Tagebuch

7. Januar 2024

Wahnsinn: Es ist mir gelungen, tatsächlich die große Tagebuch-Lücke nach unserer Abreise gen Franzensbad zu füllen. Allein 32 Einträge stellte ich heute ins Netz, 26 davon mit dem Hinweis Nachtrag, für zwei sind mir schon Fehler signalisiert worden, die ich bei nächster Gelegenheit korrigieren werde. Es liegt etwas Schnee heute, die scharfe unangenehme Luft macht mir mehr Probleme, als mir lieb ist, unser Abendspaziergang fällt deshalb kürzer aus als sonst. Als erstes zu Ende gelesenes Buch des neuen Jahres trage ich „Maxim Gorki“ ins Register ein, Ende März des Vorjahres begonnen, dann liegengelassen. Es ist ein merkwürdiges Buch von Hans Ostwald, auf das ich nie gestoßen wäre, hätte nicht Arthur Eloesser Ostwald einmal besprochen. Jetzt erst sehe ich, dass die alten Übersetzungen, die er in seinem Literaturverzeichnis anführt, von 1901 bis 1903, für die große 24-bändige DDR-Gorki-Ausgabe ausgiebig genutzt wurden. Ich beachtete das früher nie.

6. Januar 2024

Plötzlich und unerwartet, für uns alle voll normal, werden die 1964 Geborenen in diesem Jahr 60 Jahre alt. Einige haben es schon hinter sich und dürfen aufatmen, viele müssen bis September warten, in dem die drei Tage liegen, an denen die meisten Menschen geboren werden. Warum sollte es den 1964 Geborenen besser gehen als den 1954 Geborenen, die sogar schon 70 werden, wir reden nicht von denen, die 1944 das Licht der Bombenkeller erblickten: die werden 80, darunter sind etliche, die früher statistisch längst tot gewesen wären. Babyboomer nennt es der Westsprech, der bekanntlich auch von „zwischen den Jahren“ faselt, als ob da etwas wäre. Westväter kannten seinerzeit einfach noch nicht den Marschbefehl von Otto Waalkes in Travemünde vorm Spielcasino: Absteigen! Und die Westmütter durften nicht verhüten, wenn der Papst nicht sein OK gegeben hatte. Heute vor sehr vielen Jahren waren drei allein reisende unbegleitete Könige unterwegs.

5. Januar 2024

„Wir sollen das arge Zuckerbrot, das jeder Erfahrungstag unserem historischen Pessimismus anbietet, nicht gierig schlingen, weil unser romantischer Instinkt heimlich an diesem Pessimismus hängt und ihn nicht lassen will.“ Schrieb Thomas Mann vor reichlich 100 Jahren am Ende seines vierten „Briefes aus Deutschland“. Es klingt mir, weil ich es noch vor dem Frühstück las, als wäre es das Wort zur Woche. Der Ungar László Krasznahorkai wird heute 70 Jahre alt, mein Archiv enthält eine stattliche Reihe von Artikeln über ihn, ausgeschnitten und ausgedruckt. Von seinen Büchern dagegen steht keines bei mir, er versteckt sich in Anthologien. Vor 20 Jahren, 5. Januar 2004, fuhr ich gesundheitlich arg angeschlagen via Belgien nach Kempense Meren, im Tank noch Benzin aus Österreich vom Achensee und brauchte allerhand zusätzliche Kilometer, weil ich einer falschen Anfahrtsbeschreibung im Prospekt folgte. Ich bezog den Bungalow 204 nah am Parkrand.

4. Januar 2024

Auch wenn unser volkstümlichster und am leichtesten lesbarer Erzphilosoph Immanuel Kant erst am 22. April im Kreise seiner Diener seinen 300. Geburtstag feiert: unsere Großmedien feiern vor. Meiner Mutter galt das als ganz schlechtes Zeichen, aber das waren eben noch Ansichten von früher. Die ZEIT hat heute den Immanuel mit Taube, die wir als Friedenstaube deuten dürfen, auf dem Titel und innen füllt er drei Seiten des Fülletongs. Am schönsten aber finde ich die Idee des Zeit-Reisen-Teams, spezialisiert auf schweineteure Touren für gehobene Kreise: man kann zwei Monate nach dem Großjubiläum selbiges im Nachbarland Litauen feiern. Man könnte in ähnlicher Weise eine Mao-Tse-Tung-Tour durch Japan organisieren oder eine Rousseau-Tour durch den Süden Englands. Alles hängt natürlich mit dem Unort zusammen, an dem Immanuel das Licht der Preußenwelt erblickte: Königsberg, die von Stalin an Putin vererbte Exklave des Reichs des Bösen.

3. Januar 2024

Dass zu Ehren eines Dichters ein Kolloquium veranstaltet wird, ist nicht ungewöhnlich, mehr noch, wenn sein 75. Geburtstag zu feiern ist. Ungewöhnlich nur, wenn der Dichter zu diesem Zeitpunkt bereits 50 Jahre tot ist wie Jiři Wolker. Er starb am 3. Januar 1924 in Prostějov in Nordmähren, seinem Geburtsort, wo auch Edmund Husserl zur Welt kam. Das Wolker-Kolloquium fand in Prag statt, am 20./21. Februar 1974. Einen Konferenz-Bericht durften Leser der „Weimarer Beiträge“ im Märzheft 1975 zur Kenntnis nehmen. 1971 veröffentlichte Reclam Leipzig eine Werkauswahl „Ich wachse wie der helle Tag“, 1977 gab es eine erweiterte und nun illustrierte Neuausgabe. Unter den Übersetzern der Gedichte auch Franz Fühmann und Reiner Kunze. Mein Exemplar hat lange still gestanden im Regal zwischen Vitězslav Nezval und Konstantin Biebl. Von dem aber besitze ich eine Rarität: „In Memoriam Jiři Wolker“, Privatdruck in 100 Exemplaren, meines trägt die Nummer 1.

2. Januar 2024

Den gestrigen 90. Todestag von Jakob Wassermann habe ich nicht vergessen, bin nur mit nichts zum Ende gekommen, was eigentlich hätte fertig sein müssen. Wir verließen die Bergstraße kurz vor 11 Uhr, fuhren noch einmal zu Edeka, um Weine und Biere für zu Hause einzuladen. Der angekündigte Schneeregen kam, kratzen mussten wir dennoch nicht, der Matsch ließ sich leicht entfernen. Die Ankunft zu Hause 13 Uhr. Weil Dresden fünf Tage mit uns am Tisch saß, Wasser und Wein trank, eine Erinnerung an Johannes Schönherr, der am 2. Januar 1894 in Dresden geboren wurde, am 29. Oktober 1971 in Leipzig starb. Sein 1924 veröffentlichtes Gedichtbuch „Herz der Zeit“ trägt im Exemplar meiner Mutter eine Widmung von Gertrude Mehlfärber, datiert mit 11. Oktober 1948 in Gehren, es war also ein Geschenk zum 20. Geburtstag, an mich war noch nicht zu denken. Der Name aber war mir geläufig aus manchen alten Erzählungen. Dauerregen ohne Pause, kaum Post.

1. Januar 2024

Weißenstadt: War es am Freitag schon trotz schier endloser Schlange am Eingang und vor den zwei Kassen letztlich erstaunlich leer für einen Tag „zwischen den Jahren“, wie es auf gut Westdeutsch heißt: wir hatten im „Siebenquell“ noch mehr Platz, konnten unsere Liegen, die man nicht belegen soll, belegen mit unseren Liegetüchern, Kopfhandtüchern, saßen allein im Dampfbad und die Aufgüsse boten bis auf einen am Nachmittag immer genug Restplätze. Das regnerische Wetter ließ uns am Abend dem eigentlich eingeplanten Fußmarsch zum „Deutschen Haus“ entraten und die schnöde Fahrt mit dem Tesla antreten. Der kurze Gedanke an eine eventuell nötige Suche nach einem Parkplatz entfiel sofort, als wir den Markt erreichten. Wir nahmen die vier Plätze, die uns schon vorgestern zugefallen waren und brauchten die Karte nicht erst zu studieren, weil wir das bereits vorab erledigt hatten. Traumhaftes Essen: Fischsuppe, Ente, ein Dessert wie im Bilderbuch.

31. Dezember 2023

Nachtrag: Wir beenden das Jahr mit einem Hecht-Essen in der Wohnung, ich werfe vorher und später meine beiden verbliebenen Riesling-Sekte extra trocken von der Nahe ins Rennen. Der vormittägliche Versuch, noch einmal kurz in die Therme zu gehen, scheitert an den Gruselpreisen für Kurzaufenthalte. Wir vertrösten uns auf morgen. Meine Jahresbilanz Nummer 1: 218mal hatte ich mehr als 10.000 Schritte auf der Uhr. Meine Jahresbilanz Nummer 2: 30 Übernachtungen außer Landes, davon zwei in Schiffskabinen, mehr hatten wir zuletzt 2011 mit 33 Übernachtungen. Und für 2024 sind fünf Reisen bereits gebucht, die Stammkundenrabatte eingeheimst, Osteuropa bleibt Nachholeziel, aber einmal geht es auch nach Italien. Heute umrunden wir bei leidlichem Wetter fast ohne Regen den Fichtelsee, sehen wieder Biberspuren, viele Leute mit Hunden, wenige Leute, die sich ins eiskalte Wasser stürzen. Planen für 2024 den nächsten Hecht, weil dieser so supergut war.

30. Dezember 2023

Nachtrag: Vor zwanzig Jahren war dieser vorletzte Tag des Jahres insofern ein besonderer, als ich erstmals seit vielen Jahren wieder eine Sauna besuchte, seither, trotz eines wenig guten Befindens danach, zum großen und begeisterten Saunagänger wurde. In Pertisau beging ich den Fehler, keine Ruhe zu genießen, und sofort loszulaufen. Damals widerlegte ich mein Vorurteil nicht gänzlich, die Sauna nicht zu vertragen, bald aber wusste ich es besser. Wir umrundeten heute den Weißenstädter See, sahen die Biberspuren an verschiedenen Stellen. Die Granitstelen mit den Gomringer-Versen sind inzwischen leicht bis mittel bemoost, die große Zahl der Bänke am Weg lässt auch fußlahmen Wanderern die Möglichkeit, mit zahlreichen Pausen herumzukommen. An Sara Lidman, die heute ihren 100. Geburtstag hätte, dachte ich nicht, weil ich schon zu Hause im Schwedenregal nach ihr geschaut hatte. Im „Deutschen Haus“ trank ich einen tollen Trester vom Silvaner nach dem Essen.

29. Dezember 2023

Nachtrag: Gestern trank ich den ersten lettischen Wein meines Lebens, eine Rebsorte, von der ich noch nie gehört hatte: S675 Seyval Blanc. Unsere Suchmaschine bekam Arbeit und am Ende waren wir kaum schlauer als vorher, denn auch die Sorten, aus denen er gekreuzt wurde, sagten uns nichts bis gar nichts. Wegen Thermentag heute fast gar keine Schritte, ich lasse die Uhr im Spind bei den Sachen. Ich brauche einen kurzen Moment, um mich wieder zu orientieren, dann bin ich im Bilde. Während des Schlangestehens auf der Treppe gibt uns ein junges Paar mit zwei Kindern den Tipp, in den Gasthof Rotes Roß in Zell im Fichtelgebirge zu gehen am Abend. Wir ergattern vier Plätze und essen sehr gut, wenn wir auch sehr lange warten müssen. Der freundliche Wirt, den wir von unserem Tippgeber grüßen sollen, identifiziert diesen nach einer Weile des Grübelns. Im Marcuse schaffte ich vier kurze Texte, das Abendessen für Morgen im „Deutschen Haus“ ist auch gesichert.

28. Dezember 2023

Nachtrag: Nachdem unser Berliner Besuch gestern gen Berlin mit zwei Zwischenübernachtungen abgereist ist am frühen Nachmittag, können wir heute durchatmen, ehe wir unsererseits nach Weißenstadt fahren. Theaterkritiken habe ich so viele vorab gelesen, dass ich bis Montag aussetzen kann, deshalb nehme ich Ludwig Marcuse mit. „Wie alt kann Aktuelles sein?“ fragt das Buch und ich lese seit 2006 darin immer mal wieder einen Text, zu Joseph Roth am Anfang, später zu Heine. In Weißenstadt soll es meine Morgenlektüre sein, ehe der Tisch in der Küche gedeckt wird, denn ich stehe immer zuerst auf und gehe zuerst ins Bad. Vor zwanzig Jahren in Pertisau wurde es der Urlaub der Knoblauchcreme-Suppen, von denen wir jeden Abend eine andere nahmen in einem anderen Restaurant, bis wir von vorn anfangen mussten. Heute auf der Anreise ein Halt am Getränkemarkt Gefrees, ein paar fränkische Biere für den Durst, wir kommen knapp als erste an in der Bergstraße.

27. Dezember 2023

Nachtrag: Ganz früher war der 27. Dezember der Tag des Balls der ehemaligen Goetheschüler in Ilmenau, meist Treffen der alten und der ganz alten Abiturienten, vermischt mit denen, die gerade erst der Herderstraße entronnen waren, zu meiner Zeit auch denen, die von der Armee zurück waren und nun Heerschau halten wollten, wer noch zur Stange hielt. In Rudolstadt oder wo auch immer wird heute Steffen Mensching 65 Jahre alt, den ich schätze. Er mich wohl weniger, weil ich nicht immer toll fand, was an seinem Theater gezeigt wurde und weil ich dem inzwischen verstorbenen Vorsitzenden des Fördervereins bisweilen einen Interessenkonflikt vorwarf. Mensching scheint ihm treu geblieben zu sein, mich sah der Nicht-Genosse Vorsitzende im Alter als seinen Feind. Vor 20 Jahren brachen wir die Regel, nie am 27. Dezember den Silvesterurlaub anzutreten und fuhren nach Pertisau am Achensee, in der Erinnerung 30 Millionen Deutsche in beiden Richtungen Autobahn.


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