Tagebuch
19. August 2024
Schon Heinz Knobloch wusste, dass Sehenswürdigkeiten eine Sache für Gäste sind. Die Be- bzw. Anwohner der Sehenswürdigkeiten gehen nie bis selten hin. Fragen Sie einen Ilmenauer, wann er zuletzt im GoetheStadtMuseum war, er wird je nach Frager eine gewisse Verlegenheit vorspielen oder in einem Anfall von Ehrlichkeit sagen: Nie. Auch ich war im GoetheStadtMuseum immer nur, wenn ich dort einen Vortrag hielt, aber die Goethefreunde hatten irgendwann von meinen Goethe-Vorträgen so die Nase voll, dass sie lieber Leute einluden, die ihnen erzählten, was sie alle schon wussten. Früher nannte man das Parteilehrjahr. Wir jedenfalls wanderten heute vom Parkplatz zu Füßen des Kickelhahnes, der jetzt gebührenpflichtig und markiert ist, zur Bobhütte, die leer steht, zum Aussichtsturm, von dem aus man sehr viel sieht, zum Ilmenauer Balkon, von dem aus man nichts mehr sieht. Und zurück. Unterwegs so viel Pfandflaschen, dass die Parkgebühr zurückkehrte.
18. August 2024
Die Putenoberkeulen mussten sich nicht verstecken, die Teilnehmer des Gastmahles im Esszimmer des Hauses, das wir nur selten Speisezimmer nennen, auch wenn das deutlich nobler klingt, gaben ihrer Befriedigung in lobenden Worten beredten Ausdruck, die jüngsten Gäste nickten nur auf die Frage, ob es geschmeckt habe, was die Hausfrau mit Freude und Genugtuung registrierte. Die Stiftung Warentest hätte bemängelt, dass die Oberkeulen im Rohzustand gegenüber den Oberkeulen im gebratenen Zustand zu viel Gewichtsverlust erlitten hätten, was auf überhöhten Wasseranteil hindeutet. Das wiederum hätte der Stiftung Putenwohl Genugtuung ins Hirn getrieben, denn nur wasserarme Putenkeulen kommen in den Himmel oder so ähnlich. Es beginnt nun eine Woche des Kindes, aus unserer bescheidenen Rentner-Perspektive die Woche des Enkels im Plural, also der Enkel. Die zweiköpfige Plankommission hat sich auf Wetterabhängigkeit geeinigt: von Tag zu Tag.
17. August 2024
Dies ist das Tag, an dem wir unsere Stimmen einwarfen. Wurfstimmen also. Und das Rathaus Ilmenau hat den Schlitz in der Rathaustür, durch den die Stimmen geworfen werden müssen, so überaus auffällig markiert, dass auch die Mitglieder des Blinden- und Sehschwachenverbandes, soweit sie nicht vollends im Dunklen tappen, treffsicher sein können. Außerdem, na ja, es gibt ja Hilfsangebote. Mich bewegt die Frage, wie es das Wahlergebnis beeinflusst, wenn ich mit einem SPD-Kugelschreiber die CDU ankreuze oder umgekehrt. Was macht ein sächsischer Kugelschreiber mit mir in Thüringen? Ohne Wahlkämpfe wäre die gesamtdeutsche Kugelschreiber-Industrie wohl schon bei den Dax-Verlierern. Was natürlich nicht stimmt, denn auch andere Institutionen und Institute verteilen welche, legen welche bei und so wird dem freien Kugelschreiber-Handel das Handwerk gelegt. Wann kaufte ich zuletzt eine echte Parker-Mine? Vor dem 30jährigen Frieden?
16. August 2024
Bisweilen arbeiten bei Wikipedia auch vollkommen ahnungslose Vollidioten mit. Einer beantwortet die Frage „Wie hieß der Rotwein in der DDR?“ mit: „Viele Leute bevorzugten „Cotnari“, „Muskat Otonel“, „Murfatlar“, alles liebliche, teilweise Dessertweine. Wir nannten diese Weine auf dem Tanzboden „Büchsenöffner“. Der einzige wirklich gute Rotwein war ein „Pinot noir“.“ Die ersten drei Weine, jeder, der sich die Hosen nicht mit vier Kneifzangen hochzieht, weiß es, waren weiß, also gelb, aber niemals rot. Wir nannten diese Weine „Schlüpferstürmer“, an Tanzböden in der DDR kann ich mich nicht erinnern. Wohl aber an schwerste Brummschädel wegen Restzuckervergärung in den inneren Trakten. Bisweilen arbeiten auch beim MDR Menschen mittlerer Fähigkeiten, die dürfen dann „Fakt“ moderieren und in jedem zweiten Satz sagen: Sie haben aber jetzt meine Frage nicht beantwortet. Als hätten Politiker je Journalistenfragen beantwortet. Ach Freunde, tiefe Trauer.
15. August 2024
Wie meine Daten nach Hamburg zu einer bundesweiten Initiative Hörgesundheit gelangt sind, die mir in gewissen Abständen Einladungen nach Arnstadt zukommen lässt, damit ich dort einen Hörtest absolviere, weiß ich nicht. Ich bin zwar in Arnstadt geboren, habe in Arnstadt eine Reihe von Jahren gearbeitet, kannte dort den Chef von Hals/Nase/Ohr nebst Gattin sehr gut, der dort in der zweiten Etage wirkte, wo ich in der ersten das Licht der Wollmarkt-Welt erblickte, aber sonst? Mein Lebensmittelpunkt, wo ich mit der mir angetrauten Gattin 100 Quadratmeter bewohne und dem Bücherstaub anheimgebe, liegt andernorts. Die genannte Gattin überraschte mich gestern mit einer Zahl, die mich einschüchterte: Ich setzte seit Eröffnung meiner Internet-Seite 2011 sage und schreibe 1196 Texte ins Netz, nur die der Rubrik „Alte Sachen“ entstanden früher. Wenn man mich einen fleißigen Menschen nennen täte-würde, täte-würde ich nicht dementieren beim Presserat.
14. August 2024
Der Medienkritiker Goethe schrieb einst, an die Öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten gerichtet, dies: „Es ist ein eigner, grillenhafter Zug, / Daß wir durch Schweigen das Geschehene / Für uns und andre zu vernichten glauben.“ Warum mir das in die Finger fällt, als ich lese, dass die ukrainischen Attentäter an Nordsstream 2 ihrer Verhaftung entgingen, als sei es selbstverständlich, dass sie welche waren, also Ukrainer, unbekannt, welchen Auftraggebers, da ging mir der Hut hoch. Denn ich erinnere mich der frühen Mutmaßungen, die auf der flachen Hand lagen wie Salamischeiben auf der Pizza, die sich verbanden mit der Aussage, es könne verheerend sein für unsere Waffenliefer-Mentalität, wüssten wir offiziell, was wir inoffiziell nach dem Altprinzip Cui Bono? ahnten. Also während unsere Freunde im Land der ehemaligen Untermenschen Geiselnahmen betreiben für künftige Tauschgeschäfte, etwas späte Wahrheit? Vor 30 Jahren starb Elias Canetti unbeeindruckt.
13. August 2024
Man kann am 13. August natürlich an die Mauer denken, die inzwischen länger weg ist, als sie da war. Man kann auch an Johann Elias Schlegel denken, der vor 275 Jahren starb und ein Klassiker vor den Klassikern war. Ich denke, dank einer sehr freundlichen Zusendung aus Berlin, an den 13. August 1937, der auf einen Freitag fiel. Mit Wirkung dieses Freitags erteilte am 27. August 1937 die Geheime Staatspolizei Darmstadt dem Schriftsteller und Kunsthistoriker Dr. Arthur Eloesser Auftrittsverbot als Redner. Das im Bundesarchiv Lichterfelde bewahrte Schreiben begründet das Verbot mit einer Rede Eloessers in der Steinthal-Loge in Hamburg am 25. Februar 1937. Ein halbes Jahr benötigte die Gestapo also für ihre Entscheidung, was kaum tröstet. Die 1909 gegründete Loge war eine von drei jüdischen Logen in der Hansestadt. Eloessers Redethema ist nicht überliefert. Für mich zwei bis dato unbekannte Lebensdaten. Jeder neue Fund ist und bleibt willkommen: logisch.
12. August 2024
Beim Blättern in einer alten „Berliner Zeitung“ von Ende Juni finde ich die Überschrift „Pannen und Perspektiven“, darüber ein Foto von Christian Drosten, darunter die Unterzeile „Der Charité-Virologe Christian veröffentlicht ein Buch zur Corona-Zeit“. Nur wer nichts macht, macht auch keine Fehler, lautet der Lenin-Spruch verantwortlicher Redakteure in solchen Fällen. Fehler in Überschriften wirken gravierender als solche in der sechsten Textspalte unten, bis wohin laut Rezeptionsforschung kaum noch jemand liest. Aus meiner Zeitungszeit sind mir Bürger männlichen Geschlechts erinnerlich, die Bannflüche aussprachen, als ich ihren Familiennamen in einem Artikel zweimal verschieden schrieb. Wie es Charité-Virologen ergeht, wenn sie genannt werden wie Marta im brasilianischen Fußball, weiß ich nicht. Früher gab es Korrektoren, später Schlussredakteure, was es jetzt gibt, weiß ich nicht. Ansonsten ist heute der 125. Geburtstag von Alfred Kantorowicz.
11. August 2024
Mit zwölf goldenen, dreizehn silbernen und acht bronzenen Medaillen hat sich Deutschland in Paris nicht eben mit Ruhm bekleckert. Insgesamt gewannen 62 Länder mindestens eine Goldmedaille, gar 84 Länder überhaupt eine Medaille. In manchen Ländern wird der Gewinner zum Nationalhelden ausgerufen, es gibt sogar eigene Feiertage. Nun geht es weiter mit den Fernsehprogrammen ohne neue Tatorte, denn es folgen noch die Paralympics und wegen Diskriminierungsvermeidung stehen alle öffentlich-rechtlichen Programmräder weiter still. Gelber Muskateller bleibt dennoch der Wein am Sonntag, wenn wir zu Hause sind. Und weiter lese ich Heinz Knobloch, weiter lese ich den vor sieben Jahren unterbrochenen Paul Ilg, auf den wir stießen, als wir Uttwil besuchten, wo er 1957 starb. Uttwil versteht sich als „das Dorf der Dichter und Maler“, man nannte es auch das „Ascona am Bodensee“. Sehr klein, sehr fein, sehr ruhig, 2013 kamen wir von Arbon her über Romanshorn.
10. August 2024
DSF muss übersetzt werden, höre ich von meinen unermüdlichen Sofortlesern am Chiemsee und auf Norderney. Also das war „Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft“, man musste Mitglied sein, wenn man ein „Kollektiv der sozialistischen Arbeit“ werden wollte, es war auch das gemeinsame Wodka-Trinken bisweilen nicht zu vermeiden. Nach zwei Tagen mit mehr als 11.000 Schritten folgt heute einer mit weniger, denn es ist Groß-Feierei angesagt mit Bräteln und Würsten, Salaten und alkoholischen Kaltgetränken. Die Suchmaschine bietet für den französisch- und rumänisch-sprachigen Schriftsteller griechisch-rumänischer Abkunft mit Namen Panait Istrati zwei Geburtsdaten an: den heutigen 10. August, bei Wikipedia dann den 22. August, beide 1884, was immerhin tröstet. Der 16. April 1935 gilt als Todestag für alle Beteiligten, also warten wir bis dahin ab, weil uns rumänische Original-Geburtsurkunden nicht zur Verfügung stehen bis auf weiteres.
9. August 2024
Eben dachte ich noch, dass früher der Bezirk Gera mehr Medaillen für die DDR bei Olympia holte als jetzt diese 83-Millionen-Ballung, die in 60 Jahren erfolgreich den Leistungsgedanken beerdigte. Wem es eher darum geht, kleine Verlierer sich nicht diskriminiert fühlen zu lassen, als Mentalität von Siegern zu erziehen, der darf sich nicht wundern, dass selbst die, die Leistung kennen, nicht zum Höhepunkt den eigenen erreichen können. Immerhin: Zuwanderung beweist ihre Wirksamkeit im Sport besser als sonst. Ohne Hintergründler/innen mit deutschen Müttern wäre die Bilanz zwei Tage vor Abpfiff wahrscheinlich nahe den Inseln St. Lucia oder Puerto Rico. So aber jubilieren wir und genießen die achtfache Fernsehwiederholung jeder einzelnen Bronzemedaille. Vor 130 Jahren wurde Michail Sostschenko geboren, der heute nicht für sein Land starten dürfte, dafür aber war er ein Begnadeter, dessen „Kuh im Propeller“ in die Geschichte der DSF einging und darüber hinaus.
8. August 2024
Der 8. August 1999 war unser erster kompletter Tag in Jämjö, Provinz Blekinge, in Südschweden. Von Abfahrt bis Ankunft alles in allem 20 Stunden, Fährhafen in Rostock gut gefunden, Haus in der Einöde nach Schlüsselübergabe gut gefunden. Natur satt oder pur, wie es im Neusprech heißt. Drei Wochen Schweden vor uns. Danach 23 Jahre Pause, bis wir unter den vier skandinavischen auch die schwedische Hauptstadt besuchten. Unsere Fähre hieß „Mecklenburg-Vorpommern“, wir saßen die komplette Überfahrt nach Trelleborg an Deck, unser Peugeot stand auf dem Oberdeck. In Schweden sind die Supermärkte auch am Sonntag geöffnet. Und die Rehe in Jämjo haben keine Furcht, sich uns zu zeigen. Beim Eintragen erster Daten in den 2025er Jubiläumskalender finde ich wenig für Juli, ganz anders als für 2024. Und sehe, dass ich drei alten DDR-Chargen nicht zu ihrem 75. Geburtstag werde gratulieren können, weil sie den geheim halten. Regina Scheer ist eine davon.