Tagebuch

2. Juli 2024

Anfang März vorigen Jahres wohnten wir direkt am Ständerhaus, heute sahen wir uns nach dem Frühstück das eindrucksvolle kleine Fachwerk-Museum dort an. In der oberen Etage Gefühle wie auf hoher See, der Fußboden ist uneben wie nur irgend denkbar in einem 800 Jahre alten Haus. Nächstes Ziel der Domschatz auf dem Berg, den wir noch nicht sahen. Der Name der Heiligen Corona treibt einen Besucher dazu, eine der Aufsichtspersonen mit einem nicht enden wollenden Vortrag über die Pandemie zu belästigen in einer Lautstärke, dass die halbe Kirche mithören kann, Dialekt aus dem Westen. Natürlich aus dem Westen, möchte ich meinen. Abends dann der Festakt mit Oberbürgermeister, Kulturstaatsminister und einem gut getimten Programm: die Reden nicht zu lang, eindrucksvoll die Liebesgeschichte in Briefen zwischen Klopstock und Meta Moller, gelesen von Astrid Kohlhoff und Silvio Beck. Astrid Kohlhoff gibt mir anschließend ihren Programmablauf.

1. Juli 2024

Der Weg zu Klopstock gestern war mit einer Autobahnsperre gepflastert, zum Glück standen wir im Stau so weit hinten, dass wir rückwärts zur Abfahrt rollen konnten und mit einer halben Stunde Verspätung in Quedlinburg ankamen. Unser Zimmer mit Marktblick, zum Parkplatz 100 Meter, 300 zu unserem Vorjahrsdomizil am Ständerhaus. Dass es hier eine staatliche und eine private Gäste-Information gibt, die nicht optimal miteinander kommunizieren, erfährt man nebenher. Wie auch immer: heute ein sehr schöner Stadtrundgang auf Klopstocks Spuren, nicht nur die Führung im historischen Kostüm, auch unterwegs kostümierte Figuren aus Klopstocks Leben. Am Ende das Geburtshaus für uns geöffnet, es gab Klopstock-Wein, einen Weißburgunder vom Landesweingut Kloster Pforta, sehr lecker und gut gekühlt. Anmeldung für den Festakt in der Kulturkirche St. Blasii morgen, die aus Brandschutzgründen maximal 199 Besucher aufnehmen kann, wir darunter.

30. Juni 2024

Ruft man Juli Zeh auf der Plattform aller Plattformen auf, dann erfährt man, dass sie heute ihren 50. Geburtstag feiert. Die Frage, die man gar nicht gestellt hat, wird auch gleich beantwortet: Was ist besonders an Juli Zeh? Die Antwort: „Juli Zeh ist eine der herausragendsten Schriftstellerinnen der zeitgenössischen deutschen Literatur. Durch ihre tiefgreifenden Romane und das starke Engagement in politischen Diskursen setzt sie ein bedeutendes Zeichen in der literarischen Landschaft.“ Mit Romanen hab ich meine Probleme, weil sie mich zu lange festhalten, ob sie tief greifen, entgeht mir folglich und ich bin mir nicht sicher, ob alle ihre neuen SPD-Freunde, die früher nie Juli Zeh lasen, jetzt aber begeisterungsstarr den Namen sprechen, mir glaubhaftes Zeugnis ablegen. Lektüre nach Parteibuch ist ein seltsames Zeichen in der literarischen Landschaft, wofür die Gelesene natürlich nur mittelbar verantwortlich ist. Wir reisen heute gen Klopstock, weshalb hier ein Schweigen folgt.

29. Juni 2024

Erstmals seit langem wieder ein Goethe-Vortrag im Amtshaus, den ich mir anhöre. „Fruchtbares Scheitern – Goethes Ilmenauer Erfahrungen“. Leider bestätigen sich meine Befürchtungen: das ist es nicht. Zu sehr ist das Thema abgegrast, ich selbst habe sechs der Themen oder sieben bereits in Vorträgen und Texten abgehandelt. Und ich würde nie in die Schweiz fahren, um dort vor Goethe-Freunden das Thema „Goethe in der Schweiz“ abzuhandeln. Die Referentin ist Präsidentin der Goethe-Gesellschaft Schweiz, war Assistentin von Adolf Muschg, der 1999 in Ilmenau auch über Goethe in Ilmenau referierte. Dazu kein Satz, der sich festhakte, keine einzige originelle Wendung, alles brav und bieder von Peter im Baumgarten bis zur Redepause 1784. Für mich neu: die neue Dauerausstellung zu Goethe auf dem Gotthard, die es seit zwei Jahren gibt, die Referentin beteiligt. Das weckt Neugier. Von Goethe-Briefen an Frau von Stein bin ich satt wie vom Gedicht „Ilmenau“.

28. Juni 2024

Es gilt, Grüße in Richtung Großhennersdorf zu richten, von wo mich eine Sendung erreichte von imponierendem Volumen, sie trägt den schönen Titel: Günter Kunert. Werke und Beiträge zu seinem Werk – Supplementband 8. Ich bin in diesem Privatdruck doppelt enthalten, was meine Eitelkeit kitzelt, ohne dass ich nun kichern muss. Der kleine Förderpreis der Rudi-Ratlos-Stiftung wird auch in diesem Jahr in der Rubrik „Alter Kram aus dem Osten“ nicht an mich vergeben werden: der Stiftungsrat meint, ich hätte akuten Nachholebedarf in der Narrativ-Theorie und würde unverantwortlich oft glauben, manches in meinem Rentnerleben erinnere zunehmend an die böse Unrechtsdiktatur, zuvörderst der mediale Glaube, von Politikern geteilt, und umgekehrt, man dürfe dem Klassenfeind keine Munition liefern. Da gibt es ganz andere Munitionslieferanten auf dieser Welt, die die Produktion echter Toter fördern, man halte das Maul also statt ewig Unfug zu labern.

27. Juni 2024

Unerwartet lange gestern die Vertreterversammlung der Wohnungsbaugenossenschaft im Parkcafé. Ein Studierendenvertreter vom Studierendenrat fühlte sich berufen, messerscharfe Fragen so lange zu stellen, bis die versammelten Grauköpfe sämtlicher Geschlechter anfingen zu murren und zu maulen. Die Vertreter wechseln, ihre Auftrittsdramaturgie nie. Sie fragen immer nach Solaranlagen zuerst und dann nach Solaranlagen. Während die Grauköpfe immer nach dem Müll fragen. Es ereignete sich auch ein Fall von bösartiger Beschimpfung des Vorstandes, weil der Vorstand etwas anderes sagt als die Stadt. Nun hat zwar die Stadt in Sachen Genossenschaft gar nichts zu sagen, aber gelernte DDR-Bürger Ü70 lernen nicht unbedingt willig, dass man zuerst für sich selbst die Verantwortung trägt. Besser ist es, man kann eine Eingabe an die Obrigkeit machen, auch wenn die sich im Zustand der Unzuständigkeit befindet. Heute Tag des Dauerregens und des Donnerwetters.

26. Juni 2024

Es ist die Zeit des Mähens, kein Fenster darf auch nur auf Lüftstellung stehen, schon ist der Lärm unerträglich. Die Fabrikanten von Newslettern füllen meine Posteingänge, ich muss löschen und löschen, bis die Tastatur glüht. Früher konnte man die Bestellung einfach stornieren, das geht jetzt auch noch, nur kommen die Nachrichten trotzdem. Dafür landen die Antworten von ZVAB jetzt direkt im Spam-Ordner. Banken, bei denen ich nie war, teilen mir mit, dass mein PhotoTAN ausläuft und erneuert werden muss, es braucht nur einen Klick. Wir kennen das dummerweise und klicken auf Löschen. Ich lese über einen Dichter namens Ludwig Greve, der vor Amrum ertrank vor vielen Jahren und nachträglich den Peter-Huchel-Preis erhielt. Vermutlich lese ich die falschen T-Shirts, mir war der Greve völlig unbekannt. Nun hat er sogar seinen 100. Geburtstag in diesem Jahr: am 24. September, da wollen wir uns einmal umschauen, ob ein Jubel herumbrandet im Umkreis.

25. Juni 2024

Seine Bücher heißen zum Beispiel „Wahnsinn und Gesellschaft“, „Die Ordnung der Dinge“, „Archäologie des Wissens“ oder „Ästhetik der Existenz“. Sie stehen mit „Schriften zur Literatur“ bei mir in der untersten Reihe des Frankreich-Regals, was kein Zeichen der Missachtung, sondern Verweis auf sein Geburtsjahr ist: 1926. Heute vor 40 Jahren starb Michel Foucault in Paris und wann immer von ihm ein Konvolut bisher unbekannter Notizzettel veröffentlicht wird, fällt der strukturalistische Fanclub in Trance, der homophile sowieso und alle Feuilletons, die auf sich halten, holen ihre einschlägigen Experten aus der Kühltruhe, die nun wieder schürfen, bis die Tiefe Oberfläche wird. Mein Freund Peter Ludewig, den in diesem Jahr auch schon der 70. Geburtstag ereilt, bekam beim Aussprechen des Titels „Archäologie des Wissens“, wenn wir auf den oberen Etagen der Doppelstockbetten im Wohnheim „Victor Jara“ in Biesdorf lagen, seltsam starre Augen.

24. Juni 2024

Von Helga Korff-Edel hielt Brigitte Reimann nicht sonderlich viel, vermutete dennoch zu Gunsten von Helmut Sakowski, sie könne nicht seine Geliebte gewesen sein, weil sie seinem Geschmack nicht entsprach. Genannte Helga wäre heute 100 Jahre alt geworden. Immerhin hat sie ein Buch geschrieben mit dem Titel „Übers Land mit Sakowski“, während er kein Buch schrieb mit dem Titel „Unterwegs mit Helga“. Sie war, solange er lebte, die Gattin von Peter Edel, der mit „Die Bilder des Zeugen Schattmann“ ein bisschen in die DDR-Geschichte einging, und überlebte ihn um 28 Jahre, wiewohl sie nur drei Jahre jünger war als er. Die für 10 Uhr angekündigten Mäharbeiten haben 12 Uhr noch nicht begonnen. Obwohl alle Parkplätze geräumt sind, selbst die, die sonst nie geräumt werden aus Protest gegen die Weltordnung. Ich sichte jahrgangsweise den Bestand „Temperamente“ aus dem Keller und lese nebenher die eine oder andere Seite. Was man so alles für bedeutsam hielt!

23. Juni 2024

Die gestrige Wanderung zum Gipfel der 10.000 Schritte führte vorbei an: Himalaja-Bergknöterich, Punktiertem Gilbweiderich, Alpen-Schuppenkopf, Pfirchsichblättriger Glockenblume, Kronen-Lichtnelke, Weidenblättrigem Spierstrauch und Wiesen-Labkraut. Natürlich hätte ich keine davon erkannt, weshalb ich „Terra Incognita“, der Pflanzen-App der TU Ilmenau, unendlich dankbar bin. Eine Medikamenten-App für DDR-Produkte gibt es vielleicht auch, nur kenne ich sie nicht. Im weltweiten Netz wird die gute alte Titretta analgica, die man sich als Zäpfchen auch hinten rein schieben konnte, schon mal erzdumm Aspirin des Ostens genannt, was ungefähr so dämlich ist wie Harry Thürk den Konsalik der DDR zu nennen, wie es der „Spiegel“ verzapfte. Die einschlägige Kompetenz des Nachrichtenmagazin fasziniert immer wieder. Jedenfalls fraß, laut Brigitte Reimann  Helmut Sakowski einmal sechs Titretta an einem Dezembertag 1968 und lallte anschließend lustig.

22. Juni 2024

Bisweilen lese ich, dass ein Buch, das keiner ist, sich beinahe so spannend lese wie ein Roman, was voraussetzt, dass Romane von Hause aus spannend daher kämen. Nie las ich, dass ein Roman, der auch keiner ist, sich so langweilig gebe wie der Festschriftenbeitrag eines Autors, der von sich als „der Verfasser“ spricht und meist ein Professor für neuere deutsche Literaturgeschichte ist, der es nicht einmal schafft, eine suchmaschinenkompatible Überschrift zu finden. Weil ich es seit einigen Jahren weiß und durch die Brot- und Wurst-Arbeit für Zeitungen trainiert wurde, passende Titel zu finden, die eine bis vier Spalten möglichst solide füllen und außerdem weiß, wie enorm wichtig der erste Satz ist, weiß ich, dass ich doch kein ordentlicher Professor geworden wäre, nicht mal ein außerordentlicher wahrscheinlich. 1984 standen mir noch alle Wege offen, ein Jahr später waren sie vermauert, obwohl niemand die Absicht hatte, auch noch diese Mauer zu bauen. Lang ist es her.

21. Juni 2024

Der Schwiegervater wäre heute 102 Jahre alt. Ist das ein Konjunktiv? Vor 50 Jahren erkundigte er sich nach meinem unproletarischen Stammbaum und war mit den Auskünften zufrieden. 90 Jahre alt würde heute Wulf Kirsten, zu dessen 80. Geburtstag ich vor zehn Jahren schon schrieb. Damals lebte er noch: bei leidlicher Gesundheit. Ob er je las, was ich schrieb, ist mir leider nicht zugetragen worden. Der Kontrollblick auf die Zugriffe zeigt 2996, das sind 300 pro Jahr, die solide verkaufte Auflage einer normalen regionalen Literaturzeitschrift, in der alle sehr stolz sind, veröffentlichen zu dürfen, weil sie dann ein Belegexemplar bekommen. Unverträgliche Luft heute, wenn auch weder der mehrfach angekündigte Sturm noch das Gewitter uns erreichen. Die für Montag angekündigten Mäharbeiten begannen mit der ersten Phase auch hinter den parkenden Autos, wo sonst stets die Furcht vor Beschädigungen den Tatendrang der Mäher bremste. Verstehe diese Welt, wer es kann.


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