Tagebuch

21. Dezember 2023

Nachtrag: Als Lion Feuchtwanger am 21. Dezember 1958 in Los Angeles starb, war seine weltweite Lesergemeinde riesig, seine deutschsprachige Neidergemeinde immer noch groß. Ich bin mit ihm großgeworden: im Bücherschrank meiner Eltern immer gut sichtbar: „Goya oder Der arge Weg der Erkenntnis“ und „Die hässliche Herzogin“, „Jefta und seine Tochter“, „Die Jüdin von Toledo“ und „Die Füchse im Weinberg“. Ergab sich die Gelegenheit, schenkte ich meinen Eltern Feuchtwanger zu Geburtstagen oder zu Weihnachten: „Die Josephus-Trilogie“ in drei Bänden, „Jud Süß“, „Die Brüder Lautensack“. Mir selbst behielt ich die Dramen vor, den Briefwechsel mit Arnold Zweig, „Moskau 1937“, „Der Teufel in Frankreich“, „Der falsche Nero“, die Tagebücher und als letzte Neuanschaffungen vor noch ganz nicht langer Zeit: „Briefwechsel mit Freunden“ und „Centum Opuscula“ aus dem Rudolstädter Greifenverlag. Dort las ich eben erst Kritiken zu Wassermann.

20. Dezember 2023

Nachtrag: Zwar starben beide am 20. Dezember 1968, nur der eine mit 84, der andere mit nur 66 Jahren. Der eine in Tel Aviv, obwohl er ein Prager war, freilich auch ein deutscher Jude, der andere in New York City, obwohl er ein Kaliformier war aus Salinas. Der jüngere bekam den Nobelpreis, der ältere rettete Kafkas Nachlass und verhalf damit Heerscharen zu akademischen Titeln, zu stolzen Buchpublikationen, vor allem aber sehr vielen Nur-Lesern zu Lektüre-Erlebnissen der nun wirklich besonderen Art. An den jüngeren denke ich einmal im Jahr völlig unvermeidlich, denn sein Geburtstag ist auch mein Geburtstag, beim anderen schlage ich öfter nach: in „Streitbares Leben“, seiner Autobiographie, und in „Der Prager Kreis“ mit Nachwort von Peter Demetz. Max Brod und John Steinbeck also. Von letzterem besitze ich so ziemlich alles, von Brod nur noch den Roman „Der Meister“ und „Verzweiflung und Erlösung im Werk Franz Kafkas“ aus dem fernen Jahr 1959.

19. Dezember 2023

Nachtrag: Armin Eichholz, ich gebe es zu, ging mir, als ich zuerst gelegentlich in seinen beiden Kritikensammlungen las, die er im Untertitel „Münchner Theatertagebuch“ nannte, eher auf die Nerven. Seit gestern lese ich ihn systematisch und da kommt er schon ganz anders daher, ein wenig manieristisch bisweilen, aber wer mit Ehrgeiz ist nicht ein wenig manieristisch. Eichholz starb 2007 im Weihnachtsurlaub, was man niemandem wünscht. Ob freilich ein Ostertod deutlich angenehmer ausfällt, wage ich zu bezweifeln. Immerhin ist er 93 Jahre alt geworden, für Kritiker, die nicht zeitig erschlagen wurden, ein stolzes Alter. Von Goethe, wem sonst, stammt „Schlagt ihn tot, den Hund! Er ist ein Rezensent.“ Die größten Feinde der Elche waren früher selber welche, wir erinnern an die „Frankfurter Gelehrten Anzeigen“, in denen der schnöseljunge Johann Wolfgang über alles herfiel, was sich nicht gleich wehren konnte, denn er schrieb anonym, wie es damals verbreitete Mode war.

18. Dezember 2023

Nachtrag: „Hockenjos“ kannte ich schon, bevor ich den Einakter heute als fünften und letzten der Wassermann-Einakter las. Aus Kritiken und Wassermann-Darstellungen. Auch die alte Marotte des Autors, seltsam bis kurios sprechende Namen für sein Personal zu erfinden: Nothafft oder auch Wahnschaffe heißen sie in der Prosa, hier muss ein Bildhauer mit dem Namen Mettenschleicher leben, also: auf der Bühne leben. Das aber bleibt ihm seit langem erspart, denn niemand spielt mehr einen Wassermann, Einakter sind generell aus der Mode gekommen, dafür werden Romane oder gar erfolgreiche Filme auf die Bühnen gezerrt. „Neun Zehntel unserer Berühmtheiten verdanken ihren Glanz dem Notizenmangel einer Zeitung oder dem Hang nach Redensarten, der in den Leuten von der Feder steckt.“ Sagt just dieser Mettenschleicher im Text und ist damit wohl noch immer nicht ganz aus der Aktualität gefallen. Der Journalist des Stückes heißt Bienemann, nicht etwa Drohne.

17. Dezember 2023

Nachtrag: Gut, dass ich heute „Lord Hamiltons Bekehrung“ von Jakob Wassermann las, die Nummer 4 aus „Die ungleichen Schalen“. Hätte ich das nicht getan, wäre Theodor Fontanes „Ein Sommer in London“ auf dem Haufen schlicht liegen geblieben, der mir etwas wie eine gestapelte Warteschleife darstellt. Dort gibt es ziemlich in der Mitte ein Kapitel, das „Lady Hamilton“ heißt. Die Hardcore-Fans von Th. F., die immer alles wissen, werden na klar sagen. Ich sage in meiner Entdecker-Naivität: früher oder später hätte ich es gemerkt, wahrscheinlich später. Lord Hamilton sagt übrigens bei Wassermann: „Man habe keine Leidenschaften unter der Würde des eigenen Standes. Und wenn man sie hat, so verberge man sie wie ein unappetitliches Geschwür.“ Der wirkliche Lord Hamilton traf in Neapel unter anderem auch unseren Goethe und Karl Philipp Moritz. Der Wahrheit die Ehre zu geben: die Lady bekehrte den Lord in Italien, nicht in England.

16. Dezember 2023

Nachtrag: Als dritten Einakter von Wassermann nach „Rasumowsky“ und „Gentz und Fanny Elßler“ lese ich heute „Der Turm von Frommetsfelden“ zu Ende, meine Notizen in eigener Datei nähern sich der 10-Seitengrenze. An Sekundärliteratur zum dramatischen Schaffen Wassermanns ist wenig zu berücksichtigen, es wird entweder ganz ignoriert, erscheint nur in der Literaturliste oder ist stiefmütterlich behandelt, wobei die Stiefmütter meist Stiefväter sind. „Mit Schwatzen und Auseinandersetzungen erreichen die Menschen nichts weiter, als dass sie sich so nahe rücken, dass sie keinen Platz mehr zum Atmen haben.“ Auch das einer der vielen pseudoanthropologischen Sätze des Meisters, über die man nicht näher nachdenken darf. Wassermanns irrlichternder Ehrgeiz, eine hauseigene Metaphysik zu basteln und in möglichst dunkle Sätze zu gießen, bleibt nicht auf seine Prosa beschränkt. Dass morgen schon der dritte Advent ist, ist dagegen pure Kalenderphysik 2023.

15. Dezember 2023

Nachtrag: Endlich mein Termin beim Orthopäden, hin werde ich gefahren, zurück laufe ich, was am Ende des Tages die fünften 10.000 Schritte in Folge sichern hilft. Mein linkes Knie, Verdachtsfall für einen zu operierenden Meniskus-Schaden, wird auf diverse Weise gebogen, geknickt, gedrückt und geschwenkt. Diagnose: es ist gesund. Womit die Ursache für meine Schmerzphänomene anders fixiert werden muss. Meine gute alte Spinalkanalstenose von 2022 könnte nachwirken auf diese oder jene oder alle Nervenbahnen, die zum Fuß laufen. Ich bekomme eine Überweisung zum MRT und eine zum Neurologen. MRT suche ich mir selbst und werde wieder nach Erfurt gehen, der Neurologe, ebenfalls in Erfurt, wird mir dezent empfohlen. Jetzt weiß ich ja: Anrufe sind zwecklos, e-mail hilft. Der Heimweg an den Stadtvillen vorbei Richtung Schwimmhalle und Eishalle ist eine gute Abkürzung. Zu Hause ist die freitägliche Feudel-Übung fast beendet, mein Zimmer nutzbar.

14. Dezember 2023

Nachtrag: Der unverwüstliche Lutz Herden schreibt heute im „Freitag“ zu Weihnachtsfeiern über die Westfrontgräben des I. Weltkrieges hinweg, auf dem illustrierenden Foto ein von zwei Eseln gezogener Nachschub-Transport, der Kutscher mit Peitsche, Stahlhelm und umgebundenem Weihnachtsmann-Bart. Am Ende zitiert Herden den als Ignaz Wrobel getarnten Kurt Tucholsky aus der „Weltbühne“ vom 7. August 1924, es war die Nummer 32, der Bericht hieß „Vor Verdun“ und war fast fünf Seiten lang. Da heißt es unter anderem: „Denn das Entartetste auf der Welt ist eine Mutter, die darauf noch stolz ist, das, was ihr Schoß einmal geboren, im Schlamm und Kot umsinken zu sehen.“ Es wäre mutig zu behaupten, dass solche Mütter inzwischen ausgestorben sind. Für eine ganze Zeitungsseite über linken Antisemitismus ist deutlich weniger Mut vonnöten. Mit Palästinensertuch um die Gurgel defilierten junge Einheitsdeutsche noch lange und länger.

13. Dezember 2023

Nachtrag: Der Vormittag zerhackt durch unseren Fußpflegetermin, der aber immerhin neben der zusätzlichen Runde über die Neue Welt ins Dorf zurück mit dem Kauf frischer Eier verbunden ist. Wir wissen von einer Frau, die zeitweise den ganzen Kühlschrank leer kaufte, um die Packung dann für 50 Cent mehr ihrerseits weiter zu verkaufen. Ein schönes Beispiel ländlicher Dreistigkeit. Jetzt kosten die Eier 3,50 Euro, die Raubkäufe haben aufgehört. Max Mell liefert mir Theaterkritiken zu Strindbergs „Fräulein Julie“, zu Gerhart Hauptmanns „Schluck und Jau“ und zu Franz Molnars „Theater“, einem Abend mit zwei Einaktern. Auch ich bin mal wieder bei den Einaktern. Ich begann „Die ungleichen Schalen“ von Jakob Wassermann doch systematisch zu lesen und nicht nur, wie ursprünglich geplant, den „Hockenjos“, dessen Langfassung noch Eloesser besprach. Von ihm ist eine ansehnliche Menge Text zu Wassermann inzwischen versammelt, Basis für Anfang Januar.

12. Dezember 2023

Nachtrag: Erst vier Tage in diesem Monat bin ich auf meine 10.000 Schritte gekommen, heute folgt Tag 5. Das stille Ziel von 15 Tagen ist noch locker erreichbar, wenn das Wetter mitspielt. Am 12. Dezember 1998 heftete ich die Abschluss-Quittung für unseren Peugeot ab, der damit vollständig abgezahlt war. Heute kaum noch Erinnerungen an diesen silbernen Wagen, dessen Kauf wir noch in Großbreitenbach abzuwickeln hatten, weil in Ilmenau die spätere Filiale erst gebaut werden musste. 1998 war ich noch Tee-Kunde bei Paul Schrader, der heute immer noch mit 400 Teesorten wirbt. Damals gab es als Geschenk zur Lieferung vor Weihnachten einen Tierkreiszeichen-Teller. Die Kataloge lagen noch lange in unserem Briefkasten, nachdem wir schon nichts mehr bestellt hatten. Von Schrader stammt meine mintgrüne Teekanne, die phasenweise sogar mit in den Urlaub reiste, wenn wir eine Ferienwohnung gemietet hatten. Ich war (und bin) einfach an ihr Maß gewöhnt.

11. Dezember 2023

Nachtrag: Lese ich heute, was ich vor zwanzig Jahren über das Gespräch mit meinem Personalchef notierte, keine Aktennotiz, sondern eben ein Tagebucheintrag, dann sehe ich, was ein Gedächtnis so verliert und was es behält. Ob vernichtende Sätze über unseren Chefredakteur, über unsere beiden Geschäftsführer als eine Art riskanter vertrauensbildender Maßnahme mir gegenüber gedacht waren oder einfach nur menschlich aus Frustration, weil er letztlich alles auszubaden hatte, auch vor Gericht, wenn es darauf ankam, erfuhr ich nie. Später war er abweisend, als ich noch einmal einen Wunsch hatte. Immerhin erfuhr ich erstmals, um welche Abfindung es für mich ging, erfuhr auch von Rechenbeispielen für eine bezahlte Weiterbeschäftigung. In der Redaktion zeigte mir meine Sekretärin, die noch meine Sekretärin war, das Weihnachtsgeschenk der Volksbank, das Südtiroler Weine enthielt, die ich mochte. Dafür schenkte ich den Kollegen das ganze Präsent der Sparkasse.

10. Dezember 2023

Nachtrag: Hätte die Süddeutsche Zeitung, zu deren Portfolio einst mein Suhler Laden gehörte und deren Anwälte mich später im Stich ließen, als es galt, zwei Mitarbeiter dingfest zu machen, die von ihren Firmencomputern aus gegen mich Stalking-Straftaten begingen, nicht eine Bibliothek von 50 Bänden herausgegeben, die 50 große Romane des 20. Jahrhunderts versammeln sollte, wäre noch heute Jorge Semprún auf meinen Regalen nicht vertreten. So aber steht „Was für ein schöner Tag!“ als Band 17 bei mir zwischen Camilo José Cela und Juan Goytisolo und wartet darauf, gelesen zu werden. Das Fernsehen hat ein Porträt, weil heute Sempruns 100. Geburtstag ist. Er wirkt eher wie der umtriebige und allpräsente Weltmann des Literatur-Jetset, was nicht ganz verwunderlich ist, weil er ja auch ein Kulturminister Spaniens war. In Weimar heißt der alte Sophienplatz, später Rathenauplatz, später Karl-Marx-Platz, später Weimarplatz, seit 2018 eben Jorge-Semprún-Platz.


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