Tagebuch
22. Juni 2025
Vor zehn Jahren starb Gabriele Wohmann, die fürchterlich dünn aussah zum Schluss. Nach früher Begeisterung für ihre kurzen Geschichten stand sie sehr lange unbeachtet im Regal über meinem Fernsehplatz, dann kaufte ich mir einen Band mit dem brachialen Titel „Meine Lektüre“ aus der Sammlung Luchterhand. Der Vorbesitzer hat kleine Haken und Kreuze am Inhaltsverzeichnis hinterlassen, innen steckt eine Libri-Titelkarte als Lesezeichen vor Ingeborg Bachmanns „Malina“. Wohmann war Amerika-affin in hohem Maße oder sie wollte so scheinen. Wer im Westen war seinerzeit nicht Amerika-affin? Von links bis rechts hatten alle ihre Lieblinge, niemand las Bulgaren oder Portugiesen. Weshalb das heutige Interesse für Ukrainer ja auch ein Gipfel an Heuchelei ist. Am 22. Juni 2005 hatten wir den Tag der Grenzüberquerungen: von Italien nach Österreich, von Österreich in die Schweiz, umgekehrt rückwärts und überall wollte niemand etwas von uns beiden.
21. Juni 2025
Es gibt Männer, da muss man deren Familiengeschichte inklusive ihrer Schatten kennen, um sie zu verstehen. Benjamin Netanjahu zum Beispiel. Bei uns könnte er als rechtmäßig verurteilter Bürger nicht einmal Schöffe im Kreisgericht sein, in Israel darf er fast alles, sogar die Drecksarbeit für uns tun, wie uns Bravbürgern bedeutet wird. Denn wir, will das nämlich heißen, haben keinen Bock auf Drecksarbeit. Andere dürfen wir um Gottes Willen nicht einmal versuchen zu verstehen, weil wir dann Versteher wären, was ein wirklich blöder Job ist. Sartre zum Beispiel, der heute natürlich nicht 120 Jahre alt geworden wäre, versuchte die Bürschinnen und Burschen in Stammheim zu verstehen, die sich dann umbrachten, von ihrer eigenen Unschuld überwältigt. Unsereiner freut sich alljährlich, wenn wieder ein Gedenkbuch, Gedenkfilm, ein Sonder-SPIEGEL über den deutschen Herbst in den Markt gepresst wird, der Westen liebt seine Traumata, der Osten hatte keine, nur Stasi, Stasi, Stasi.
20. Juni 2025
Justizministerin Hubig legt einen Gesetzentwurf vor, der so genannte Einschüchterungsklagen erschweren soll. Vor 30 Jahren hätte mich das vermutlich fast begeistert, denn ich war das Opfer einer so genannten Einschüchterungsklage und ließ mich einschüchtern. Ich verpflichtete mich, eine nachweislich wahre Behauptung nicht zu wiederholen, weil ich sonst sechsstellig belangt worden wäre. Mein Arbeitgeber hätte mich vermutlich eher fallen gelassen wie eine heiße Pellkartoffel als mir unter die Arme zu greifen. Immerhin ließe sich ein Feuilleton über Lerneffekte schreiben, ein vollständig anonymisiertes natürlich, die sich bei mir einstellten bezüglich Machtausübung unter westdeutschen Freiheitshütern. Nützen würde es letztlich keinem, denn die damaligen Kläger und ihre hochrossigen Kanzleien haben mehrfache Mutationen hinter sich und erkennen sich vermutlich selbst nicht mehr, wenn sie neugierig in ihre Rasierspiegel starren. Vor 80 Jahren starb Bruno Frank.
19. Juni 2025
Zehn Jahre ist es schon wieder her, dass James Salter starb. Fronleichnam kommt im Fernsehen. „Cliffhanger“ heißt das, was heute fertig wird, mein „Lob des Nachschlagens“ von gestern ist noch nicht beendet. Ich rede mir ein, dass es gut ist, sofort zu schreiben, wenn ich Anfänge im Kopf habe, das aber drängt alles andere beiseite. Der Juni könnte der erste Monat des Jahres werden, in dem ich meinen Leseplan nicht schaffe. Das Finanzamt vollbringt Wunder: keine vier Wochen nach der Einreichung der Unterlagen seitens meines Steuerbüros ist der Bescheid da. Natürlich muss ich bluten, mehr als eine Monatsrente entreißt mir das demokratische Staatswesen, es bleibt eine kleine Frist bis in den Juli, ehe das Amt mein Konto legal plündert. Warum habe ich seinerzeit keine Cum-Ex-Geschäfte getätigt? Wie lang ist es her, dass Claudia Nolte verkündete, dass 85 Prozent der Rentner keine Streuern werden zahlen müssen? Schon meine Mutter musste 10 Jahre nachzahlen.
18. Juni 2025
Mit „Stäubchen, Stäubchen“ bin ich zu Ende gekommen und legte gleich „Nebenwirkungen“ nach. Ich werde diese Sachen aufheben und erst einmal nicht öffentlich machen. Von Knobloch heute unter anderem „Rückblick auf Georg Hermann“. Der stapelt sich quer auf meinem runden Tisch, weil er in keinem Regal Platz findet. Dazu ein ansehnliches Ausdruck-Bündel aus „Das Literarische Echo“ und „Die Literatur“. Ich bin zu spät auf ihn gestoßen. Isabella Rossellini ist heute 73 Jahre alt, Paul McCartney 83, Jürgen Habermas 96. Utta Danella wäre 105 an diesem Mittwoch, das hat dann doch nicht geklappt. 2010 starb José Saramago, Literatur-Nobelpreis 1998. Aus dem Engadin ging es 2005 nach Reschen, das dem gleichnamigen Pass den Namen gab. Vorher noch der Ofen-Pass, der Umbrail-Pass und, der absolute Höhepunkt: Passo Stelvio, 2788 Meter hoch, ein Biker-Gewimmel und Bratwurst. Aus unserem Quartier ein phantastischer Blick auf die Ortler-Gruppe.
17. Juni 2025
Vor zwanzig Jahren besuchten wir den Albula-Pass, es gab das unvermeidliche Pass-Bild mit mir drauf und abends ein gutes Essen mit Saibling für mich. Wir tranken dazu je einen halben Liter Fendant im Hotel „Bettini“. Heute würden wir für alles den doppelten Preis zahlen. Ich las weiter in der „Schiller-Debatte 1905“. Am 17. Juni 1975 war der Versuch, mein allererstes Tagebuch wieder kontinuierlich zu führen, nachdem die NVA-Monate das generell verhindert hatten, endgültig gescheitert. Auch davor mehr Lücken, der 16. Juni letztmalig mit einigen Zeilen, die mir heute gar nichts sagen. In einer plötzlichen Anwandlung „Stäubchen, Stäubchen“ begonnen, dafür eigens eine neue Datei in einem neuen Ordner angelegt. Wenn Knobloch eine Anregung für mich hat, dann die, mir Themen und Gegenstände zu liefern. Diesmal die Schwesternschülerinnen, die putzen mussten. Ein Goethe-Wort: „Uns gefällt, was wir schreiben, wir würden es ja sonst nicht geschrieben haben.“
16. Juni 2025
Auf dem Bebel-Platz Berlin hat es 1933 gar keine Bücherverbrennung gegeben. Nicht die üblichen Leugner verleugnen das Ereignis, es gab damals gar keinen Bebel-Platz. Heute guckt man durch ein Glas nach unten und ich weiß seit Donnerstag, wo Heinz Knobloch auf der Treppe stand und seine Rede hielt. Ich kenne auch einige kleinere Geheimnisse der Tafel dort an der Wand. Wo heute die Juristische Fakultät fakultiert, war früher der Gewi-Lesesaal und irgendwo auch der Raum, da ich meinen Englisch-Kurs absolvierte bis Ende des vierten Semesters. „Stäubchen aufwirbeln“ heute nach fünf Ruhetagen wieder in Angriff genommen. Womöglich halte ich im kommenden Jahr einen Knobloch-Vortrag in Berlin. Ich erweitere schon mal vorsorglich meine Querschnitts-Dateien und will hineinsammeln, was anfällt. Klaus Lage wird heute 75 Jahre alt, ihm ist inzwischen deutlich mehr als tausendmal nichts passiert. Das gönnen wir ihm, selbst Diether Dehm verzeihen wir ihm.
15. Juni 2025
Von Amerika lernen heißt siegen lernen. Jetzt haben wir auch einen Nationalen Veteranen-Tag, Veterans Day heißt er dort und ist martialisch bis hypermartialisch. Unser neuer Wehrwille muss aus allen Richtungen bestärkt werden, wenn nun selbst die Grünen die Welt am liebsten im Panzer retten würden. Nur ich bin kein Veteran und alle meinesgleichen, denn wir haben keinen Eid auf die Grundgesetz genannte Verfassung abgelegt, auch wenn wir nicht „Erich befiehl, wir folgen Dir!“ brüllen mussten. Vermutlich hätten wir die heutigen Veteranen bei deren Einmarschversuch schlicht abgeknallt, so wie sie uns abgeknallt hätten getreu dem Bedarfs-Motto: Deutsche schießen nicht auf Deutsche, es sei denn, es muss unbedingt sein wegen der Freiheit oder ähnlicher immaterieller Güter höchster Ordnung. Für einige ist das heute auch das Dreieinigkeitsfest, ein Wanderfest, an den Sonntag nach Pfingsten gebunden. Der Heilige Geist ist eine Taube, wenn mich nichts täuscht.
14. Juni 2025
Spandau. Da waren wir schon, aber nur unter Hochdruck auf Toilettensuche. Jetzt alles in Ruhe, der Turm zuerst. Rundblick und dann im Keller die Attraktion der Attraktionen: Fledermäuse. Sie fledern hinter Glas umher und hängen herum. Ob sie uns auch betrachten, während sie mit ihren Ohren wackeln, steht dahin. Zu Hause sehen wir zu späterer Stunde bisweilen auch welche flattern. Und wir wissen von Dosdorf, wo es Fledermaus-Tage gibt. Vor 20 Jahren sahen wir in Sils Maria das Nietzsche-Haus als die ersten Gäste des Tages, nach uns kamen drei Japaner. Wir hatten nasse Füße vom heftigen Regen. Hier heute bestes Wetter, ich trank von meinen Ambrosetti-Bieren, von denen einige morgen mit nach Hause fahren, Gesamtbeute 27 Sorten. Auch heute wieder Schritte en masse, es kommen 45.000 zusammen für diese drei Tage. Das Geburtstagsessen auf dem Balkon mehr als reichlich. Und ein Blick auf eine nackte Dach-Terrassen-Dame. Hin und her schreitet sie.
13. Juni 2025
Berlin für meine Füße: 17362 Schritte, gestern nur 11667. Heute der Jüdische Friedhof an der Schönhauser Allee, später noch Pankow, das ehemalige Wohnhaus Knoblochs, der Gedenkstein für ihn. Wenn Brunnen, auch Brünnlein, ihr Wasser nach oben sprudeln lassen, ist es Trinkwasser. Das weiß ich seit gestern und es hat auch eine gewisse Logik. Sonst die üblichen Schilder: Kein Trinkwasser. Es gibt Weltgegenden, da würde das die Wasserträgerinnen wenig stören, Hauptsache Wasser. Aber wir sind privilegiert. Auf dem Friedhof ist es trotz Plan recht schwierig, ein Grab zu finden, denn die Areale des Planes geben keinerlei reale Markierungen wieder. Wir finden Max Liebermann, Giacomo Meyerbeer und am Ende sogar noch den Professor Richard M. Meyer, von dem ich eine zweibändige Literaturgeschichte besitze. In der Kulturbrauerei eine Sonderausstellung zu Heavy Metal in der DDR, darin ein Plakat von der Ehrenburg in Langewiesen, schon D-Mark.
12. Juni 2025
Zernez war unser zehnter Schweiz-Urlaub nach zuvor zwei Kurzaufenthalten ohne Übernachtung. Heute sind wir uns nicht einmal ganz sicher, ob es der dritte oder der vierte Aufenthalt in diesem Hotel mit der Dachterrasse ist. Gut gelegen jedenfalls und in seltsamem Wechsel mal teurer, mal billiger als unser anderes Domizil Spielhagen-Straße. Helmut Mehnert steht unten fünf Minuten vor der Zeit, ich bin mit 24-Stunden-Karte ausgestattet und also für sämtliche Aus-, Ein- und Umstiege gewappnet. Das nutzen wir dann so oft, dass ich beinahe wirre werde. Die Heinz-Knobloch-Runde zu Fuß, mit Bus, mit Straßenbahn und S-Bahn beginnt am Mathilde-Jacob-Platz und endet in der Kommode, bei Kaffee und Kuchen. Unterwegs der Weg vom Sie zum Du, ich bin schwer bereichert mit Wissen über Knobloch im Berliner Westen und freue mich, dass es solche Menschen gibt wie diesen autodidaktischen Experten. Die anderen Experten sehen wir beide lieber von fern als nah.
11. Juni 2025
Dies ist der Tag zwischen den Reisen. Im Buch „Stäubchen aufwirbeln“ lese ich hinten, was der große Vorteil solcher Bücher ist: man kann sie überall beginnen, überall beenden. Ich folge Knobloch auf seinen zweiten Rundgängen, die gar nicht immer welche sind. In drei Büchern sind solche enthalten, wohl nach dem Motto: Nicht alles auf einmal aufessen. Vor zwanzig Jahren, um auch wieder einmal nach hinten zu schweifen, fuhr ich 609,1 Kilometer von der Tankstelle in Ilmenau bis nach Zernez im Engadin/Graubünden. Damals verglichen wir noch die Angebote der Routenplaner vor der Abfahrt und hatten 80 Kilometer B 19 von Meiningen bis Kreuz Werneck, das zog sich hin. In unserem Studio vermissten wir lediglich eine Backröhre für die mitgebrachten halbfertigen Brötchen. Heute ist der Nationale Tag des Deutschen Schokoladenkuchens sowie der Nationale Maiskolbentag. Mit meiner Verabredung morgen geht alles klar. Ich bin sehr gespannt.