Tagebuch
6. September 2023
Wenn die „Junge Welt“ einen Mann bejubelt, den das, was manche Menschen aktiveren Hirns den politisch-medialen Komplex nennen, zurzeit steißtrommlerisch gern als Antisemiten oder auch als Putinisten bestempelt, dann scheint fast alles klar. Ist es aber nicht, denn der bejubelte Mensch, der heute 80 Jahre alt wird, ist Roger Waters. Der gehört zwar schon lange nicht mehr zu Pink Floyd, aber auch andere gehören schon lange nicht mehr zu Pink Floyd. „We don‘t need no education“ kennt jeder, sage ich mal im Brustton intellektueller Überzeugung, man selbst sei immer auch jeder. „Leave the Kids alone“. Das ist heute keine gute Forderung mehr, heute sollen die Kids möglichst Körner essen, wenn nicht fischfreie Fischstäbchen. Und sie sollen glauben, dass Deutschland kein Energie-Problem hat, warum auch?? Also, hau rein, Roger, Dein Gesang war nie meine Sache, ich hielt es mit David Gilmour. Auf dem Weg in ein paar Tage Urlaub will ich mal reinhören in Euch.
5. September 2023
„Kanzler gestürzt!“ In wie vielen Redaktionen hätte solch ein Satz zu spontanen Samenergüssen geführt? (Was durchaus als diskriminierend gelesen werden darf gegen jene, denen das nicht mehr automatisch gegebene biologische Geschlecht aufgrund einer Zuschreibung selbigen Erguss versagt.) Er ist aber nur hingefallen, genau auf sein Auge und das beim Sport. Was mich aus dem unangenehmen Gefühl befreit, mit meinen profanen Stürzen auf das rechte, drei Wochen später das linke Knie, nur einer zu sein, den es gar nicht so schlimm erwischt hat. Weshalb die Nachrichten, die ihre Häme hinter Langberichten über die Häme anderer verbargen, mich einfach nicht in ihr Blickfeld bekamen. Heute ist nebenher noch der 290. Geburtstag von Christoph Martin Wieland, dem Jan Philipp Reemtsma kürzlich die erste Biographie seit 70 Jahren widmete (so die Werbung), angeblich lang erwartet. Reemtsma hat sich tatsächlich vor allem selbst beschenkt: zu seinem 70.!
4. September 2023
Die Gesamtmenge alkoholhaltiger traubenbasierter Getränke, darunter sogar Beerenauslese, die mich Ahnungslosen an Sherry erinnerte, führte gestern zu einem seltenen Phänomen: unser Tatort-bezogener Weinbedarf wies auf einer Skala von Null bis Elf eine glatte Null aus. So folgten wir dem Geschehen um Ulrike Folkerts und Lisa Bitter ohne Wein, obwohl doch der Sonntag seit Einführung des Julianischen Kalenders oder etwas später unser Muskateller-Tag ist. Jeden Sonntag ein anderer natürlich. Nun denn. Der gestrige geht heute ins Rennen, was kein Dammbruch ist. Wie wir überhaupt meinen, man solle nicht jeden Scheiß zum Dammbruch ernennen, die Weggespülten echter Dammbrüche könnten sich diskriminiert fühlen, soweit sie nicht gleich ersoffen sind. Aus Dresden hören wir, dass dort „Der Besuch der alten Dame“ mit einem jungen männlichen Darsteller gezeigt werden soll. Bald als Hund von Baskerville eine Promenadenkatze im Leib eines Iltisses?
3. September 2023
Nachtrag: Die abendliche Weinprobe schlägt alle Weinproben, die wir kennen und vermutlich auch die, die wir nicht kennen. Wir werden zum Quartier gebracht, auch wieder abgeholt. Dem Frühstück folgt ein Sektfrühstück mit mitgebrachten Thüringer Bratwürsten aus Unterpörlitz, Chorgesang für den Senior-Chef im Ruhestand, der ein letztes öffentliches Solo singt für seine Tochter, die vor vierzig Jahren die Weinkönigin war und uns verwöhnt, als wären wir eine etwas aus den Nähten platzende Schar von Kindern. Es ist Kirchweih im Dorf, das wir nun erst ausführlicher erkunden. Weinberge überall, aber auch krähende Hähne. Meine App belobigt mich, weil ich sie jetzt 60 Tage in Folge nutzte, was mich zu Level 3 führte. Heute neu nur die Lorbeerkirsche, die man auf keinen Fall essen sollte. Wir starten, weil wir uns schwer trennen können, fast eine Stunde später, sind aber dennoch fast planmäßig wieder in Ilmenau. Jede Weinkiste ist mit Namen versehen, das hilft sehr.
2. September 2023
Nachtrag: Die Gegend ist neu für uns, auch wenn wir inzwischen schon an die 50 Sorten Wein von dort getrunken haben. Die Einladung zur Busreise bekommen wir seit einigen Jahren, immer stand ein anderer Termin im Weg. Nun endlich klappt es, etliche der Mitreisenden kennen wir, einige sehr gut. Wir steigen in Bad Kreuznach aus dem Bus, wo uns nach einer frei verfügbaren Pause eine Stadtführung erwartet. Im Kurviertel atmen wir Sole ein, die ein Zerstäuber in die Umgegend bläst, sitzen vor den Gradierwerk-Teilen, meinem miesen Husten tut das mehr als gut. Ich belichte in der Kurhausstraße eine Buntnessel, einen Gedenkstein für Friedrich Müller, der als Maler Müller ein wenig bekannt ist, in Kreuznach geboren am 13. Januar 1749, später noch das Schild an dem Haus, das als sein Geburtshaus gilt. Auch an Friedrich Christian Laukhard wird erinnert, der am 28. April 1822 in Kreuznach starb. Fröhlicher Empfang in Sommerloch, unser Quartier liegt in Braunweiler.
1. September 2023
Eine Eintragung vom 1. September 1973 gibt es nicht im Tagebuch, dessen allererster Band die Zeit vom 19. September 1971 bis zum 6. Dezember 1973 umfasst mit vielen großen Lücken. Die größte Lücke erhielt später den Titel „Kulturschock NVA“ und wurde ein Buch im Chr. Links Verlag. Jetzt auch schon wieder zehn Jahre her. Immerhin finde ich unter dem 19. September 1973 den Grund für mein knapp vierwöchiges Schweigen. Es war die siebente und letzte gemeinsame Ungarn-Reise mit meinen Eltern, angetreten am 30. August, beendet am 17. September. Vergeblich versuchte ich, in Ilmenau Reiner Kunzes „Brief mit blauem Siegel“ zu ergattern. Vergriffen, hieß es. Mein Exemplar entstammt der zweiten Auflage von 1974 und gehörte zuvor Dominique Krössin, die heute, wenn es keine Namensgleichheit gibt, Bezirksstadträtin für Schule, Sport und Kultur in Pankow ist. Da ich morgen in Bad Kreuznach und Umgebung auf Weinreise bin, verordne ich mir ein Kurzschweigen.
31. August 2023
Die Abendausgabe der Vossischen Zeitung vom 31. August 1933 meldete auf ihrer zweiten Seite: „Theodor Lessing ermordet“. Die Korrespondenz aus Marienbad wusste: von einer Leiter an der Villa „Edelweiß“ aus wurden zwei Revolverschüsse abgefeuert, einer traf ihn am Kopf. Lessing starb im Marienbader Krankenhaus um 1 Uhr nachts, heute vor neunzig Jahren also. Für mich steht der Verfasser von „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“, „Die verfluchte Kultur“, aber auch von „Meine Tiere“ und „Blumen“ auf der Verlustliste des Jahres 2022 ganz oben, ich hätte sehr gern zu seinem 150. Geburtstag am 8. Februar geschrieben. Als ich das nicht zu Ende brachte, vertröstete ich mich auf den heutigen Tag. Und wieder kein Ergebnis. Immer drängen sich andere Themen und Dinge vor, am Ende funkt nun sogar der so genannte Gesundheitszustand dazwischen. Als ich Ende März/Anfang April für eine Woche in Marienbad kurte, vergaß ich sogar, nach Spuren zu schauen.
30. August 2023
Natürlich bin ich auf der Suche nach etwas anderem auf dieses Datum gestoßen: am 30. August 1953, ich war eben ein halbes Jahr alt geworden und entwickelte keinerlei Interesse für das ARD-Programm des Westens, übertrug selbiges erstmals den „Internationalen Frühschoppen“, den Alt- Nazi Werner Höfer moderierte. Weil die Sendung jeden Sonntag von meinem Großvater Reinhold gesehen wurde, sah auch ich sie, wenn ich in Mühlberg bei ihm zu Gast war. Das geschah recht häufig, ich ging in Mühlberg sogar phasenweise zur Schule. Haften geblieben ist nichts als das Bild ewig rauchender Männer. Höfer hat auch Theaterkritiken geschrieben und vor allem kein schlechtes Gewissen gehabt. Als Albert Norden 25 Jahre vor dem immer alles aufdeckenden SPIEGEL einen besonders widerlichen Fall aus Höfers Leben aufdeckte, interessierte das im Westen niemanden, denn es war ja nur Propaganda. Wir haben daraus gelernt: Propaganda treiben immer die anderen.
29. August 2023
Gern erwecken forschende Wissenschaftler, wenigstens aus den Bereichen, die mir bisweilen wichtig werden, den Eindruck, als wären sie nie auf die Idee gekommen, ein Buch zu schreiben, wenn nicht Freunde, meist zahlreiche, sie dazu gedrängt hätten. Wie übersichtlich wäre unsere Romanliteratur, bedürften deren Verfassende solcher Dränger. Aber es ist eine Seuche: ein jeglicher jeglichen Geschlechts, dem nicht gleich nach einer halben Seite der Stift aus der Hand fällt oder die Langnägel an der Tastatur des Laptops abbrechen, wirtschaftet an seinem ersten, wahlweise zweiten bis siebenten Roman. Eben las ich, wie sich Julius Vogel gedrängt fühlte, über Käthchen Schönkopf zu schreiben und zwar fast schon, als er noch zu Füßen von Gustav Wustmann saß. Das müssen Zeiten gewesen sein: zu Füßen! Im Übrigen gewannen nicht nur 38, sondern 46 Länder Medaillen in Budapest, der ARD-Videotext diskriminierte glatt acht Länder mit nur je einer Bronzemedaille.
28. August 2023
Nun ist es amtlich: man kann das schlechteste Ergebnis aller Zeiten aus dem Vorjahr doch noch toppen: durch das allerschlechteste Ergebnis aller Zeiten: weniger als null Medaillen hat freilich nie ein Land gewonnen, weshalb wir nicht traurig sein müssen: nur 38 Länder liegen vor uns, wir waren mal eine Sportnation. Dafür bekommen jetzt auch kleine fette Buben, die bei den Bundesjugend-Spielen sich die Kugel auf die Füße warfen im Kugelstoßen und kleine fette Mädchen, die das 60-Meter-Ziel erreichten, als die Siegerinnen schon in die vegane Bockwurst bissen, jetzt alle eine Urkunde. Man darf sie nicht diskriminieren. Was im Fußball dazu führen wird, dass man ohne je ein Tor geschossen zu haben, sich gute Chancen auf die silberne Torjägerkanone ausrechnen darf: ab hundert Fehlschüssen pro Saison wird man zur Wahl der Sportler des Jahres geladen. Dafür endete gestern die Zeit der alten Krimis am Sonntagabend: Claudia Michelsen war Brasch in Magdeburg.
27. August 2023
Wird Leipzig am 27. August kommenden Jahres der letzten öffentlichen Hinrichtung innerhalb seiner Mauern gedenken: Johann Christian Woyzeck verlor im Sitzen seinen Kopf mitten auf dem Markt, mehrere tausend Leipziger schauten zu, die Kinder hatten schulfrei? Immerhin hat Georg Büchner diesen Mörder zum Vorbild seines „Woyzeck“ genommen, der auf deutschen Bühnen Jahr für Jahr wieder irgendwo neu inszeniert wird, obwohl er kein Roman ist. 200 Jahre „Rübe runter“ als Innenstadt-Event? Nein natürlich nicht, zumal am Folgetag ja eines Mannes zu gedenken ist, der als Minister auch ein Todesurteil unterschieb und daraus eine Gretchen-Tragödie bastelte oder so ähnlich. Johann Wolfgang, genau, trieb in Leipzig ebenfalls eine Weile ein galantes Rokoko-Wesen, steigerte sich dort in eine Liebes-Fiktion, die den Biografen mit allerschönster Regelmäßigkeit ein mehr oder minder selbständiges zweites oder drittes Kapitel abnötigt: über Käthchen-Mädchen.
26. August 2023
Ins Theater nach Trier habe ich es nie geschafft, dennoch schickt mir das Haus sehr regelmäßig seine Monatsprogramme. Ich bin im Verteiler, wie das so schön heißt, weil ich vor Jahren nach eventuell noch vorhandenen Programmheften zu Schiller-Inszenierungen fragte. Wie bei anderen deutschsprachigen Häusern auch. Nahezu alle halfen mir damals, nur ihre aktuellen Programme schickten sie mir später nicht. Die erste Premiere der neuen Spielzeit, die in mein Ressort fiele, wäre „Die Leiden des jungen Werther“. Meine Neugier darauf wäre nicht größer, wenn der erste und einzige Welt-Bestseller Goethes in Arnstadt gezeigt würde. Es war halt ein Roman und ich bin da eisern. Selbst wenn Goethe es selbst dramatisiert hätte. Hat er aber nicht. Ist auch nie auf diese Idee gekommen. Die Herren Jürgen Fuchs, Gerulf Pannach und Christian Kuhnert wurden am 26. August 1977 zwangsweise aus der DDR in die West-Freiheit versetzt. Was ihnen nicht viel half.