Tagebuch

11. Mai 2025

Nachtrag Antwerpen. Kurzreisen sind, wie ihr Name sagt, kurz. Also heute mit Brügge schon der Abschlusstag vor der Heimreise. Ärger und Zeitverlust, denn in Brügge findet ein Volkslauf mit 10.000 Teilnehmern statt, alles ist abgesperrt. Hundert Meter vom Busparkplatz weg darf unser Bus nicht abbiegen. Stress, die beiden Stadtführer zu finden. Dann im Gedränge gegen die Laufrichtung. Ich war mehrfach mit dem Auto allein in Brügge, sammelte Biere in den Kofferraum. Heute der Bottle Shop mit dem größten Angebot nur ungenutzter Sehnsuchtsort. Ein bulgarischer Bus bringt Kopftuch-Frauen verschiedener Altersgruppen mit wenigen Männern zur Zwischenübernachtung. Im Foyer verteilt einer der Männer spät Lunch-Pakete an die Damen. Auch am dritten Abend wieder jede Getränkerechnung anders als die vorige. Ein Prinzip ist nicht erkennbar, falls es nicht einfach nur willkürlicher Trinkgeldgewinn ohne Ansage ist. Immerhin: es bleibt so keine Schlussrechnung.

10. Mai 2025

Nachtrag Antwerpen. Wir sind auf für uns ungewohntem Weg nach Antwerpen gelangt. 6:30 Uhr ab Ilmenau, 12:47 über die niederländische Grenze, 14:12 über die belgische. Den Stadtrundgang gab es vor dem Einchecken im Hotel „Tulip Inn“, wo uns Zimmer 237 erwartete mit minimalistischer Ausstattung. Die Handtücher müssen täglich getauscht werden, weil es weder die Möglichkeit, sie aufzuhängen noch gar die, sie zu trocknen gibt. Erster und bis heute letzter Besuch in Antwerpen war am 14. April 1995, also vor 30 Jahren. Das Denkmal „Arbeid Vrijheid“ ist offenbar versetzt worden. Der „Steen“ wirkte damals wuchtiger. Heute nach Brüssel und Gent. Zwischen 1994 und 2004 war ich achtmal für drei Tage in Brüssel, nun ist das lange her. Dafür am Atomium so viel Sonne wie selten. Das „Manneken Pis“ bekleidet. In Gent wieder nicht den Altar gesehen, man muss nicht nur extra zahlen, sondern braucht eine Reservierung, wenn man nicht endlos stehen will.

9. Mai 2025

Wer in Emissionen das Hauptproblem von Kreuzfahrtschiffen sieht, war nie nach Ankunft solch schwimmfähiger Monster in Florenz. Dann fluten schlimmenfalls zweimal hundert Busse mit jeweils 50 Insassen, also zehntausend Pseudogästen, die Stadt. Die rammen sich gegenseitig die Ellenbogen in die gelangweilten Fressen, um wenigsten ein Handy-Foto mit Köpfen drauf zu ergattern für die Lieben zu Hause, die der WhatsApp-Gruppe angehören. Die Taschendiebe sind völlig ratlos, es ist zu eng, um den Greifarm in eine andere als die eben eingenommene Lage zu bringen. Wir rollen jetzt mit einem gewöhnlichen Diesel-Bus nach Flandern, lassen Leopold Andrians 150. Geburtstag nach Bedarf links oder rechts liegen. Schiller wäre heute 220 Jahre alt, was nicht einmal den Uralten in Sardinien gelingt, die allerdings auch niemals an fauligen Äpfeln schnüffelten, ehe sie mit ihren Ziegen in die Berge zogen. Wir schweigen derweil hier ein wenig.

8. Mai 2025

Einsparungen, las ich, gefährden den demokratischen Diskursraum der freien Szene. Davon verstehe ich nur Einsparungen. Was aber ist ein Diskursraum? Ist das eine in vier Lofts und neun Ateliers umgewerkelte Ex-Fabrik mit Bröckel-Charme für mitternächtliche Kultur-Magazine? Wo man sich alimentieren lässt, weil man zweimal in der Woche mit inklusiv Kleinwüchsigen aus den Maghreb-Staaten „Der Bräutigam von Messina“ einstudiert, völlig frei nach Schillers Cousine? Da braucht man natürlich Kleinbusse für den An- und Abtransport, die Stromkosten lassen sich auch nicht erwirtschaften aus der Versteigerung leerer Farbeimer, die man eben noch in aller Fülle für Action-Painting an die unverputzten Mauern der einstigen Maschinenhalle schleuderte. Schwere Zeiten für alle, die den Staat Scheiße finden, nicht aber sein Geld? 80 Jahre nach Kriegsende, wo alle getrennt den gemeinsamen Sieg feiern. Habemus Papam: Wir haben XIV. Leo, aus den USA.

7. Mai 2025

Wenn uns unsere Feinde loben, haben wir etwas falsch gemacht. Betroffene Hunde bellen, heute halt auch Hündinnen. Aus welchen Spruchbeuteln das stammt, die fast ausgestorbene Generation Allgemeinwissen könnte es ahnen, ist nicht wichtig. Oder wie wir heute sagen sollen: nicht wirklich wichtig. „der freitag“ erscheint nicht wie sonst am Donnerstag in meinem Briefkasten, sondern am Mittwoch, also heute, und sogar mit dem Datum von heute. Das Blatt weint eine Seite voll über die Personalie Wolfram Weimer, eine Seite voll über die Personalie Stefan Kornelius, eine dritte Seite voll über die Linke, die ihren Überraschungserfolg mit Weißzahn-Zeigerin Heidi Reichinnek nicht den Wünschen der Redaktion gemäß ausnutzt. Dann weint Frank Jöricke zwei Drittel einer Seite voll darüber, dass die guten alten Medialdreckbatzen Rolf Dieter Brinkmann und Wiglaf Droste von öden Beißhemmungsträgern abgelöst wurden. Und das alles am 104. Geburtstag meines Vaters.

6. Mai 2025

Gut, dass ich gestern nichts mehr über das Verschwinden von Nancy und Saskia habe verlauten lassen. Heute sind sie alle wieder da. Grinse-Olaf schüttelt Hände im Bundestag, nachdem sein Zapfen schon gestrichen wurde. Mindestens 18 Mitglieder der Koalitions-Fraktionen haben ihre jämmerliche private Befindlichkeit über das Wohl des Landes gestellt. Von Verantwortung für das Land verspüren sie nicht mehr als ein Wachkoma-Patient beim Anblick eines erigierten Pferde-Penis. Die AfD darf kommen nach der drohenden Neuwahl. Agnes Smedley wäre mir mit ihrem 75. Todestages kaum in den Terminkalender gerutscht, wäre ich nicht mit ihren Büchern aufgewachsen: „China kämpft“ und „China blutet“. Heute freuen sich nur hartgesottene Trump-Gegner, wenn China kämpft. Wenn China blutet, reiben sich unverantwortlich viele ihre ungewaschenen Pfoten, weil sie glauben, das würde irgendwas verhindern, wovor sie Angst haben. Man ahnt es und kotzt.

5. Mai 2025

Mitten im allgemeinen Demokratie-Rettungs-Geschwafel lese ich von Deutungshoheiten und den Kämpfen um sie. Wer kämpft da eigentlich gegen wen um was? Sind Deutungen etwas, um das  Platz-Hirsch:innen oder Platz-Hirsch*innen ihre viral gehenden virtuellen Geweihe gegeneinander knallen lassen? Marx, der heute Geburtstag hat, was ihm längst nichts mehr bedeutet, war eine überschätzte Theorie-Lusche, denn er laberte über den Arbeiter, also den Mann. Über die Frau, die den ohne Beute heimkehrenden Jäger als Samensammlerin mit veganer Suppe am Leben erhalten musste, wenig brauchbare Basis-Thesen von ihm. Marx war übrigens, zwinkert man sich mit etwas trockenem Lambrusco in der Hand am Stehtisch zu, wenn man wieder mal eine Finnisage nicht rechtzeitig absagen konnte, kein Marxist. Einige sind tatsächlich immer noch überrascht, wenn sie das hören. Andere haben es immer geahnt. Georg Stefan Troller lebt immer noch, Wahnsinn pur.

4. Mai 2025

Folgt man dem gehobenen Feuilleton, das ebenerdige ist weitgehend ausgestorben oder Synergie-Effekten in Zeitungsgruppen zum Opfer gefallen, dann erscheinen reihenweise fulminante Romane in unseren Breiten, weshalb es gut ist, wie eine Feuilletonistin schrieb, Serien wie „Yellowstone“ mit ihren mehreren Staffeln lieber nicht zu schauen, weil man sonst keine Romane mehr lesen kann. Ich schaue tapfer und begeistert „Yellowstone“, Romane lese ich auch ohne Kevin Costner selten, aber mehr als 70 Bücher im Jahr schaffe ich dennoch. Man muss nur wollen. Ob Saskia Esken, die sich ihre Klugheit mit großem Geschick nie anmerken lässt, am Ende doch noch Ministerin unter einem Praktikanten wird, werde ich morgen erfahren, heißt es. Wirklich kluge Köpfe, die es sich auch anmerken lassen, haben Modevokabular wie toxisch und Narrativ bereits in den Orkus zu verbannen versucht, die unbelehrbare Intelligentsia jedoch sülzt mehrheitlich unverdrossen weiter.

3. Mai 2025

Wen ich gestern vergaß: Otto Stoessl (2. Mai 1875 – 15. September 1936). Ich vergaß ihn, obwohl direkt vor meiner Nase unterm Bildschirm sein kleines Buch „Conrad Ferdinand Meyer“ liegt, am 17. Januar zu Ende gelesen mit Blick auf das Meyer-Jubiläum und eben aufs Stoessl-Jubiläum (150. Geburtstag). Ich sammelte allerhand Stoessl-Material auf diesen Tag hin und am Ende: Doch nix mit Otto. Heute nun ist der Internationale Tag der Pressefreiheit, an dem wir alle erfahren, dass Deutschland nur noch auf Rang 11 des Rankings liegt. Ich erfuhr in den frühen 90er Jahren, dass man in einer deutschen Tageszeitung nicht die Hausbank des Mutter-Vereins in negativem Licht erscheinen lässt. Wenig später, anderes Blatt, andere Freiheit, erfuhr ich, dass man über inliegende Werbung in einer deutschen Provinzzeitung nichts Negatives verlauten lässt, weil das Blatt nach dem Wegfall der Anzeigen davon leben muss. Am Abend Abkühlung mit etwas Mai-Schnee, huch.

2. Mai 2025

Die Nationalversammlung zu Weimar beschloss am 15. April 1919, den 1. Mai zum Feiertag zu machen. Das lässt sich, ohne der Wahrheit die Unehre zu geben, in den Nachrichten verkünden, die uns Thüringern speziell zubereitet werden. Der Beschluss galt allerdings nur für 1919, da hört im Thüringen-Journal die Wahrheit schon wieder auf, ab 1920 war die Feiertagsregelung Ländersache. Erst ein gewisser Österreicher, dessen Geburtsort passend nicht Rottau, sondern Braunau hieß, ließ aus dem 1. Mai einen gesamtdeutschen Feiertag werden, was er bis heute noch ist. Immerhin gab es gestern erstmals seit Urzeiten keine exzessive Randale in Berlin, wo die Revolution bisher stets 364 Tage schlief, ehe sie aus ihren Kreuzberger Grüften stieg. Ob Angela Krauß ihren 75. Geburtstag heute feiert, weiß ich nicht. Meine drei Bücher von ihr heißen „Das Vergnügen“, „Glashaus“ und „Die Gesamtliebe und die Einzelliebe“. Ein Dutzend Preise hat sie seit 1986 bereits eingesammelt.

1. Mai 2025

Am 1. Mai 1899 veröffentlichte „Das litterarische Echo. Halbmonatsschrift für Litteraturfreunde“ eine Theaterkritik von Leo Berg, den heute natürlich keiner mehr kennt. Dafür kennen das Stück, das er sah, inzwischen sehr viele: „Amphitryon“ von Heinrich von Kleist. Als ich 2011 Renatus Scheibe in Meiningen als Diener Sosias sah, ward ich Scheibe-Fan. Damals war „Amphitryon“ für den Kritiker „ein ziemlich vergessenes, fast niemals recht gewürdigtes Lustspiel unseres herrlichen Heinrich von Kleist“. Inzwischen ist allein über das Alkmene-Ach am Ende mehr geschrieben worden als über alle ganzen Sätze Kleists (gefühlt natürlich, liebe Kleist-Professoren, gefühlt). Unsereiner meidet heute den Kampf- und Feiertag, verzichtet auf parteipolitisch neutrale Würste vom Rost, denn es gilt Leo und Bobby, der erste nicht Papst, der zweite nicht Graf, im Auge zu behalten, es sind die Lieblingskater unserer Familie, die sich bei Bedarf huldvoll kraulen lassen.

30. April 2025

Seit ich Ende Februar in die WhatsApp-Gruppe der Schulfreunde aufgenommen wurde, gibt es die regelmäßigen Voll-Alarm-Tage. Vier Minuten ist der Tag alt, da summt erstmals das Armband: es gratuliert Peter dem Volkmar. Ich bin drei Minuten später der zweite. Dann tritt Nachtruhe ein, ehe 7.33 Uhr beginnend das Massengratulieren einsetzt: Karin, Margit, Christine, Betina, Reinhard, Birgit, Christel, Regina, Angelika, Tatjana, Martina, Helga, Bernd, Brigitte, Johanna, Marlies. Ein Panoptikum der Vornamen aus grauen Vorzeiten. Wir heißen aber so und zwar bis zum hoffentlich noch halbwegs fernen Ende unserer Tage. Enkel haben wir alle, Urenkel sind auch schon einige auf Erden. Die liebe Rentenkasse gönnt uns allen heute die mehr oder minder große Ausschüttung. Und diese wohlverdiente Rente wird im Sommer um 3,74 Prozent erhöht, bei kleinen Renten wie meiner macht das 52,39 Euro im Monat aus, worüber sich das Finanzamt schon freut: neue Steuern fällig.


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