Tagebuch
3. Februar 2022
Noch bin ich gut drei Wochen von meinem Geburtstag entfernt und schon trage ich mein Geschenk am Arm. Alles nur, weil mein Fitness-Armband an der vermutlichen Sollbruchstelle seinen Geist aufgab. Das war der dritte Abschied nach irreparablem Armbandschaden. Das neue Gerät nun hat uns zwar gestern Nerven gekostet, bis es lief, bis es synchronisiert war mit meinem Smartphone und bis es nicht mehr ständig summte und brummte, um mir albernste Nachrichten zu signalisieren. Seither aber läuft es. Während das alte selbst einen Gang zur Mülltonne großzügig belobigte als hervorragenden Workout, ist das neue karger, es sagt einfach: Los!, wenn ich mich länger nicht bewegt habe, was vorkommt, wenn ich vor meinem Computer sitze und riesige Werke über die Doktorarbeiten anderer Menschen verfasse. Dafür stehe ich, während ich dies schreibe, schon vor dem Jahresrekord an Schritten, auch meine bewältigten Treppen werden nun registriert: Rekorde!!
2. Februar 2022
Mehr Arzttermine innerhalb einer Woche hatte ich zuletzt, als ich in einem Krankenhaus lag und das ist dann ja doch schon wieder zwölf Jahre her. Ich lebe in der merkwürdigen Überzeugung, es gehe mir besser, wenn ich weiß, warum es mir nicht gut geht. Unter anderem leide ich darunter, dass ich nicht abschalten kann, wenn ich die öffentlich-rechtlichen Sender die Rolle vom George W. Bush übernehmen sehe, die Achse des Bösen zu bekämpfen. Heute stellt eine Nachrichtensendung das Wort „inzwischen“ vor eine bekannte Zahl. Demzufolge hat Russland 120.000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine stationiert. Die Zahl ist, wie gesagt, keineswegs neu, aber das „inzwischen“ ist geeignet, dem gedächtnisschwachen Konsumenten einen andauernden Prozess zu suggerieren, der gar nicht stattfindet. Mir fällt dann immer ein: „auch mit bereits regulären Truppen“. Das war, als 5.45 Uhr zurückgeschossen wurde. Schmerzen muss man aushalten, ich bin da ein braver Patient.
1. Februar 2022
Vor 50 Jahren starb Karl Grünberg. Wohl trug ich das Datum in meinen Kalender ein, wohl schaute ich auch nach, wann der Name schon einmal bei mir fiel, man kann es prüfen über die Suchfunktion auf meiner Seite. Wirklich nahe kam er mir aber erst wieder, als Gisela Wagner, die Tochter von Karl Schrader, der sich ab 1945 Paul Körner-Schrader nannte, auf ihn zu sprechen kam, als sie mit mir über meine Bemerkungen zu „Die silbernen Kugeln“ telefonierte, dem späten Kinderbuch ihres Vaters. Grünbergs „Brennende Ruhr“ las ich im August 1967, kein halbes Jahr nach meiner Jugendweihe, unmittelbar anschließend „Es begann im Eden“. Es folgten „Sturm auf Essen“ von Hans Marchwitza, „Dr. Sorge funkt aus Tokio“ von Julius Mader und „Eugen Leviné“ von Michail Slonimski. Sage einer etwas gegen meine Sozialisation. Sie hat nicht verhindert, dass ich heute Leserpost von Theaterbesucherinnen bekomme, die meine Sicht, nicht die des Publikums, teilen.
31. Januar 2022
Können gute alte DDR-Haubitzen, die noch sehr gut in Schuss sind, weil sie nie zu einem Überfall auf ein benachbartes Territorium benutzt wurden und deshalb im friedlichen Finnland landeten und von dort großzügig an Estland weitergereicht wurden, nun in die Ukraine geliefert werden, weil dort neben Kochgeschirren, Chesterkäse in Büchsen und Schutzhelmen gegen Putin eben auch etwas an richtigem Schießkram gebraucht wird, wenn die Russen kommen? In Zeiten, wo die Politik von Werten bestimmt wird und nicht mehr von Ökonomie, angeblich steht das im Koalitionsvertrag so, geht das gar nicht. Gebratene Werte, notfalls Wertinnen, haben gegenüber echtem Fleisch immer den Vorteil, nicht dick zu machen. In meinem marxistisch-leninistischen Grundlagenstudium lernte ich, dass erst das Fressen kommt und dann die Moral. Die Ethikkommission empfiehlt, das nie so direkt zu sagen: Sein oder Bewusstsein, hat sich das nicht schon dieses Weichei Hamlet gefragt?
30. Januar 2022
Wann las ich zuletzt eine Dissertation komplett zu Ende vor diesem Sonntag Ende Januar 2022? Es ist auf alle Fälle sehr lange her. Ich hätte sie womöglich nie gelesen, wenn es nicht die Doktorarbeit von Arthur Eloesser gewesen wäre, verteidigt im Jahr 1893 an der Universität, an der ich auch fünf Jahre lang studierte. Sie hieß damals noch Friedrich-Wilhelms-Universität und hatte Professoren und Dozenten, bei denen ich auch gern Vorlesungen gehört, in deren Seminaren ich gern gesessen hätte. Ein Semester in Genf wäre mir nicht möglich gewesen. Damals konnte man nicht Professor werden, wenn man ein Jude war, es sei denn, man verabschiedete sich von seinem Glauben. Zu meiner Zeit konnte man fünf Jahre Philosophie studieren, ohne in der Partei zu sein, vier Jahre ein befristeter Assistent sein, ohne in der Partei zu sein. Dann wurde es aber langsam sehr eng. Eloesser ging zur Zeitung, als akademisch nichts weiter ging. Die Doktorarbeit aber ist seltsam lesertauglich.
29. Januar 2022
Ich weiß nicht, ob eine gelegentlich als Double der anderen auftritt: Jedenfalls erinnert mich ein Foto von Olga Tokarczuk heftig an Fotos von Juli Zeh. Macht aber nichts. Heute wird die polnische Literatur-Nobelpreisträgerin 60 Jahre alt, wozu man Frauen im Allgemeinen und besonderen eher selten gratuliert. Sie erhielt den Preis für 2018 nachträglich und auf diesem Wege gemeinsam mit Peter Handke, der den Preis für 2019 einstrich. Er ist 20 Jahre älter als seine Kollegin und muss deshalb am Ende des Jahres schon seinen 80. feiern. Als ich mir „Der Schrank“ kaufte, eine dünne Sammlung von sieben Erzählungen Olga Tokarczuks, war sie noch weit vom Groß-Preis entfernt und sah auf der Umschlagklappe mädchenhaft aus. Das zum Beispiel schaffen Männer selten bis nie. Ein bisschen Wirbel verursachte Esther Kinsky 2019, als sie zehn Jahre verspätet erklärte, warum sie seit 2009 keine Tokarczuk-Bücher mehr übersetzt. Rein zufällig natürlich erst 2019.
28. Januar 2022
Es verblüfft schon, wenn man in einem gesamtdeutschen Antiquariat neubundesländlicher Prägung für ein Leipziger Reclam-Büchlein, einst gegen 2 Aluminium-Mark erhältlich, 15 bis 22 Euro auf den Tisch des Hauses legen soll und es liegt nicht einmal ein Aktfoto von Margot Honecker bei. Die Rede ist von „Die Tatarenwüste“ von Dino Buzzati. Die gab es zuerst 1942 auf Deutsch, da hieß sie noch „Im vergessenen Fort“, später hieß sie „Die Festung“ und dann wie im italienischen Original einfach „Die Tatarenwüste“. Die DDR, um bei ihr zu bleiben, in der wirklich nicht alles gut war, erlaubte Anna Mudry ein Nachwort ohne Marx und Engels, aber mit sehr viel Franz Kafka. Zuvor durfte schon der katholische Verlag St. Benno Buzzati drucken: „Die Mauern der Stadt Anagoor“. Und auch Christine Wolter nahm für ihren dicken Zweibänder mit italienischen Erzählungen einen Titel von Buzzati auf: „Panik in der Scala“. In deren Nähe starb der Autor am 28. Januar 1972.
27. Januar 2022
Es gab Zeiten, da hatte ich den Wunsch, an diesem Tag eine Rede zu halten auf dem Wetzlarer Platz. Mich bewegt Auschwitz, mich bewegen Sobibor und Belzec immer wieder und immer wieder wie beim ersten Mal. Ich überlegte, ob ich sagen dürfte, dass mein Vater in Auschwitz war, aber nicht als Häftling, sondern als Kriegsgefangener. Dass er entlassen wurde, weil die Russen Angst hatten, sich bei ihm mit TBC anzustecken. Wie sie rennen mussten in ihren Pantinen und dabei die Suppe verschütteten, die fürchterlich dünne Suppe aus Grassamen. Mein Vater sprach sehr selten davon und wenn, dann kamen ihm die Tränen. Ich habe auf dem Wetzlarer Platz gute Reden gehört und mäßige. Über einige berichtete ich, als ich noch einer war, der berichten musste. Das ist lange her. Heute würde ich wahrscheinlich ablehnen, wenn mich jemand fragte, ob ich nicht eine Rede halten möchte am 27. Januar. Ich denke jetzt eher an Riga, wo die Berliner Transporte landeten.
26. Januar 2022
Beinhaltet das Wort Hexenschuss nicht einen der letzten noch völlig unbekämpften, von schlimmer Diskriminierung geradezu triefenden Inhalte? Hexen, Frauen, Scheiterhaufen. Das Wort konstruiert, wir haben es gelernt. Den Hexer, den gibt es nur bei Edgar Wallace, wahlweise nach einer gewissen Zeit „Neues vom Hexer“, den Hexerschuss allerdings hat noch niemand diagnostiziert. Ich will nicht behaupten, ich hätte einen. Der Wahnsinnsschmerz in meiner linken Mitte, der mir das Aufstehen schwer macht, das Drehen zum Weinglas im Fernsehsessel zur Pein, kann auch ganz andere Ursachen haben. Dennoch gelang es mir, auf meinem nach vorn leicht abfallenden Sessel vor meinem Flachbildschirm den Text zu Johann Kaspar Steube zu einem leidlich befriedigenden Ende zu bringen, kleine Pointe inklusive. Nun geht es zu neuen Ufern. Vielleicht lasse ich mir meine nächste örtliche Betäubung beim Zahnarzt in den Rücken jagen. Wann aber fällt die an?
25. Januar 2022
Nicht auszudenken, was wäre, wenn die AfD verkündet hätte, unseren Bundespräsidenten Frank Steinmeier zu unterstützen. Dann hätte die SPD in den nächsten Jahren doch nicht alle Ämter bei sich, die man haben kann. So aber haut es nur einen Otto aus der Bahn, der sich mir noch nicht auffällig gemacht hatte, obwohl ich als Neffe eines Onkel Otto in Schweden, als Fan eines Onkel Otto im hessischen Fernsehen (vor Tausenden von Jahren) durchaus einer gewissen Otto-Nähe bezichtigt werden könnte. Während ich also bedauernd feststelle, dass der heutige 275. Geburtstag von Johann Kaspar Steube wahrscheinlich nicht einmal in Gotha mit einem Festakt gewürdigt wurde, sehe ich mich selbst in einer Bringeschuld. 2008 begann ich, damals noch in der Annahme, größte Zeitungen Thüringens könnten Honorare zahlen, etwas über Steube zu Papier zu bringen, was ich jetzt zum eigenen Erstaunen wiederentdeckte. Daraus erwächst ein Fortsetzungszwang.
24. Januar 2022
Mit dem heutigen Tag verliere ich einen Grund, einen Betriebsausflug in unseren Keller zu starten. Ich habe den letzten von 38 Jahrgängen des „Magazins“ nach oben geholt, wie alle vorigen 37 war er solide verschnürt, wie kein voriger aber bot er eine Überraschung. Meine Eltern, die vom ersten Heft 1954 an, ein Privileg, Abonnenten waren, haben das „neue“ Magazin ohne Klemke-Kater, mit sehr viel mehr Nacktheit, sehr viel mehr Erotik und bisweilen sogar Pornographie-Nähe, offenbar nicht mehr gelesen. Die Seiten klebten noch zusammen wie bei alten unaufgeschnittenen Büchern oder eben bei solchen, die noch nicht einmal durchblättert wurden. Hätte ich das gewusst, hätte ich nachfragen können. Nun geht das nicht mehr. „Das Magazin“ ist nach dem Tod meiner Mutter in die Erbmasse geraten, in die wertlose dazu, denn kein Antiquariat zeigte Interesse an diesen fast 40 vollständigen Jahrgängen. Nun schlachte ich sie aus. Was ich nicht brauche, wandert ins Altpapier.
23. Januar 2022
Muss ich eher froh sein, wenn ich etwas finde, was ich vor Jahren schrieb, aber vergessen hatte? Oder wäre es besser, in mich zu gehen und mir zu sagen: Du wirst alt? Natürlich werde ich alt, von denen, über die ich meistens schreibe, war eine auffallende Zahl in meinem Alter bereits tot. Walter Werner war 73, als er starb, mein Großvater Reinhold war 73, als er starb, bis dahin blieben mir vier Jahre mit etwas Glück. Mein Vater, Jahrgang 1921, sagte immer: Wenn ich das noch erlebe. Er hat mehr erlebt, als er erhoffte. Als seines 100. Geburtstags zu gedenken war im vorigen Jahr, war ich letzten Ende froh, dass mein Tagebuch ruhte und dass sich andere Dinge vordrängelten, auch wenn ich natürlich selbst bestimme, was sich vordrängeln darf und was nicht. Ich bin noch immer nicht allem gewachsen, was ich weiß, manches, was ich wissen könnte, habe ich noch nicht einmal bis zum Ende gelesen. Nichts wird häufiger begraben (außer den Toten natürlich) als ihre Geheimnisse.