Tagebuch

28. Dezember 2018

Tagebuch wegen Betriebsausflug geschlossen, Nachträge folgen. Nachtrag: Es sind nicht mehr als 200 Kilometer, die Strecke ist getestet, das Reisewetter leidlich. Planmäßig sind wir in Gefrees auf den Getränkemarkt-Parkplatz gerollt, die leere Kiste Straubinger Weisse wurde gleich von der Kasse her moniert. Als ich aber kund und zu wissen gab, dass ich sie zu füllen gedenke und nicht als Pfandgut zu versetzen, herrschte wieder die übliche pure fränkische Freundlichkeit. Ich befüllte den Träger mit zehn neuen Sorten für meine Sammlung, drei weitere landeten im textilen Beutel, begleitet von einem soliden Stück frischen Steinofenbrotes. Noch nie kauften wir Brot in einem Getränkemarkt, folglich war es automatisch das beste Brot, das wir je in einem Getränkemarkt in die Hände bekamen. Mit ihm und den wurstalen Mitbringseln aus thüringischem Hofladenhandel bestritten wir eine kalte Mahlzeit, ehe wir für vier Stunden in die Siebenquell-Therme eintauchten.

27. Dezember 2018

Der letzte Arbeitstag 2018 für die Frau an meiner Seite, ein Donnerstag ohne Gang zum Bäcker, denn morgen fahren wir in den Silvester-Kurzurlaub, der uns in die Gegend nahe des Ochsenkopfes führt, wo wir uns schon einmal probeweise wohlfühlten. Heute die letzten Absprachen, was wir noch mitbringen müssen. Mein alter Literatur-Kalender zeigt für diese Woche Theodor Fontanes Arbeitszimmer als Aquarell von Marie von Bunsen, die vermutlich nicht den gleichnamigen Brenner erfunden hat. Ich habe tapfer archiviert, nur kurz daran gedacht, dass es Zeiten gab, da wir am 27. Dezember den so genannten Ex-Pennäler-Ball besuchten. Von meinen Ex-Pennälern sind einige Weihnachtsgrüße eingegangen, die ich nur deshalb nicht beantwortete, weil ich erst heute wieder einen Blick in meinen Posteingang warf: 92 Mails zum Löschen, ein Dutzend von Interesse. Die haptische Post mit Sendungen zum Anfassen hält sich angenehm zurück, ist es Winterschlaf?

26. Dezember 2018

Obwohl von den beiden Kaninchen noch etwas übrig ist, sind heute Rouladen an der Reihe, es gibt unter den Essensteilnehmern männlichen Geschlechts ausgesprochene Rouladen-Fans und welche Oma kann da schon nein sagen. Nach dem Essen tritt der Berliner Teil der Familie die Heimreise an, unser Mietparkplatz fällt zurück an uns, bleibt allerdings erst noch leer wegen des Rotweines und des im Madeira-Fass gelagerten Sibonia-Grappas, die das Mahl begleiteten und eben deshalb die Fahrzeugbewegung aus verkehrsrechtlich-ethischen Gründen auch auf kurzen Strecken nicht erlaubten. An den vor 85 Jahren verstorbenen Anatoli Lunatscharski denke ich nur kurz, während ich verspätet den Literatur-Kalender umblättere. Abends ein Tatort, in dem eine Kommissarin niedergeschlagen wird, ohne dass der Täter ihr die Kamera wegnimmt und ein Kommissar diesen Täter erschießt, ohne unter dem Motorradhelm nachzuschauen, wen er da eigentlich erschossen hat.

25. Dezember 2018

Die Weihnachtsgans Auguste ist in unserem 4-Generationen-Menü nicht vertreten, zwei Kaninchen lagen nach glücklichem Dorfleben eingelegt in saurer Sahne auf dem Balkon, ehe sie heute zu den Klößen auf den acht Tellern landeten. Die Spülmaschine arbeitet wie im Restaurant, den sonstigen Dienst in der Küche verrichtet ein seiner Mutter eine Pause gönnender Sohn. Inzwischen weiß ich, dass ich doch einige Relotius-Lügen gelesen habe, nur halt nicht auf den Namen geachtet. Erfahren habe ich auch, was man offenbar so lehrt in den Kursen für High-End-Reporter und dass sie die Verfilmung ihrer Reportagen gleich mit imaginieren. Mit passender Musik und den genau zum Moment passenden Martial-Szenarien. Letzteres wundert mich schon lange nicht mehr. Warum soll nur auf den Bühnen des Landes die vordergründigste Symbolik die beliebteste sein? Dass vor 80 Jahren Karel Ĉapek starb, von dem ich 1985 fast alles las, was es gab: immerhin eine Randnotiz.

24. Dezember 2018

Die erste Nacht auf der Matratze ist vorbei, Schlaf mäßig und zum Ausgleich kurz. Auf dem Sofa am Morgen, was man früher zwei Orgelpfeifen genannt hätte, eine Decke über die Füße, den Blick starr auf den Bildschirm gerichtet. Immerhin tragen Kinderprogramme dazu bei, dass man in Ruhe unter die Dusche treten, das Frühstück in der Küche vorbereiten kann. Es stellen sich grundsätzliche Fragen: wer will Kakao, wer welche Marmelade oder gar Nutella. Und grundsätzliche Antworten: keine Butter unter die Kirschmarmelade. Das Bäumchen, das den Ständer mit Orchideen verdrängt hat, steht später umringt von großen roten Säcken und etlichen verschnürten Paketen aller Größen. Der Weihnachtsmann, der im Vorjahr eben noch im Tiefflug zum Klingeln kam, ist in diesem Jahr dummerweise gerade an der Tür, als die braven Buben mit ihrem Vater noch einen späten Rundgang unternehmen, wir berichten dafür eifrig von seiner Eile und dass andere Kinder auch auf ihn warten.

23. Dezember 2018

Heute wäre Friedrich Wolf 130 Jahre alt geworden, wenn er im sowjetischen Kaukasus das Licht der Welt erblickt hätte, wo Chöre der Hundertjährigen auf ihren Pferden zum Auftritt ritten, wenn ich den Nachrichten-Magazinen, die es leider gar nicht gab im real existierenden Sozialismus, und ihren Narrativen hätte glauben können. Damals wusste ich aber noch gar nicht, das eine Zeit kommen würde, in der Narrative das Weltgeschehen bestimmen und nicht mehr das Sein das Bewusstsein. Am späteren Nachmittag werden erste Besuchergruppen in unserer weihnachtlich geschmückten Wohnung eintreffen und ich werde vielleicht von jener Journalistin erzählen, die eine ganze Kolumne in NEUES DEUTSCHLAND befüllen durfte mit der frohen Botschaft, sie verachte Weihnachten, sie verachte den Kapitalismus und zwar aus unterschiedlichen Gründen. Ich verachte Verächter, weil ich Moralsülze verachte und im Verachten nur den intellektuellen Hochmut erkenne.

22. Dezember 2018

Jede freie Minute des Tages ist eine Archiv-Minute, nach den Vorsortierungen wandern die Papiere in die Ordner. Die Post liefert das Hamburger Nachrichtenmagazin unverschämt spät, aber sie liefert es und jeder Versuch, auf meiner Bio-Festplatte den Namen Claas Relotius zu finden, scheitert. Vermutlich sind die Reportagen, die er erlog, nicht zu meinem Beuteschema passend gewesen, mein Interesse für kubanische Steuerberater, die Schuhputzern Anlagetipps geben, ist nie von Null unterscheidbar gewesen. Aber ich fand auch früher schon den allerersten MacDonald in Astrachan, die erste Peep-Show in Bratislava nur sehr wenig aufregend. In Zeiten, da ehemalige SED-Blätter in Berlin drucken, „Die Partei, die Partei hat immer recht“ sei die offizielle Hymne der Partei gewesen und niemand merkt den Blödsinn, will ich mich nicht an Journalistenpreisjägern des hohen Nordens heiß denken. Edeljournalismus wird traditionell überschätzt. Von Edeljournalisten.

21. Dezember 2018

Kein halbes Jahr mehr und alle Freitage werden so sein im Rentnerleben: gemeinsames spätes Frühstück nach durchhusteter Nacht, das Frühstücksei in der Grauzone zwischen hart und weich, die Geschmacksnerven noch immer auf halber Leistung. Wir bereisen ein altes Neubauviertel der Stadt, um im dortigen Supermarkt das eine oder andere zu erwerben, was andere Supermärkte in dieser Qualität nicht vorweisen können. Es gelingt uns nicht, an der Salattheke vorbei zu kommen, ohne einige Gramm in die Plastik-Schachteln zu schaufeln, die wir auch in diesem Jahr nicht ins Meer werfen, sondern in die gelbe Tonne. An einem Sanddorn-Spezialregal verharren wir länger, aus dem Weinregal entnehmen wir einen Gemischten Satz aus Wien, den wir hierzulande noch nie erblickten. Es gießt wie aus Eimern, was uns die schaurige Empfindung vermittelt, dass das auch Schnee hätte sein können. Es gibt eine feurige SPIEGEL-Affäre, die uns erheitert und erschreckt.

20. Dezember 2018

Es löst nicht prinzipiell eine Schrecksekunde aus, wenn ich gealterte Ex-Kollegen plötzlich und unerwartet im Fernsehen erblicke, emsig mit dem Schreibgerät ins Blöcklein notierend. Es löst im speziellen Fall einen Empörungsreflex in mir aus, ich bin also auf gutem Weg, mich der Mechanik  unserer freiheitlich-demokratischen Gesinnungsdiktatur anzupassen. Es gibt in der Technischen Universität Ilmenau Bettwanzen, Lehre daraus: Man kann auch ohne einen ausländerfeindlichen Übergriff in die Schlagzeilen kommen. Das war nicht immer so. Als mich 1996 eine mir nahe stehende Person weiblichen Geschlechts informierte, dass in ihrem Studentenwohnheim am Ernst-Reuter-Platz zu Berlin, zur Freien Universität gehörig, Kakerlaken zur Grundausstattung gehören, riet ich weder, den Studierendenrat um Alarmauslösung anzugehen noch bat ich den RBB, das Faktum in die Abendnachrichten zu hieven. Und wir redeten nicht von begleiteten Fahrten im Lift.

19. Dezember 2018

Es gibt immer nur zwei Möglichkeiten: entweder der Fahrstuhl ist weg, mit dem ich eben in den Keller gefahren bin oder der Fahrstuhl ist weg, mit dem ich eben in den Keller gefahren bin. Wenn eine dritte Möglichkeit eingetreten ist, bin ich jedes Mal völlig verstört, um im Kritikerton zu reden, an dem ich mich heute wieder leidlich üben durfte. Seit wir den Fahrstuhl haben, zwei Jahre sind es jetzt, geht immer wieder die Rede, wie gesund es sei, zu laufen. Andererseits gibt es Leute, die nur deshalb mit dem Fahrstuhl aus dem Erdgeschoss in den Keller fahren, weil sie ihn ja auch mit bezahlen müssen, ohne ihn zu brauchen. So geht es im Leben. In Coburg war alles, was zuletzt gesperrt war, frei, dafür die Poller nicht gesenkt am Hinterausgang des Schlossplatzes, so dass ich endlich einmal wieder Wenden in sieben Zügen üben konnte, wozu es sonst selten Gelegenheit gibt. Heute feiern wir Geburtstag und überreichen ein Geschenk, für das der Auftrag rund ein Jahr alt ist.

18. Dezember 2018

Bis 2010 muss ich zurückgehen, um ein Jahr zu finden, in dem ich weniger Bühnentexte las als in diesem Jahr 2018. Da ist auch nichts mehr zu retten. Immerhin: „4.48 Psychose“ von Sarah Kane kenne ich nun. Ob mir diese Kenntnis am Abend in der Coburger Reithalle hilft, wage ich kaum zu prognostizieren. Es gibt keine Rolle in diesem Stück, keine Namen, keine Handlungen. Vermutlich kann man es inszenieren, wie man eben so Lust hat, mit zwei bis sieben Darstellern, vielleicht auch mit Stimmen aus dem Off und einigen Video-Installationen. Im kommenden Februar wird Sarah Kane 20 Jahre tot sein und als sie geboren wurde, bereitete ich mich auf die letzten Abiturprüfungen vor. Viele, die über sie schrieben, warnten alle anderen davor, dies oder jenes vorschnell zu denken. Sarah Kane soll sich zwischen 1995 und 1999 immer mehr vom Naturalismus entfernt haben. Das macht mich stutzig. War der nicht schon hundert Jahre tot? Oder entfernt sich jeder, wovon er mag?

17. Dezember 2018

Es geht mir besser, aber noch längst nicht gut. Immerhin reicht es zu einer Ausstellungseröffnung. Wann ich zuletzt zu einer war, weiß ich nicht mehr. Ich ließ bisweilen verlauten, es wundere mich, keine Einladungen mehr zu bekommen. Nun hatte ich also eine und da wäre es mir unangenehm gewesen, nicht hinzugehen. Es ist bei diesen Vernissagen wie immer, also so ähnlich wie bei den Premieren: man kennt sich, fällt sich um die Hälse, klopft sich auf die Schulterblätter, es gibt einen musikalischen Rahmen und eine Laudatio auch. Man umschleicht kennerisch die Objekte oder auch einfach nur ahnungslos. Ich gestehe, dass Textilkunst nicht das ist, worüber ich gern meine zweite Diplomarbeit einreichen würde. Der Ehemann der Künstlerin wird gelobt für das Verständnis, das er dem Tun seiner Gattin entgegenbringt. Das finde ich schön. Fontanes Frau wäre mit Verständnis allein nicht weit gekommen, die musste alle Manuskripte wieder und wieder abschreiben. Per Hand.


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