Tagebuch
12. Februar 2018
Wer Professor ist, gar im Felde eines Orchideenfaches, sollte mit dem Wort „bekanntlich“ sorgsam umgehen. Was ihm bekannt dünkt, kennen nicht nur in jedem Normalfall sehr wenige, es darf gar begründet angenommen werden, der Ordinarius wolle nur die Exklusivität seines Spezialwissens dokumentieren. Lese ich zum Beispiel Sätze über das Erbfolgerecht des französischen Königtums, standesgemäß im sprachlichen Original zitiert, dann schaue ich augenblicklich im Apparat nach, ob der Zitierende wenigstens in der Fußnote für Leser wie mich, die des Französischen kaum mächtig sind, eine Übersetzung anbietet, idealerweise seine eigene, die so gleich noch seine Lesart kenntlich machen würde. Wenn aber „bekanntlich“ da steht, weiß ich: dieser Professor ist ein arroganter Kerl, dem Selbsterhöhung durch Herabsetzung anderer Handwerkszeug ist. Das alles drängt sich mir auf, während ich eigenem Triebe, nicht der Not folgend, im „Maria-Stuart-Meer“ segle, Land in Sicht.
11. Februar 2018
Ruhe war nicht die Haupteigenschaft des Frühstücks, dafür aber Breite des Angebots. Man sitzt mit Menschen aus Braunschweig, Frankfurt am Main und Ansbach an einem Tisch, die Menschen erzählen von ihrem Studium in Jena, von ihrer Tochter in Australien und ihrem Sohn in China. Im Theater war niemand von ihnen. Wir warfen einen Blick in die Frauenkirche, einen erweiterten Blick in den Kulturpalast und vom Hotelfenster einen knappen in den Innenhof. Wir sahen eine waschechte AfD-Kundgebung, es waren fast mehr Polizisten da als Demonstranten, eine ziemlich kleine Rednerin sprach in einer Art Pommes-Bude in ein Mikrophon. Die Polizisten hatten weiße Nummern auf dem Rücken, die Polizistinnen auch, ob weitere uniformierte Geschlechter anwesend waren, erschloss sich unseren Laien-Blicken nicht. Fast auf den Strich genau an der Landesgrenze gab es Wetterwechsel in beiden Richtungen, heimwärts die schlechtere Variante in Thüringen.
10. Februar 2018
Ein großer Schiller-Freund war Brecht nicht. Am 10. Februar 1948 feierte er seinen fünfzigsten Geburtstag, nicht ahnend, dass es einen sechzigsten für ihn nicht geben würde. Nicht ahnend wohl auch, dass ihn im Haus am Zürichsee, wo ihn die Geburtstagstelegramme erreichten, die dortige Bundesanwaltschaft überwachen ließ, dass die Post sogar Telefonabhörung installierte. Vom Tod seines frühen Idols Karl Valentin am Vortag nahm er offenbar keinerlei Notiz, ich fand jedenfalls keinen Hinweis darauf. Das Arbeitsjournal hupft vom 18. Januar gleich zum 1. März. Von allen in langer Reihe bei mir gehorteten Brecht-Büchern griff ich mir für den heutigen Sonnabend eines der schmalsten heraus: das von Willy Haas. Es gibt schlechtere Brecht-Bücher. Und Haas interessiert mich schon deshalb, weil er zur großen Prager deutschsprachigen Literatur gehörte. Ich sehe heute in Dresden „Maria Stuart“, von wegen Schiller. Frühstücke morgen in Ruhe im Hotel am Postplatz.
9. Februar 2018
Es gilt das Lob der Notlüge zu singen. Am 9. Februar 1888 setzte Theodor Storm den letzten Punkt unter sein letztes Werk: „Der Schimmelreiter“. Nachdem ihn eine Krebsdiagnose völlig verzweifelt gemacht hatte, spielte man ihm eine neue Diagnose vor, die die erste als Irrtum darstellte. Da kam Kraft zurück, die schon weg war. Die noch eben ausreichende Kraft. Sechzig Jahre später starb am 9. Februar Karl Valentin, dessen Zeit lange vorbei war, auch wenn er noch nicht 66 Jahre alt war. Man starb früher eher, wenn man nicht ein Erwählter war. Bei Storm denke ich immer zuerst an „Immensee“, weiß nicht einmal mehr, ob der „Schimmelreiter“ Pflichtlektüre in der Schule war. Zuletzt las ich seinen Briefwechsel mit Gottfried Keller. Zwei Monate vor dem 9. Februar, am 9. Dezember, schrieb Storm nach Zürich: „Der Geburtstag war ganz schön, wäre es nur nicht der siebenzigste gewesen …“. Eine Antwort aus der Schweiz kam nicht mehr. Keller schwieg einfach.
8. Februar 2018
Wer wie ich nicht in Faschingsterminen denkt, verpasst schöne Gelegenheiten, Freude zu spenden. Heute hätte ich eine meiner alten, schon lange nicht mehr getragenen Krawatten, vielleicht die aus Leder, die seit Jugendweihe-Zeiten irgendwo baumelt, schnippschnapp loswerden können in meiner Lieblingsbäckerei, wo die beiden freundlichen Damen hinter der Theke mich fröhlich begrüßten, und nach Schnippelschnappel-Möglichkeiten an Männerhälsen Ausschau hielten. Es ist, logisch, Weiberfastnacht. Ich erinnere Presserunden im Dienstraum des Oberbürgermeisters, wo passend zum Termin die Vorzimmerfurien hereinrauschten mit der großen Schere und die erwartungsvollen Fotografen ihre Geräte hochrissen. In meinem Lieblingszeitungsladen verabschiedete sich von mir auch jemand: Sie höre auf, sie wechsle an eine Stelle mit Urlaub, mit freien Sonnabenden. Wo sie nicht mehr täglich fahren müsse. Ich wünschte alles Gute, wie man das so macht, und etwas traurig.
7. Februar 2018
Die schlechten alten Zeiten, als ein Krypto-Sexist wie Kurt Tucholsky SPD ein wenig böswillig mit „Hier können Frauen Kaffee kochen“ übersetzte, sind vorbei. Jetzt heißt es: „Hier können Männer Außenminister werden“. Weil die Frauen dann nicht mehr Kaffee kochen, sondern den Vorsitz übernehmen, also nicht alle, sondern eine. Das aber reicht. Koalitionsverhandlungen sind kollektive Absprachen, wer wie viel Geld mehr ausgeben darf, als vorhanden ist. Alle an diesen Gießkannen-Runden nicht Beteiligten bemängeln hinterher die Abwesenheit von Visionen oder großen Würfen. Ich las derweil Uwe Kolbes „Brecht“ zu Ende, in dem seit dem 10. August 2016 das Lesezeichen auf Seite 108 steckte. Das „Rollenmodell eines Dichters“ ist für alle interessant, die sich wie der 1957 geborene Kolbe als „von Brecht Betroffene“ fühlen. Einen traf ich kürzlich in einem Theater, einen Professor, wo er mir sagte, er könne Brecht nicht mehr lesen. Einst promovierte er über ihn.
6. Februar 2018
Die Packungsbeilage muss ich in diesem Fall nicht lesen: Nebenwirkung unseres kurzen Harztrips im September nach Braunlage war die Entdeckung eines in Braunlage geborenen Schriftstellers, von dem ich zuvor nie etwas gehört hatte: Wilhelm Brandes. Er veröffentlichte vier Jahre vor seinem Tod am 6. Februar 1928 in Julius Zwitzlers Verlag in Wolfenbüttel ein Büchlein mit dem Titel „Braunschweigs Anteil an der Entwicklung der deutschen Literatur“. Wichtiger für mich: von ihm stammt auch ein etwas dickeres Büchlein mit dem Titel „Wilhelm Raabe. Sieben Kapitel zum Verständnis und zur Würdigung des Dichters“. Ich erwarb mir umgehend antiquarisch die zweite durchgesehene und erweitere Auflage, gedruckt in der Fürstlich priv. Hofbuchdruckerei (F. Mitzlaff) Rudolstadt. Vorn drin klebt ein Jugendstil-Exlibris, leider ohne Namen. Aus gegebenem Anlass bekunde ich, von 1975 bis 1980 Student gewesen zu sein, ein Studierender war ich damals oft auch.
5. Februar 2018
In einem der gestern noch unberührten Haas-Bücher lese ich heute: „Was so in der Welt als „große Humoristen“ figuriert, ist im allgemeinen eine recht melancholische Gesellschaft, kaum einer ist so zum Bersten voll von Gelächter, dass er uns zu wirklichem Lachen – nicht nur zu abstraktem Lächeln, Lachen-wollen oder bösem Grinsen - hinreißt.“ Um wie viel schlimmer steht es dann erst mit den kleinen Humoristen! Willy Haas hat in diesem Jahr übrigens nur die Spur eines Jubiläums, deshalb kann ich reinen Gewissens aus einem 2005er Artikel von Peter Stephan Jungk zitieren, der kurz vor Weihnachten 65 wurde, Sohn von Robert Jungk übrigens: „Seine heute 98jährige Witwe besucht sein Grab sehr selten und gar nicht gerne: „Es ist dort so einsam“, sagte sie mir dieser Tage am Telefon.“ Als ich mir den Ohlsdorfer Friedhof anschaute, Haas hat dort die Grablage AD 5, 124, war ich vor allem auf der Suche nach Wolfgang Borchert. Aber ich komme wieder, das steht fest.
4. Februar 2018
In Kombination von Jever vom Fass mit Williams Christ entstehen bisweilen mehr Wirkungen als Nebenwirkungen. Während wir den langen, man könnte auch sagen: sehr langen, Weg von der Sportlerklause bis auf die Ilmenauer Golan-Höhen nahmen, begegneten uns unterwegs nur Fuchs und Hase auf dem Rückmarsch vom Gutenachtsagen. So verwandelte sich der längst angebrochene Sonntag in einen Wechsel von Schlaf- und Essphasen, die kühn geplante Beendigung eines Buches von Willy Haas scheiterte nach einem Dutzend Seiten mitten in der Behandlung von Bert Brechts Lehrstücken. Sogar meine Sonntagszeitung liegt noch an der Tankstelle. Unberührt bleiben die beiden anderen Haas-Bücher, die ich zum Vergleich konsultieren wollte. Dem Schnee wehrten wir nicht wie kürzlich mit schwerem Gerät, das Vorbild der Nachbarn beeindruckte nicht. Nachtkritik hat eine einzige Premiere von gestern. Es gab wohl keine interessanten Romane auf unsern Bühnen.
3. Februar 2018
Ich dachte, es lässt sich vermeiden. Aber es geht nicht: Welche Zeitung ich auch immer aufschlug, welches Magazin oder Wochenblatt, nun sogar meine regionale Regionalzeitung, die mir zerknüllt und verspätet ins Haus gebracht wird und, die größte aller Schrecksekunden, kürzlich selbst die TAGESTHEMEN, alle füllen halbe, dreiviertle und ganze Seiten und mehrere Sendeminuten mit einer Band, die ich nur aus den Feuilletons kenne: Tocotronic. Jedes neue Album reißt gleich im Dutzend schreibende Textbegeisterte von ihren Sesseln. Einmal versuchte ich, von diesen singenden Diskurs-Buben etwas zu hören, aber ich hielt es keinen Titel lang aus. Dunkel erinnere ich mich an schrubbelnde Gitarren und irgendetwas wie Paul Celan on Stage. In meiner Parallelwelt kenne ich niemanden, der je Tocotronic hörte und als ich dann gar das Wort Diskurs-Rock vernahm, Diskurs ist das Wort, das mich hart an die Harnverhaltung treibt, wusste ich: lieber singende Tele-Tubbies.
2. Februar 2018
„Aus lauter Hass auf das Alter wurde sie alt, aus lauter Abscheu vor dem Tod lebte sie fast länger als ein Jahrhundert.“ Das schrieb Hermann Kesten über Annette Kolb, deren Geburtstag heute ist, deren 50. Todestag Anfang Dezember war und vorüber ging. Die Tagesthemen wussten gestern von einem syrischen Wunderkind zu berichten, das von seinem Großvater Ibrahim aus dem Gefängnis nach Deutschland geholt wurde, weil es sonst hinter Gittern aufwüchse, wohin die Mutter wegen Zugehörigkeit zum IS weggesperrt ist. Das jetzt 14 Monate alte Kind, war zu hören, kannte seinen Großvater bisher nur aus Erzählungen. Nun wird es ihn kennen lernen, den netten Alten. Als meine Kinder 14 Monate alt waren, später meine Enkel, kannten sie nichts und niemanden nur aus Erzählungen, sie waren einfach zu jung fürs Narrativ, wie man heute ja sagen muss. Die Geschichte aber, diese tückische Macht, wird uns alte Germanen deshalb wohl aus ihren Beständen tilgen.
1. Februar 2018
Auf Fotos sieht man Muriel Spark immer wieder nach ihrer Brille greifen. Sie fand die Geste wohl fotogen oder ihre Fotografen schauten sich dies voneinander ab. Die Idee ist sicher nicht geschützt vom Urheberrecht. Die Schottin war schon 87 Jahre alt, als sie zum ersten Mal in Deutschland aus ihren Büchern las und sah bei diesem Besuch auch Weimar. Sie soll, lese ich, bis zuletzt alle ihre Manuskripte mit der Hand geschrieben haben und zwar nur mit Stiften, die vorher noch niemand berührt hatte. Die Wenigen, die mein Verhältnis zu Bleistiften kennen, wissen, warum ich dies voller Sympathie zur Kenntnis nehme. Von ihren mehr als zwanzig Romanen besitze ich nur zwei, die ich aber auf keinen Fall vor ihrer Mary-Shelley-Biographie lesen werde. Nach ihrem Tod am 13. April 2006 gab es reihenweise freundlichste Nachrufe, die wohlsortiert in meinem Archiv landeten. Was der heutige 100. Geburtstag bewirkt, fällt schon deutlich bescheidener aus. So läuft das eben.