Tagebuch

16. Dezember 2018

Die Zahl der Rotweinkuchen-Verzehrer hat sich nach einer gestrigen Absage um zwei Erwachsene verringert, Kinder waren ohnehin nicht geladen. So muss der Eigenverzehranteil erhöht werden. Meine Blicke in den Text von Sarah Kane, den ich als letzten in diesem Jahr auf einer Bühne meiner Wahl sehen werde, hat mir blankes Entsetzen eingeflößt. Da stehen gleich auf der ersten Seite Sätze, die nur dem Wahnsinn entsprungen sein können, jedenfalls einem nicht rational arbeitenden Gehirn. Dergleichen ist pure Intellektuellen-Belustigung. Liest man dann noch ein paar Kritiken hinzu, sieht man rasch: die Herrschaften haben geradezu verzweifelt versucht, ihrer Ratlosigkeit sprachliche Gestalt zu geben. So liest sich das auch. Im kommenden Jahr muss alles besser werden. Sarah Kane hat sich in sehr jungen Jahren umgebracht, das hilft dem Nachruhm meist bestens, weil jeglicher Spekulation jegliche Tür geöffnet ist. Allerdings sind Kaisers neue Kleider meistens keine.

15. Dezember 2018

Alfred Kosing wird heute 90 Jahre alt. Wie schön das für ihn ist, kann ich aus der Distanz nicht beurteilen. Er schreibt immer noch Bücher. Ob sie jemand liest, kann ich aus der Distanz nicht einschätzen. Meine Suche nach Titeln, die ich von ihm gelesen habe, blieb zu meiner eigenen Überraschung erfolglos, was nur bedeutet: nie habe ich etwas von ihm zu Ende gelesen, nicht einmal „Nation in Geschichte und Gegenwart“, was mich doch überraschte. Die Dialektik des Sozialismus, an der er gern herumdachte, hat sich leider noch vor seinem Renteneintritt als leicht inkonsistenter Gegenstand erwiesen. Ihre Vordenker litten, wie sich herausstellte, unter einer nicht therapierbaren Verkürzung der revolutionären Perspektive. Man könnte auch von akuten Störungen des Wahrnehmungsvermögens sprechen. Ich habe den Tag für Archivarbeit verschleudert, etliche neue Häufchen aus einem alten Haufen gebildet, nun muss alles nur noch in die wartenden Ordner.

14. Dezember 2018

Könnte ich den gestrigen Tag einfach streichen, müsste ich es tun: eine Todesnachricht, eine Nachricht von schwerster Erkrankung ohne viel mehr Horizont als 24 Stunden. Im Auto nach Meiningen alle Gedanken verbannt in diese Richtungen, in einer Wolke aus Husten-Hals-Brust-Mitteln sitzend, dann aber freundlich begrüßt: Pressesprecherin in den Kammerspielen, die sonst immer nur im Großen Haus wartete, ein Kollege reicht mir die Hand, obwohl ich bisweilen lästerliche Sätze über ihn zu Papier bringe, ohne ihn zu nennen. Ich überstehe zwei Stunden mit Pause ohne einen einzigen nennenswerten Hustenanfall, neben mir sitzt der Schauspieldirektor, zwei Reihen hinter mir die schönste Kritikerin westlich der Bleilochtalsperre und südlich von Spitzbergen. Heute brauche ich als Rekonvaleszent fast doppelt so lange wie sonst, bis mein Theatergang zu, beinahe hätte ich: Papier geschrieben, gebracht ist. Was auf die Länge schlägt.

13. Dezember 2018

Berlin arm, aber sexy? NEUES DEUTSCHLAND weiß es besser und sich vor Freude fast nicht zu halten: „Berlin kann sich vor Steuereinnahmen derzeit kaum retten.“ Was macht man da ohne jede Rettungsweste am gescheitesten? Flüchten vor der Geldflut? Der Steuerwelle? Aber wir wissen ja, Flut und Welle sind Pfuiwörter. Darf man nicht sagen. Diskriminiert die Steuereinnahmen. Schulden abbauen? Weniger am Länderfinanzausgleich lutschen? Nein, besser: Schulessen und Schülerticket kostenlos. Weil das den Eltern hilft. Knapp sechzig Euro im Monat mehr, mehr als 700 Euro im Jahr, da tanzt der Konjunkturbär ohne Nasenring auf seinem linken Bein. Nun soll es aber in Berlin laut ND sogar Menschen geben, die fragen nach der Qualität des kostenlosen Schulessens. Das geht gar nicht, streng gesehen. Was nichts kostet, kann nicht außerdem auch noch etwas taugen. Deshalb wird die Bahn ja immer teurer: weil sie mich 2018 neun- von zehnmal pünktlich nach Berlin fuhr. 

12. Dezember 2018

Natürlich hätte ich gestern wie jetzt wiederholen können, was ich für Montag schrieb: ich las heute  nichts, schrieb nichts, wollte nichts, aß (fast) nichts, trank eimerweise und hustete und hustete und hustete. Hätte ich ein empfindsames Mikrofon, hätte ich die lustigen Melodien aufnehmen können, die sich im Liegen meinen für die Atmung zuständigen Organen entrangen. Ich sah viel fern, das geht verbunden mit vollkommener Trägheit. Ohne diese fast antriebslose Apathie hätte ich meine Meininger Lieblingsschauspielerin nie gesehen in ihrer Nebenrolle als Schwester mit Häubchen und Rosenkranz zwischen den Fingern. Meine Neigung zur Arztserien ist fast noch geringer als die zu fuchtelnden Hiphop-Gestalten. Und die ist von Null schon nicht zu unterscheiden. Ich sehe sie im Theater lieber, logisch, verstehe aber, dass selbst fest engagierten Mimen hierzulande die Tauben nur als fleischarme Skelette ins Maul fliegen, da muss her, was kommt, wenn es nicht peinlich ist.

11. Dezember 2018

Natürlich enthält mein alter Literaturkalender den Geburtstag von Alexander Solshenizyn nicht. Als er erschien, war die Welt zwar nicht mehr in Ordnung, aber das reichte nicht aus. Zu den hektischen Final-Bewegungen der untergehenden DDR gehörten einige Buchausgaben, die während der 40 Jahre davor als undenkbar galten, so auch eine Taschenbuch-Ausgabe von „Ein Tag des Iwan Denissowitsch“. Solshenizyn ist in Kislowodsk geboren, wo 60 Jahre später zufällig mein Vater eine mehrwöchige Kur absolvieren durfte mitten unter im Kern gesunden DDR-Funktionären und betreut von unfassbar toleranten Sowjetärzten, und nie erfuhr, welchen Umständen er das verdankte. Meine DDR-Solshenizyn-Ausgabe hat im Lauf der Jahre an verschiedenen Regalorten gestanden, der Preis von 4,80 ist mit Kugelschreiber auf den Titel geschrieben, nur mein Interesse an Gulag-Enthüllungen hat im Lauf der Jahre so stark abgenommen, dass ich sie wohl nie mehr lesen werde.

10. Dezember 2018

Was mich gestern am zweiten Teil meiner normalen Oma-Transportmission hinderte, hindert mich heute an allem, selbst das Schlafen will nicht halbwegs gelingen. Las ich gestern immerhin noch 30 Seiten Gottfried Keller mit einem sympathischen Einstieg, der dann aber in einer analytischen Orgie deutenden Beschreibens verfloss, was Keller, das Schlitzohr, selbst bemerkte, und deshalb Zuhörer des geschriebenen Monologes einschlafen ließ, las ich heute gar nichts, schrieb nichts, wollte nichts, aß (fast) nichts, trank eimerweise und hustete und hustete und hustete. In deutlich jüngeren Jahren nahm ich in solcher Situation einmal Codein, was mich fast umbrachte, seither habe ich rezeptpflichtigen Medikamenten in dieser Sache abgeschworen. Ich nehme ohnehin viel zu viel Zeug, das mit seinen Nebenwirkungen nur darauf wartete, bis ich das Rentenalter erreichte. Ein Kurzausflug zum Bäcker, der montags geschlossen hat, führt mich alternativ zum Geldautomaten.

9. Dezember 2018

Zum zweiten Male hat einer unserer Rauchmelder Alarm geschlagen, diesmal war es das Reh in der Küche beim Anbraten. Mit hoher Professionalität sprang ich auf einen Stuhl, drückte den Knopf gegen den schrillen Ton, das Blinken hörte auf, als wir auf Durchzug setzten, was einigen leichteren Einrichtungsgegenständen in den betroffenen Zimmern durchaus grenzwertig bekam. Letzthin mundete die Rehkeule sehr, es war unsere zweite, wie ich am Tisch erfuhr, mein diesbezügliches Gedächtnis ist eher schwach. Das zweite Erkältungsbad seit gestern wirkt nur bedingt gegen die Erkältung, aber wunderbar gegen meine Schmerzen im rechten Fuß. Umgekehrt wäre besser: etwas Salbe am Fuß und ich huste nicht mehr, als wolle ich partout meine Bronchien auf dem Teppich liegen sehen. Das Schöne an Regionalzeitungen, die ich fürs Archiv durchsehe: es gibt kaum etwas zum Ausschneiden, die Agenturmeldungen im Feuilleton kenne ich schon, mehr interessiert selten.

8. Dezember 2018

Fast auf den Tag ein Jahr ist es her, dass ich das Theater Rudolstadt besuchte, auch schon die Aushilfsspielstätte Stadthaus, die alles anderes als behelfsmäßig wirkt. Erstmals nutzte ich jetzt die komplette neue Straße von der A71 her, es fährt sich gut und es scheint, als hätte der sonst mit Neubaustrecken verbundene Unfalleffekt noch nicht zugeschlagen, obwohl alle, aber auch wirklich alle, deutlich zu schnell unterwegs sind. Noch immer kostet ein Theaterprogramm in Rudolstadt einen einsamen Euro, noch immer glauben sich Zuschauer berechtigt, die Dame an der Abendkasse in endlose Gespräche zu verwickeln und sich dabei weit hineinzubeugen in den verglasten Raum, in dem ein Mann derweil seine Hände über dem Bauch gefaltet hält, was er immer noch tut, als die Vorstellung nach zwei Stunden inklusive Pause beendet ist. Immerhin hat er zwischenzeitlich offenbar ein Kreuzworträtsel bearbeitet. Zweimal Theater kommt noch 2018: Meiningen, Coburg.

7. Dezember 2018

Parteitage mit drei nennenswerten Kandidaten, schließlich Stichwahl, da muss doch dem letzten Beobachter eine Träne kullern. Tagelang jeden Abend sämtliche greifbaren Mitarbeiter des Orakels von Delphi, die kaum Platz hatten für ihren je eigenen Teufel, sie an die Wand zu malen, die schon immer voller Teufel ist. Schon wieder eine Frau an der Spitze der CDU, nun nicht aus dem Osten, aber aus dem äußersten Westen, wo seit längerem Oskar Lafontaine seine Heimspiele verliert und Erich Honecker leider seine letzte Ruhe nicht finden konnte. Für Verlierer ist Demokratie immer Scheiße, weswegen die Verlierer in Afrika die Wahl vorher immer schon vorsorglich anzweifeln und wenn gar nichts hilft, einen Bürgerkrieg anzetteln. Friedrich Merz wird sich wohl am Anblick seines jeweils jüngsten Gehaltskontoauszugs trösten, Jens Spahn ist immer noch Minister und kann sich unsterblich machen mit Rücknahme des 2004er rot-grünen Großbetrugs an uns Alters-Versicherten.

6. Dezember 2018

Selten fahre ich seit 2010 mit dem Auto zum Bäcker und meine Zeitungen holen, heute schon, es beschleicht mich ein leises Unwohlsein mit dauerndem Hustenreiz. Das hat den Vorteil, auch schnell wieder zu Hause zu sein. Ich sehe die gestern geschaffene neue Ordnung im kleinen Flur, nicht weniger als 80 Hefte der FONTANE-BLÄTTER stehen da jetzt in Reih und Glied, nur die alten TEMPERAMENTE mussten eine Umsiedlung erleiden, ich verordnete ihnen Migration in den Keller. Mein Exemplar ist vollständig und wacht nun über den hausgemachten Marmeladen. Noch ehe die Vorübung aufs doppelte Rentnerleben beginnt, habe ich „Ellernklipp“ zu Ende gelesen, in Berlin begonnen und kleinportionig verdaut. Die Datei dazu wächst nur langsam, weil ich heißen Tee trinken muss mit Honig und Müdigkeit mich beschleicht, immerhin mache ich Bekanntschaft mit einem adligen Heimatgeschichtler aus Wernigerode, der 1978 schrieb, als wäre es noch 1850.

5. Dezember 2018

Wann zuletzt sah ich einen kompletten Film auf Sat1? Es muss zu Zeiten gewesen sein, als es der Kumpel noch jucken ließ und das Jodeln in der Lederhose stattfand. Seither neige ich zu den Sendern, die mir einen Film nicht mit Werbung unterbrechen. Gestern aber nahm ich 34 Minuten Werbung auf 91 Minuten Netto-Filmlänge in Kauf und war gar nicht genervt. Was nun? Bin ich älter geworden, die Blase schwächer, die Pause also willkommener? Älter, nun ja. Aber sonst? Ich bin in jeder Pause aus meinem Fernsehsessel in mein Arbeitszimmer geschritten, nahm dort die bereit liegende Papierschere, um zu archivierende Artikel auszuschneiden. 34 Werbeminuten, von der Ansage begrenzt: Gleich geht es weiter, ließen mich sage und schreibe fünf Zeitungen beenden, ein großer Stapel wurde kleiner, ein kleinerer wuchs und am Ende war der Anwalt der Mörder. Die Ausschnitte müssen nun natürlich noch sortiert werden nach Maßgabe meiner vielen Archivordner.


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