Tagebuch

13. August 2019

Am 13. August 1961 hatte ich Ferien, am 13. August 1999, einem Freitag, entdeckten wir eine Blindschleiche, die sich versteckte und hervorkam, zweimal gelang mir ein Schnappschuss. Pfand auf schwedische Bierbüchsen beeindruckte mich, der 50.000. Kilometer mit unserem Peugeot blieb dem Abreisetag gen Gotland vorbehalten. Johann Elias Schlegel hat heute 270. Todestag, was nach dem 300. Geburtstag am 17. Januar bedeutet: er ist gerade einmal 30 Jahre alt geworden. Das Buch aus dem Weimarer Arion Verlag in der Reihe „Textausgaben zur deutschen Klassik“, welches mein einziges von ihm ist, dafür 655 Seiten stark, bleibt provokant in Sichtweite, mehr geschieht mit ihm vorerst nicht. Es scheint beim Nachsuchen, als sei dieses Buch das einzige in der Reihe gewesen, was 1963 dies oder jenes bedeutete, von dem ich nichts weiß. Nach vier Jahren Grundschule kann jedes fünfte Kind in Deutschland nicht richtig lesen, lese ich. Es ist nicht schade um uns, denke ich.

12. August 2019

Der Montag erlaubt einen Blick auf die schwedischen Fotos von vor zwanzig Jahren. Da stehen die neuen Biersorten aus Ronneby, erst 14, dann noch einmal 11, da liegt der Sohn mit Jules Verne auf dem Bett, da arbeitet die Tochter als brave Studentin am Küchentisch. Vom Vortag sehe ich rote Seerosen und Wisente in Eriksberg, wir drehten zwei Runden, ehe wir sie sahen: wuchtige Tiere  im Schilf, die von uns keine Notiz nahmen. Ich durchforste meine Bestände im Archiv zu Elias Canetti, finde anhand der Bibliographie in Büchern und Zeitschriften mehr, als ich vermutet hätte. Im guten alten DDR-Buch „Österreich heute“ Aufzeichnungen aus dem Jahr 1971, fast Satz für Satz einfach nur begeisternd. Annemarie Auer hat keineswegs nur Christa Wolf gemobbt, sie schrieb auch zu Canetti und das sogar mehrfach und ausführlich. Noch der Feuilletonist Richard Christ (1931 – 2013) begann mit einem kokett selbstkritischen Blick seine Canetti-Lektüre anno 1982 im August.

11. August 2019

Abreisetag schon wieder, wir haben leichte Mühe, alles, was vorher in zwei Kofferräumen Platz fand, in einem Kofferraum zu verstauen, etwas muss auch auf den Rücksitz. Die Stunde Fahrtzeit bis Ilmenau ließe auch kompliziertere Transport-Lösungen zu, so aber geht alles wie im Logistik-Zentrum geplant. Der eigens aus Dresden gecharterte Transfer-Fahrer ist Verwandter ersten Grades, mehr erlaubt der Datenschutz nicht zu sagen, und er hat 1.45 Stunden von Dresden bis Ilmenau gebraucht, was man ein zügiges Fahrtempo nennen könnte. Wir brauchen in umgekehrter Richtung meist länger, was uns selten beunruhigt. Am Abend ist endlich die Krimi-Sommerpause zu Ende, es gibt Claudia Michelsen, die ich sehr mag, und Matthias Matschke, den ich nicht ganz so sehr mag, was mit seinem Vornamen nichts zu tun hat. Die Post enthielt zwei sehr dünne Bücher, einen nicht ganz dünnen Katalog und die üblichen Presseerzeugnisse, den Rest holte ich an der Tankstelle ab.

10. August 2019

Das Damenprogramm sieht heute einen Einkaufsbummel in Staffelstein vor, während wir der Lektüre frönen. Das Damenprogramm endet vorzeitig wegen einer seltsamen Anzeige im Cabrio-Display, die sich in einer Audi-Werkstatt in Bamberg klären soll. Dort erst ein Weiterverweis, dann ein Test, der sich „Auslesen“ nennt. Es folgt die vorübergehende Ausmusterung des muckenden Gefährts, Umstieg des betroffenen dynamischen Duos in unseren pannenfernen C-HR, der uns zum Schloss Seehof bringt, wo einst der Fürstbischof aus Bamberg seinen Sommersitz hatte. Auf dem Gelände könnte man heute Europa-Parlament und sämtliche Nebengebäude unterbringen und hätte immer noch genug Platz für schießbare Hirsche oder Skulpturen wie einst. Wenn der Bayerische Staat für so etwas Geld ausgibt, wollen wir dem Gott des Geldausgebens danken, dass er keine Blitze vom Himmel sandte und auch nicht die Verantwortung an den Landesrechnungshof abgab.

9. August 2019

Mehr als eine Stunde brauchen wir nicht bis Schwabthal, unser Hotel hat diesmal das Zimmer 71 für uns reserviert, für Uwe und Tina die Nummer 72. Wir können eine drehbare Wand zwischen unseren Balkonen in Betrieb nehmen und sitzen beisammen, als hätten wir einen gemeinsamen sehr langen Balkon, eine ähnliche Variante kennen wir aus Bad Rodach. Was wir gestern ruhig angehen ließen, steigern wir heute in der Obermain Therme. Der Fünf-Sterne-Premium-Aufguss, den wir im Verlauf des Tages zweimal nehmen, vermittelt wie immer den Eindruck, wir Deutschen seien doch kein so schlimmes Volk, wie bisweilen von uns gedacht wird. Wie wir da so fröhlich zu Musik der Spider Murphy Gang inmitten unserer Schweißtropfen sitzen, später zu spanischen Klängen, da sind wir doch kein Volk auf Abwegen. Im Dampfbad ätherische Öle aus Japan, am Abend alles auf die Zimmerrechnung. Heute sind auch die Weine aus dem Kühlschrank kalt genug, der Cremant zuvor.

8. August 2019

1999 der erste schwedische Sonntag, Erkundung der unmittelbaren Umgebung, ich fotografierte den Küchentisch, an dem wir frühstücken, Wohnzimmer, Schlafzimmer, Doppelstockbett im Zimmer für die Kinder, die letztmals beide mit uns in den Urlaub reisten. Ich notierte: „Mein Tee schmeckt anders als in Norwegen sehr ordentlich.“ Was eine Frage des Wassers ist, natürlich. Das Bier im Supermarkt, das frei zugänglich ist, hat etwas mehr Alkohol als das vor vier Jahren in Simrishamn. Die Supermärkte hier sind auch am Sonntag offen, einer von 11 bis 17 Uhr, einer von 9 bis 20 Uhr. Bei uns würden Kirche, Gewerkschaften und Linke im Stechschritt nebeneinander kämpfen, um das auszuschließen. In Berlin bekämpfen die Roten Brigaden derzeit den so genannten „Späti“, damit dessen Umsätze alle konzerneigenen Tankstellen zufließen, die bekanntlich für Shell, Agip oder wen immer Not leiden und deshalb Bockwürste verkaufen müssen. Wir reisen heute schon wieder.

7. August 2019

Der letzte Satz im Tagebuch vom 7. August 1999 lautet: „Unser Anwesen liegt weitab von aller Zivilisation.“ Es war ein typisch rot-weißes Haus, für das in Deutschland keine Versicherung Schutz geboten hätte, es gab wohl einen Schlüssel der altertümlichsten Art, aber die Tür zum Haus hätte jeder ungelernte Einbrecher mit dem feuchten Daumennagel öffnen können. Die schwedische Provinz Blekinge nahm uns für eine Woche auf, ehe wir für zwei Wochen auf der Insel Gotland siedelten. Ich notierte mir Unterschiede zur 97er Anfahrt nach Kiel, in Rostock fanden wir den Hafen schneller, die Nachtfahrt überstand ich gut, nur eine knappe halbe Stunde nach 4 Uhr war anstrengend, die Überfahrt nach Trelleborg funktionierte problemlos, ans schwedische Tempolimit gewöhnte man sich. Unser Schiff hieß „Mecklenburg-Vorpommern“, unser Auto war ein Peugeot, unser Grundstück groß und mit einem extra Kaminhäuschen. Ringsum Wald mit Hasen und Rehen.

6. August 2019

Wiesengrund ist ein Name, bei dem ich zwanghaft an eine gastronomische Einrichtung denke, in der ich neuerdings relativ regelmäßig für sechs Euro so viel essen kann, wie ich will. So viel aber schaffe ich gar nicht mehr, nur Hin- und Rückweg zu Fuß sind gut für den Schrittzähler. Wenn ein lebender Theodor aber zusätzlich Wiesengrund heißt so wie ich Kurt nach meinem in russischer Gefangenschaft im Januar 1945 an Hunger und Auszehrung gestorbener Onkel, dann kann es nur der Adorno sein. Theodor W. Adorno, der heute vor 50 Jahren in der Schweiz starb, wo er Urlaub im feinen Zermatt machte, hat mich nie so bewegt, dass ich mich etwa für das Pseudonym Thea Dorn entschieden hätte, wie es Thea Dorn tat, die eigentlich Christiane Scherer heißt. Man kann Thea Dorn mögen, wie ich es herzlich tue, ohne gleich Adorno mitzumögen. Immerhin bin ich zu der Ansicht gelangt, dass der Top-Scorer der Frankfurter Schule hyperklug über Fernsehen schrieb.

5. August 2019

Wenn ich Klempner wäre, würde ich mich vermutlich eher über undichte Abflussrohre aufregen als über fleckige Blattpfirsiche in einem Dorfladen. Als Journalist aber rege ich mich auf, wenn mir meine ehemalige Heimatzeitung auf einer Seite, die sie dreist Feuilleton nennt, mitteilt, es gebe eine nicht nur neue, sondern gar erstmalige Adele-Schopenhauer-Ausstellung in Weimar, aber weder den Ort der Ausstellung noch die Öffnungszeiten nennt. Früher faselte man wenigstens noch von den Service-Pflichten eines Lokalblattes, heute denkt offenbar niemand mehr an so etwas, weil das Hirn längst gen Rückenmark gerutscht ist auf den Desk-Stühlen. Der letzte Leser wird das Blatt nur noch nehmen, um es gefaltet unter einen wackeligen Tisch zu schieben. Ansonsten heute Vollprogramm: eine mir sehr nahe stehende Dame kurz vor ihrem 91. Geburtstag hört erstmals ihr Parkett knarzen. Nicht, dass es früher nicht knarzte: sie hörte es nur nicht. Jetzt aber testet sie ihr erstes Hörgerät.

4. August 2019

Dortmund hat tatsächlich den ersten Titel der noch gar nicht begonnenen Saison gewonnen. Jena holt sich die vierte Niederlage in Folge, ob die Mannschaft oder der Trainer rausgeworfen wird, ist offen. Wir leben aus den Tiefkühlfächern, es reicht für alle drei Mahlzeiten des Sonntags. Alle Balkonpflanzen haben überlebt, die Orchideen im Arbeitszimmer sind nun endgültig ohne Blüten, zwei tapfere Restblüten im Gästezimmer, trotzige Überlebende. Verabredung für morgen geregelt. Morgenlektüre: Theodor Wiesengrund Adorno, das erste der neun kritischen Modelle, Titel „Wozu noch Philosophie“, der Titel ohne Fragezeichen. Ich sehe den ungeheuren verlegerischen Mut der „edition suhrkamp“, eigentlich schwer verkäufliche Bücher zu einer Reihe zu bündeln. Wer ein Buch mit „Wozu noch Philosophie“ eröffnet, pfeift auf Lesegewohnheiten und ermittelbare Befunde von Leserverhalten. Zeitungen dieser Praxis blieben nach kurzer Zeit ohne Leser, sehr zu Recht.

3. August 2019

Am Abend stehen mehr als 50 gelaufene Kilometer in einer Woche zu Buche, die 23. Berliner Biermeile bringt dabei gar nicht so viel wie gedacht, denn man geht langsam im Gedränge. Zwei neue Gläser, erstmals auch das Band zum Anhängen mit Bajonett-Verschluss. Wir genehmigen uns drei verschiedene Kirschbier nach einem tschechischen Vorglas, lesen hübsche T-Shirt-Aufdrucke: Bitte nicht schubsen, ich trage ein Bier. Expedition ins Bierreich. Frieden mit Bier – wie mag das in bierfernen Volksgruppen wohl wirken? Zwischendrin kostümierte Menschen, viel Musik auf vielen Bühnen. Immer mal ein Blick auf die Fassaden der Karl-Marx-Allee, die ihre ersetzten Kacheln stolz herzeigen und einige einfarbige Fahnen, deren Sinn uns entgeht. Vermutlich Kampfsignale, der Klassenfeind will die Arbeiter- und Bauern-Wohnungen okkupieren, was den Arbeitern und den Bauern in den Quartieren missfällt. Besonders den Bauern. Wir landen abermals pünktlich in Erfurt.

2. August 2019

Plötzlicher Starkregen sieht im Fernsehen deutlich besser aus als in der so genannten Wirklichkeit. Wir stehen lange am Löwentor des Berliner Zoos in dem Unterstand für Bollerwagen, wollten noch die Eisbären besuchen, aber da ging es los wie aus Eimern und Gießkannen in Kombination. Zuvor sahen wir natürlich die Pandas, größten Eindruck machten die Strauße und die Emus, man kennt die Vorlieben seiner Enkel am Ende doch nicht, es sei denn, die Liebe zu Eierkuchen mit Apfelmus. Wir spielen kleine Familie plus Pressekarte, was uns nur 26 Euro kostet. Der zweite Schrittrekord in Folge nach den gestrigen 17166 fällt buchstäblich ins Wasser, eine weitere Stunde im Zoo und der Heimweg zu Fuß hätten ihn locker bewirkt. Wir müssen im Hotel klatschnasse Sachen wechseln, ehe wir erneut von Wieland zu Goethe wandern. Für Sonnabend verabreden wir einen ruhigen Start in den Tag, wir werden beim Bäcker frühstücken. Alle Bieretiketten lösen sich von den Flaschen.


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