Tagebuch
16. Juni 2025
Auf dem Bebel-Platz Berlin hat es 1933 gar keine Bücherverbrennung gegeben. Nicht die üblichen Leugner verleugnen das Ereignis, es gab damals gar keinen Bebel-Platz. Heute guckt man durch ein Glas nach unten und ich weiß seit Donnerstag, wo Heinz Knobloch auf der Treppe stand und seine Rede hielt. Ich kenne auch einige kleinere Geheimnisse der Tafel dort an der Wand. Wo heute die Juristische Fakultät fakultiert, war früher der Gewi-Lesesaal und irgendwo auch der Raum, da ich meinen Englisch-Kurs absolvierte bis Ende des vierten Semesters. „Stäubchen aufwirbeln“ heute nach fünf Ruhetagen wieder in Angriff genommen. Womöglich halte ich im kommenden Jahr einen Knobloch-Vortrag in Berlin. Ich erweitere schon mal vorsorglich meine Querschnitts-Dateien und will hineinsammeln, was anfällt. Klaus Lage wird heute 75 Jahre alt, ihm ist inzwischen deutlich mehr als tausendmal nichts passiert. Das gönnen wir ihm, selbst Diether Dehm verzeihen wir ihm.
15. Juni 2025
Von Amerika lernen heißt siegen lernen. Jetzt haben wir auch einen Nationalen Veteranen-Tag, Veterans Day heißt er dort und ist martialisch bis hypermartialisch. Unser neuer Wehrwille muss aus allen Richtungen bestärkt werden, wenn nun selbst die Grünen die Welt am liebsten im Panzer retten würden. Nur ich bin kein Veteran und alle meinesgleichen, denn wir haben keinen Eid auf die Grundgesetz genannte Verfassung abgelegt, auch wenn wir nicht „Erich befiehl, wir folgen Dir!“ brüllen mussten. Vermutlich hätten wir die heutigen Veteranen bei deren Einmarschversuch schlicht abgeknallt, so wie sie uns abgeknallt hätten getreu dem Bedarfs-Motto: Deutsche schießen nicht auf Deutsche, es sei denn, es muss unbedingt sein wegen der Freiheit oder ähnlicher immaterieller Güter höchster Ordnung. Für einige ist das heute auch das Dreieinigkeitsfest, ein Wanderfest, an den Sonntag nach Pfingsten gebunden. Der Heilige Geist ist eine Taube, wenn mich nichts täuscht.
14. Juni 2025
Spandau. Da waren wir schon, aber nur unter Hochdruck auf Toilettensuche. Jetzt alles in Ruhe, der Turm zuerst. Rundblick und dann im Keller die Attraktion der Attraktionen: Fledermäuse. Sie fledern hinter Glas umher und hängen herum. Ob sie uns auch betrachten, während sie mit ihren Ohren wackeln, steht dahin. Zu Hause sehen wir zu späterer Stunde bisweilen auch welche flattern. Und wir wissen von Dosdorf, wo es Fledermaus-Tage gibt. Vor 20 Jahren sahen wir in Sils Maria das Nietzsche-Haus als die ersten Gäste des Tages, nach uns kamen drei Japaner. Wir hatten nasse Füße vom heftigen Regen. Hier heute bestes Wetter, ich trank von meinen Ambrosetti-Bieren, von denen einige morgen mit nach Hause fahren, Gesamtbeute 27 Sorten. Auch heute wieder Schritte en masse, es kommen 45.000 zusammen für diese drei Tage. Das Geburtstagsessen auf dem Balkon mehr als reichlich. Und ein Blick auf eine nackte Dach-Terrassen-Dame. Hin und her schreitet sie.
13. Juni 2025
Berlin für meine Füße: 17362 Schritte, gestern nur 11667. Heute der Jüdische Friedhof an der Schönhauser Allee, später noch Pankow, das ehemalige Wohnhaus Knoblochs, der Gedenkstein für ihn. Wenn Brunnen, auch Brünnlein, ihr Wasser nach oben sprudeln lassen, ist es Trinkwasser. Das weiß ich seit gestern und es hat auch eine gewisse Logik. Sonst die üblichen Schilder: Kein Trinkwasser. Es gibt Weltgegenden, da würde das die Wasserträgerinnen wenig stören, Hauptsache Wasser. Aber wir sind privilegiert. Auf dem Friedhof ist es trotz Plan recht schwierig, ein Grab zu finden, denn die Areale des Planes geben keinerlei reale Markierungen wieder. Wir finden Max Liebermann, Giacomo Meyerbeer und am Ende sogar noch den Professor Richard M. Meyer, von dem ich eine zweibändige Literaturgeschichte besitze. In der Kulturbrauerei eine Sonderausstellung zu Heavy Metal in der DDR, darin ein Plakat von der Ehrenburg in Langewiesen, schon D-Mark.
12. Juni 2025
Zernez war unser zehnter Schweiz-Urlaub nach zuvor zwei Kurzaufenthalten ohne Übernachtung. Heute sind wir uns nicht einmal ganz sicher, ob es der dritte oder der vierte Aufenthalt in diesem Hotel mit der Dachterrasse ist. Gut gelegen jedenfalls und in seltsamem Wechsel mal teurer, mal billiger als unser anderes Domizil Spielhagen-Straße. Helmut Mehnert steht unten fünf Minuten vor der Zeit, ich bin mit 24-Stunden-Karte ausgestattet und also für sämtliche Aus-, Ein- und Umstiege gewappnet. Das nutzen wir dann so oft, dass ich beinahe wirre werde. Die Heinz-Knobloch-Runde zu Fuß, mit Bus, mit Straßenbahn und S-Bahn beginnt am Mathilde-Jacob-Platz und endet in der Kommode, bei Kaffee und Kuchen. Unterwegs der Weg vom Sie zum Du, ich bin schwer bereichert mit Wissen über Knobloch im Berliner Westen und freue mich, dass es solche Menschen gibt wie diesen autodidaktischen Experten. Die anderen Experten sehen wir beide lieber von fern als nah.
11. Juni 2025
Dies ist der Tag zwischen den Reisen. Im Buch „Stäubchen aufwirbeln“ lese ich hinten, was der große Vorteil solcher Bücher ist: man kann sie überall beginnen, überall beenden. Ich folge Knobloch auf seinen zweiten Rundgängen, die gar nicht immer welche sind. In drei Büchern sind solche enthalten, wohl nach dem Motto: Nicht alles auf einmal aufessen. Vor zwanzig Jahren, um auch wieder einmal nach hinten zu schweifen, fuhr ich 609,1 Kilometer von der Tankstelle in Ilmenau bis nach Zernez im Engadin/Graubünden. Damals verglichen wir noch die Angebote der Routenplaner vor der Abfahrt und hatten 80 Kilometer B 19 von Meiningen bis Kreuz Werneck, das zog sich hin. In unserem Studio vermissten wir lediglich eine Backröhre für die mitgebrachten halbfertigen Brötchen. Heute ist der Nationale Tag des Deutschen Schokoladenkuchens sowie der Nationale Maiskolbentag. Mit meiner Verabredung morgen geht alles klar. Ich bin sehr gespannt.
10. Juni 2025
Wer auf dem Weg nach Dresden Stau hat, sollte auf dem Heimweg nicht ohne Stau bleiben. Die männliche Bevölkerung Polens in ihren Lkw rollte gen Westen, später mischten sich Teile der männlichen Bevölkerung Tschechiens dazwischen, phasenweise zwei komplette Spuren voller Pl und CZ. Hoffentlich bekommt Putin nicht mit, dass man diese Nachbarn am besten mitten in der Woche überfällt, wenn keiner zu Hause ist. Noch bleibt das logische Problem zu lösen, wie er einerseits immer gefährlicher werden und gleichzeitig nicht einmal seine Luftwaffe schützen kann vor ukrainischen Drohnen aus dem Camping-Anhänger. Wir werden auf alle Fälle hochrüsten, bis die Schwarte kracht. James Salter wurde am 10. Juni 1925 geboren und starb 90 Jahre und neun Tage später wieder und das alles in den USA. Das einzige Buch, das ich von ihm besitze, heißt schlicht „Dämmerung“ und enthält elf Erzählungen, keinen einzigen Roman, gut für mich also.
9. Juni 2025
Wir haben hinein gefeiert, wie das so heißt und wohl nach neuer Rechtschreibung auch geschrieben wird. Uns Uwe vollendet heute sein 70. Lebensjahr, was man halt so vollendet nennt. Ich bin der Senior unter uns Altfreunden aus den Berliner Zeiten. Uns Elke und uns Eckhard vollenden heute ihr 49. Ehejahr, was man halt soll vollenden nennt. Es gibt sogar zwischendurch Glückwünsche aus Leipzig und Polen, wo sich Kinder und Enkel befinden. Die Götter der Dresdener Heide ließen sich schließlich doch erweichen, mehr Blicke auf das Regen-Radar sind vermutlich selten gefallen. Ich war als Gesprächspartner für vorzeitige Besucher im Einsatz, die vorzeitigen Besucher kamen aus der unmittelbaren Nachbarschaft und wollten, wie man so sagt, das große Hauptfest in Zelt und Garten nicht stören. Die Hauptgäste quollen von vorn und hinten ins Grundstück, die Wege zu den Toiletten waren ausgeschildert. Niemand dachte an Ernst Jandl, der vor 25 Jahren in Wien starb.
8. Juni 2025
Das wäre eine gute Gelegenheit gewesen, den Johannisfriedhof in Dresden zu besuchen, wo Heinz Knobloch seine letzte Ruhestätte hat. Doch abwechselnder Sturm mit heftigsten Regenfällen gaben keine Atmosphäre für besinnliche Spaziergänge. In der Küche Hochbetrieb, drei Blechkuchen von Elkes Hand in direkter Folge, die Hausfrau und die Söhne im Vorbereitungsstress und zeitgleicher Angst, das Wetter morgen könnte einen Strich durch alle Rechnungen machen. Ich kam sogar zu ein paar Seiten Howard Fast. Unter Heizstrahler und Kaminfeuer sahen wir die Endspiele der Nations League. Neues Licht am Bücher-Horizont, es wird sich vielleicht doch einrichten lassen, meine „Gesammelten Werke“ unters Volk zu verstreuen, das dann hoffentlich ein paar Körner aufpickt. Die pure Textmenge, die fertig vorliegt, könnte nach vorsichtigen Schätzungen und rücksichtigen Erfahrungen zwanzig Bände füllen. Eine große Aufgabe. Ich dämpfe erst einmal alle Euphorien.
7. Juni 2025
Den Dorotheenstädtischen Friedhof werde ich heute und morgen nicht aufsuchen, denn ich fahre nicht nach Berlin, sondern nach Dresden. Auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof fand Werner Krauss, der Romanist, seine letzte Ruhe, der wenige Wochen nach meiner Verehelichung, deren 49. Jahrestag ich nebenher während des großen Geburtstagsfestivals in der Dresdener Heide begehe, verstorben ist. Heute ist sein 125. Geburtstag, an Büchern von ihm habe ich immerhin acht im Besitz mit so aufregenden Titeln wie „Aufsätze zur Literaturgeschichte“, „Zur Anthropologie des 18. Jahrhunderts“, „Die Innenseite der Weltgeschichte“, „Essays zur französischen Literatur“. Die Professoren alten Stils vertrauten noch auf das uneingeschränkte Interesse ihrer wenigen Leser. Wer liest nicht gern einmal „Werk und Wort“ oder „Perspektiven und Probleme“. Immer besser als „Tradition und Fortschritt“, wie wahrscheinlich schon 46 Bücher hießen von mehr als 49 Autoren.
6. Juni 2025
Nur nicht noch einmal im Fernsehen von neunzehn Expertinnen erklärt bekommen, welche Person in Thomas Manns „Buddenbrooks“ welche Person in Thomas Manns Lübeck war und wie ungenau wer mit wem übereinstimmte. Es war schon immer anstrengend genug zu erfahren, wie die vier Vorbilder für Goethes Mephisto hießen, Klaus Mann war jedenfalls nicht darunter. Thomas erfuhr an seinem 69. Geburtstag vom D-Day und hat das gleich rot in sein Tagebuch geschrieben. Der Tag hieß damals nicht sofort D-Day, er wurde erst dazu. Am 6. Juni 1944 gab es Champagner zum Abendessen, Franz Werfel war da nebst Gattin, Bruno Frank war auch da nebst Gattin. Und von Raoul Auernheimer kam einer der Briefe. Es besteht akut die Gefahr, dass irgendeine Erzenkel diversen Geschlechts den armen Thomas Mann auch noch zur queeren Ikone ausruft wegen „Der kleine Herr Friedemann“ und sonstiger Dings, äh, An- und Umspielungen, aus dem toten Venedig.
5. Juni 2025
Nachdem ich voriges Jahr elf Bücher von Heinz Knobloch las, litt ich anschließend unter einer leichten Knobloch-Verstopfung. Die ist nun mit dem ersten Knobloch des Jahres, „Bloß wegen der Liebe“ heißt er, geheilt und beseitigt. Ich schreibe in Dateien zu ihm, eine ist seinem Verhältnis zu Victor Auburtin gewidmet, eine zweite gilt seinem tschechischen Faible, eine dritte seinen Ungarn-Bezügen, alles ergiebige Themen. Am 5. Juni 1900 starb Stephen Crane, der in einem Buch „Meine Amerikaner“ vorkäme, wenn ich ein solches schreiben würde. Den Titel hat leider schon Marcel Reich-Ranicki für sich in Anspruch genommen, dagegen ist natürlich kein Unkraut gewachsen. Zudem müsste sich irgendjemand dafür interessieren, wer meine Amerikaner wären, also zum Beispiel noch Isaac B. Singer und John Steinbeck. Natürlich Ernest Hemingway, dessen Foto mit Rollkragen und weißem Bart meine Mutter regelmäßig zu einer Senkung ihrer Stimme anregte.