Tagebuch

8. Juni 2024

Nachtrag: Mit Wolfgang Kohlhaase beende ich die Anthologie, er hatte meine Aufmerksamkeit zuletzt, als er am 5. Oktober 2022 mit 91 Jahren starb und überall gewürdigt wurde. Eben noch rechtzeitig erreiche ich die „LiteraturEtage“ in Weimar, wo vor der Jahresversammlung der Literarischen Gesellschaft Thüringen Wolfgang Haak Gedichte las, nachdem ihn André Schinkel in spätbarocker Ausführlichkeit vorgestellt hatte. Hinter mir saß Jens-Fietje Dwars, der immer noch tapfer den „Palmbaum“ macht und versprach, sich um mein vom Verlag seit 2020 vernachlässigtes Abonnement zu kümmern. Ich lerne nebenbei: von der DDR ablenken kann man nicht nur, indem man die Beschäftigung mit ihr für hin- und ausreichend erklärt. Man kann auch vorschlagen, andere Länder des ehemaligen Ostblocks in eine Gesamtbetrachtung einzubeziehen, das klingt besser und hat ähnlichen Effekt. Obwohl ich denke: Bulgarien und Armenien waren doch anders als die DDR.

7. Juni 2024

Nachtrag: Läse ich nicht Hunderte von Theaterkritiken seit Jahren, wäre mir Emil Pohl kaum jemals untergekommen vermutlich, so aber weiß ich: der Mann war Bühnenautor. Einer von jenen, die die Bühne kannten als Schauspieler und als Theaterdirektor. Deren Stücke gehen selten für immer in die Theatergeschichte ein, erfolgreich sind sie aber oft. Am 7. Juni 1824 erblickte er im späteren Kaliningrad das Licht der ostpreußischen Welt, am 18. August 1901 starb er in Bad Ems. In „Das schönste Buch der Welt. Wie ich lesen lernte“ heute Helmut Baierl und Bernhard Seeger. Das ist ein Segen solcher alten Anthologien, dass sie mich an Autoren zwingen, denen ich sonst wohl keinerlei Aufmerksamkeit widmen würde. Ich will nicht sagen: schenken würde. Aufmerksamkeit liegt bei mir in keinem Präsentkorb. Bei Baierl begegnet mir erstmals der Name Waldhauserin. Das war die dichtende Dame Anna Waldhauser (1860 – 1946), deren Mundartverse Mutter Baierl gern vortrug.

6. Juni 2024

Nachtrag: Ich weiß eine Ingrid, die heute 72 wird und von mir vor schätzungsweise 63 bis 65 Jahren eine winzige Kette geschenkt bekam, weil ich Knäblein in sie verliebt war. 50 und mehr Jahre später sprach ich mit ihr erstmals seit damals und es war ein nettes Gespräch. Dass Puschkin heute zu seinem 225. Geburtstag nicht mit einem Allunionsfest geehrt wird, wie es der sterbliche Highspeed-IM Uwe Berger in seinem Irrwitz-Tagebuch „Arbeitstage“ einst beschrieb, verwundert kaum, denn die Union (der sozialistischen Sowjetrepubliken), die angeblich Puschkins Träume in die Tat umsetzte, ist in die ewigen Jagdgründe der Historie entwichen. Gäbe es keinen Putin, wüsste die völlig freie Welt gar nicht, wohin mit all ihrem mutierten Antisowjetismus. Hätte er die Ukraine nicht überfallen, wären all die vielen Ukrainerinnen und -außen weiter so unbekannt wie früher, so aber wissen wir von ihnen und heucheln Interesse so gekonnt, dass wir es selbst gar nicht merken.

5. Juni 2024

Nachtrag: Jeden Morgen liegt auf dem Frühstückstisch die Morgenpost des Hotels mit Tipps und einer Tagesempfehlung: für Montag war es Seßlach, für Dienstag die Burgruine Straufhain und heute Schloss Rosenau. Das lockte uns natürlich, denn dort wurde jener sagenhafte Mann geboren, den Queen Victoria so über alles liebte, dass sie nach seinem frühen Tod nur noch in Schwarz ging vierzig Jahre lang und dem Schwanenteich im Schlosspark schwarze Schwäne stiftete. Zwei späte Nachfolger dieser schönen Tiere sahen wir, die Führung durchs Schloss erleben wir mit einem Paar vom Niederrhein und zwei Britinnen, die Wert darauf legten, aus Wales zu kommen. Bis 1972 wurde das Schloss als Altenheim genutzt, jetzt ist es sorgsam restauriert und der Öffentlichkeit zugänglich. Für die Therme blieb Zeit anschließend, wir erlebten den zweiten Ida-Schleicher-Aufguss, ohne sie gäbe es die Therme gar nicht, sie ist am 7. Juni 1900 geboren und starb 1978.

4. Juni 2024

Nachtrag: Yoko heißt die wunderbarste Fachkraft, die einen hiesigen Mangel ausgleicht, die wir je kennenlernten. Sie ist Japanerin, ruderte folglich nicht übers Mittelmeer oder schlich über die bulgarische Grenze, gelernte Masseuse, die nicht nur ihre Arbeit hervorragend macht. Sie ist auch freundlich, kommunikativ und sitzt nach vollbrachter Tagesarbeit gemeinsam mit uns in der Sauna, wenn Aufguss ist. Was die einheimischen Fachkräfte ungemein selten tun. Nachdem wir Sonntag und Montag im Thermenrestaurant essen mussten, weil unser Hotelrestaurant Schließtage hatte, ist heute wieder der Normalfall, drei Gänge natürlich auch. Schön immer noch die Einrichtung des „Bierhakens“, den man an seine Zimmertür hängt, wenn man den Zimmerservice abwählen möchte. Der wird mit einem kleinen 03er Bier belohnt, wahlweise geht auch ein anderes Getränk. Endlich beende ich „Jede Sorte von Glück“, Brigitte Reimanns Briefe an ihre Eltern, runde 450 Seiten stark.

3. Juni 2024

Nachtrag: Vor 100 Jahren starb Franz Kafka und weil alle damit befasst sind, halte ich mich erst einmal zurück. Mein Programm ist heute ohnehin ein völlig anderes, ich halte es mit den gestern erwähnten Drohnen: faulenze, greife nicht einmal mich selbst an, weil im Programm eine siebzig Minuten lange Massage enthalten ist. Aber erst morgen. Heute nach dem Frühstück die Therme. Gestern sahen wir noch die Reste des Stadtfestes, das Heimatmuseum auch. Ich kaufte eine uralte Broschüre zum freundlichen Preis von fünf Euro, Titel „200 Jahre Friedrich Rückert“ aus der Reihe „Schriften des Rodacher Rückert-Kreises“, drin ein Beitrag meiner lieben alten Kollegin Margarete Braungart, die ich oft in Meiningen im Schriftstellerverband des Bezirkes Suhl traf. Es gibt einen nach ihr benannten Literatur-Preis seit einigen Jahren, Preisträger sind mir dennoch keine bekannt. Dass an Kafkas Todestag Günther Rühle geboren wurde, sagt mein unerschöpflicher Datenkalender.

 

2. Juni 2024

Eigentlich sollte es heute nach Zakopane gehen, fünf Übernachtungen, ein schönes und vor allem für uns völlig neues Programm. Zu wenig Interessenten aber, also Absage der Reise, Rückzahlung des bereits überwiesenen Geldes. Angebotene Alternativen wiesen zu viel Bekanntes aus, sodass wir kurzfristig auf vollkommen Bekanntes umschalteten, weswegen hier ein paar Tage Schweigen walten werden. Solide deutsche Überschwemmungen haben ein enormes Nachrichtenpotential, wie wir sehen durften, Kriege und sonstige auswärtige Katastrophen mussten sich hinten anstellen. Die lieben Ukrainer dürfen nun endgültig tun, was sie die ganze Zeit schon wollten. Das kenne ich noch aus der NVA-Philosophie: wir hätten den Gegner auf seinem eigenen Territorium vernichtet, ehe er dazu gekommen wäre, uns überhaupt ordentlich zu überfallen. Die Zeiten ändern sich, Drohnen hatten wir nur in unseren Bienenvölkern, sie waren faul, verriet einst mein Lieblingskinderbuch.

1. Juni 2024

Fast 46 Jahre ist es her, dass ich nach Lektüre dreier Werke von Helmut Sakowski in Berlin und in Pennewitz 26 Seiten in meine gute alte Schreibmaschine hämmerte, die nun als Typoskript einer späten Verwendung harren. Davor sah ich natürlich „Wege übers Land“, natürlich auch „Daniel Druskat“. In den Briefen und Tagebuchaufzeichnungen der Brigitte Reimann lief mir der bekannte Name später immer wieder über den Weg. Sie schrieb ihn gern mit zwei l: Hellmut. Und einmal nannte sie auch Sohn Frank Sakowski, der in meinem „Kulturschock NVA“ eine Rolle spielt. Heute nun ist der 100. Geburtstag. Von den erstaunlich vielen Büchern, die nach 1990 noch entstanden, besitze ich keins, dafür „Die Entscheidung der Lene Mattke“ gleich mehrfach. An Sakowskis 30. Geburtstag 1954 starb in Dresden Martin Andersen Nexö, der Däne, von dem sechs Bücher zu den Beständen meiner Eltern gehörten, fünf weitere, keine Dublette dabei, noch heute bei mir stehen. 

31. Mai 2024

Noch ist das Unwetter nicht über uns gekommen. Vielleicht sollte man seinesgleichen immer sehr intensiv ankündigen, damit es nicht kommt. Vielleicht ist es wie mit dem Schirm, wenn ich ihn mit mir führe: dann regnet es nie. Ohne Schirm aber werde ich sogar nass, wenn ich nur einige Pfund Prospekte in die Papiertonne werfen gehe. Noch immer klebe ich an Sakowski, das zweite Hörspiel heute von ihm: „Die letzte Hochzeit“. Erinnerung an ganz frühe Jahre: täglich Hörspiel. Später die Missbilligung meines Teilzeitfreundes Biskupek, dass ich dem Rundfunk mein Ohr nicht schenke und damit auch sein Schaffen nicht wahrnehme. Nicht einmal meinen eigenen O-Ton hörte ich, den er mir abnahm auf sein Band. Irgendwas mit Residenzstädten war es, ich sprach darüber, dass in Ilmenau nie jemand residierte. Weil morgen auch der 100. Geburtstag von Viktor Astafjew ist, den ich ignorieren muss, obwohl ich eine Roman-Zeitung von ihm besitze, verrate ich das heute schon.

30. Mai 2024

Weltuntergang ist heute nicht, dafür aber der Geburtstag von Franz Held. Das wiederum wäre nicht erwähnenswert, weil heute weder rund noch eckig. Da der Zufall will, dass ich eben eine kleine Erinnerung von Wieland Herzfelde las, der wiederum bekannte, die anlässlich des 50. Geburtstages von Held 1912 erschienene Ausgabe „Ausgewählte Werke“ hätte ihn recht eigentlich zur Literatur geführt, sehe ich nach: Franz Held hieß Franz Herzfeld, war der Vater von John Heartfield und Wieland Herzfelde. Er verließ mit seiner Frau, der Mutter, im Sommer 1899 seine vier Kinder, die beiden genannten darunter und ward nie wieder gesehen. 1912 war er schon vier Jahre tot. Und ich lobe den Zufall, der mich ausgerechnet am 162. Geburtstag des Rabenvaters auf diese Geschichte führte. Währenddessen will wieder einer einen Arzttermin bei mir haben, wieder einer will mir eine kostenlose Beratung für eine tolle Photovoltaikanlage angedeihen lassen. Nieder mit dem Festnetz!

29. Mai 2024

Vor 100 Jahren starb Albert Köster, was in meinem Kalender nur deswegen gelandet ist, weil ich von ihm ein Büchlein „Klopstock und die Schweiz“ las vor knapp einem Jahr. Köster war in Berlin Nachfolger von Erich Schmidt, bei dem wiederum Arthur Eloesser Vorlesungen gehört hatte. Den 150. Geburtstag von Gilbert Keith Chesterton lasse ich mir nur sehr ungern entgehen, es geht aber nicht anders. Immerhin zitiere ich dies von ihm: „Die meisten Leute sagen entweder, dass sie mit Bernhard Shaw einer Meinung seien, oder dass sie ihn nicht verstehen. Ich bin der einzige Mensch, der ihn versteht, und nicht seiner Meinung ist.“ Ein Shaw-Buch mit diesem Vorwort muss man ganz einfach lesen und ich werde es tun, sobald die Zeit Luft dafür lässt. Optiker-Termin heute mit dem Auftrag für eine neue Brille endend. Dazu benötige ich jedoch ein Rezept, damit die Krankenkasse zuzahlen kann. Das wird morgen den Vormittag kaputt hacken, muss aber sein des Geldes wegen.

28. Mai 2024

Drei Soldatenfriedhöfe, zwei Gedenkfeiern an einem Tag, eine ergreifend, eine wegen seltsamer Störeffekte gar nicht. Seltsame Gedenkkultur. Man kann sich eine kleine Kirche kaufen, an der ein kleiner Fallschirmspringer hängt: wie an der wirklichen Kirche, wo der Amerikaner hängen blieb, jetzt durch eine Attrappe ersetzt. Das vor zwanzig Jahren. Überall schon Vorbereitungen für die große D-Day-Feier. Auf einem der Friedhöfe viele Engländer mit dem Todesdatum 6. Juni 1944. Es war ein fürchterliches Gemetzel damals. Ein deutscher MG-Schütze sagte einmal in einer Fernseh-Dokumentation: er habe wohl an die 3000 Angreifer erschossen, erledigt, ich weiß seine Wortwahl nicht mehr. Meine Fotos von damals sind zwar noch in einem Album gelandet, aber nicht mehr datiert und beschriftet. Heute weiter Sakowski, weiter Brigitte Reimann. Mit dem zweiten Band der Tagebücher komme ich morgen zum Ende, werde mir dann den Rest der Eltern-Briefe vornehmen.


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