem Rundum-Röntgenbild, das mir verrät, wie gut der Knochenaufbau verlaufen ist. Ich sehe, was morgen getan wird, ich werde beauftragt, ein Antibiotikum eine Stunde vor der OP zu nehmen, ich besuche meine Hausärztin wegen eines anderen Rezeptes, gehe mit dem Zahnarzt-Rezept in eine andere Apotheke. Am Ende des Tages lande ich bei 11450 Schritten und das zwei Tage nach dem Urlaubsende. Leider inbegriffen ein Krankenhausbesuch bei einer mir sehr nahe stehenden Person. Der Datenschutz in Krankenhäusern ist mittlerweile so weit fortgeschritten, dass man eine schriftliche Genehmigung erteilen muss, damit ein Besucher an der Rezeption erfahren kann, wo die Patientin liegt. In meinem Falle trug ich heute nachträglich Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht zum Kopieren hin.

23. September 2019

Aus gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen verlautet, dass in der Bevölkerungsgruppe, die in tiefen DDR-Zeiten Arbeiterklasse genannt wurde, Teile des Thüringer weiblichen Gruppenteils sich zur Frage verständigen, dass es ratsam sei, in diesem Jahr LINKE zu wählen, weil, wenn man die CDU wählt, die den schönen Kindertag im September wieder abschaffen will. Ich als LINKE hätte ja wenigstens den 1. Juni zum Kindertag erkoren. Passt einfach besser zur ehemaligen DDR. So muss ich sagen: wenn das Kalkül war, Hut ab, Ziege. Mal schauen, wie sich die weiblichen Wählerströme verhalten. Denn Wählerströme haben eine andere Viskosität und Fließrichtung als die Ströme, in die gewöhnlich unsere Flüsse und Bäche münden: mit denen geht es stetig abwärts. In meinem Viertel sorgen bei 22 Prozent Wahlbeteiligung LINKE-Stammwähler in ihren beigen Popeline-Mänteln für grandiose Wahlsiege bis zu einem Drittel der Stimmen, also sieben Prozent aller Wahlberechtigten.

22. September 2019

Günter Kunert ist tot. Neunzig und ein halbes Jahr alt ist er geworden. In die Tagesschau hat er es in seinem Leben nicht in dieser Länge gebracht, sein Tod verschafft ihm das Vergnügen, das er nicht mehr genießen kann. Da ich kein großes Medium bin, habe ich keinen Nachruf auf Vorrat liegen. Auch ärgert mich, dass nun überall von der Unüberschaubarkeit seines Werkes die Rede ist. Er hat sich vor vielen Jahren über eine Kritik lustig gemacht, die ihm eine verwirrende Vielfalt seiner Texte attestierte. Verwirrt sind immer die Kritiker, die auf der Suche nach gemeinsamen Nennern die Antenne für die einzelne Schönheit verloren haben. Die ganz wichtigen Preise hat er nicht bekommen und ich argwöhnte schon einmal öffentlich, dass das mit seiner Zurückhaltung zu tun haben könnte, Romane zu schreiben. Vielleicht hätte er welche geschrieben, hätte Reich-Ranicki nicht „Im Namen der Hüte“ durch den Wolf gedreht, wahrscheinlicher ist aber, dass er nicht wollte.


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