Tagebuch

28. August 2019

Auch an Goethes 270. Geburtstag ein Rückblick: mit dem Satz: Goethe war nie in Gotland, ich schon. Am 28. August 1999 verließen wir die Insel, hatten auf dem Weg nach Malmö in Lund einen sehr schönen Halt, sahen Malmö auch noch ganz kurz. In Trelleborg blieb Zeit, die rekonstruierte Wikinger-Burg zu sehen und etwas wie ein Stadtfest zu erleben. Für die Fähre buchte ich spät eine Viererkabine nach, am Sonntag rollten wir schon vor sechs Uhr vom Schiff, waren kurz vor halb neun am S-Bahnhof Hohen Neuendorf, wo 25 Prozent der Familie Richtung Tempelhof fuhren. Um 12.01 Uhr orderten wir am McDrive-Schalter in Ilmenau die Mittagsmahlzeit, die wir vertilgten, bevor wir den Kofferraum ausräumten. Heute Kurzbesuch in Gehren, die Pflegestufe ist erteilt, wir werden uns um alles Weitere nun in Ruhe kümmern können. Theoretisch gäbe es sogar Zuschuss für einen Wohnungsumbau, den wir aber gar nicht brauchen. Nun Korrekturlesen an „Goethe 1819“.

27. August 2019

Vor der Erfindung des Selfie-Stabs gab es bereits den guten alten Selbstauslöser: mit Strippe, ohne Strippe. In meinem Fotografen-Leben kam dieses Verfahren nie zur Anwendung. Deshalb fehle ich auf meinen Fotos mit netter Regelmäßigkeit und wenn ich mal drauf bin, fehlt diejenige, die mich belichtete oder halt derjenige, was auch vorkam. Die Abschiedsfotos von Bork Havn, 27. August 1994, zeigen je fünf der Anwesenden, konstant die Frauen und die Kinder, wechselnd der Gatte. Ganz und gar menschenfrei ist mein Abschiedsfoto vom dänischen Bier. Genau 20 Flaschen stehen nebeneinander in Reihe ohne Glied, es gibt etliche solche Fotos meiner Sammelleidenschaft. Die Bierflaschen wanderten damals wie später meist ohne Etiketten in den Glascontainer. Ein Foto zeigt ein Schild: Hier wohnt der Bernsteinschleifer. Ein Bernsteinmosaik von damals hängt jetzt noch in meinem Arbeitszimmer. Vor 50 Jahren starb Erika Mann, die mehr als Schwester und Tochter war.

26. August 2019

Die Ontologie des Seienden, ich gebe es zu, interessiert mich mit zunehmendem Alter immer weniger. In welchem Punkt Jaspers Heidegger widerlegte und wo Nicolai Hartmann ungeschlagen blieb, regt mich weder an noch auf. Dafür irritiert mich auf dem Weg zur Sonntagszeitung plötzlich ein in meine Nase steigender Pellkartoffelgeruch, der aus dem Gully zu kommen scheint. Etwa so roch es, wenn früher, ganz früher, der Kartoffeldämpfer neben drei Schweinekoben bei meinem Opa Reinhold im Betrieb war. Ich beobachtete alles rund um die Schweine stets aus sicherer Distanz. Der Film zum Klassentreffen am Freitag zeigte auch Kühe, die durch die Straßen getrieben wurden. Und mir fiel dabei ein: es gab verschiedene LPG-Typen damals, bei Typ I wurden die Kühe am Morgen versammelt und am Abend wieder zu ihren Besitzern zurück gebracht. Kluge Kühe gingen den Rest des Weges allein, eine dumme verirrte sich in unseren Hof. Ich traute mich nicht vorbei.

25. August 2019

Mein Gedächtnis-Frischhalte-Kalender meldet mir für heutigen Sonntag den 275. Geburtstag von Johann Gottfried Herder. Als ich mir den Tag mit orangenem Textmarker Ende vorigen Jahres für August 2019 kenntlich machte, hatte ich die tapfere Hoffnung, wenigstens mein abgebrochenes Kleinepos zu Herder und Shakespeare vollenden zu können zum Jubiläum, doch: Pustekuchen. Die Herren Keller und Fontane nebst anderen standen mit ihren Stiften neben meiner Rechnung, um mir einen Strich hindurch zu machen. Immerhin: am Morgen las ich heute zwei schmale Bücher zu Ende, eines von Rudolf Koester über Joseph Roth, eines von Fritz Ernst über mehrere schreibende Männer, darunter über den Spanier Azorin, eigentlich José Martínez Ruiz, von dem ich bis dato weniger als nichts wusste. Ich buche es unter Lernprozesse im fortgeschrittenen Alter. Der rein physischen Aufmunterung widme ich gleich eine Reise in den Großraum Erfurt, Wetter ist günstig.

24. August 2019

Die traurigere Nachricht: aus den ursprünglich 17 Toten in meiner Rede gestern sind 19 geworden, zwei konnte ich noch rechtzeitig neu aufnehmen. 45 Schüler, ein Lehrer, es wären mehr gekommen, doch manche arbeiten noch, sogar als Fernfahrer. Einer hatte seinen 67. Geburtstag und zwei seiner Gäste wären mit ihm an einem anderen Tag auch zu uns gekommen. Glückwunsch für ihn natürlich: Dieter. Der immer Dicker genannt wurde, obwohl er nie dick war. Nach meiner Rede noch ein wunderschöner Bildbeitrag mit schwarzweißen Filmaufnahmen aus den 50er Jahren, dann eine Fotoserie mit unseren Schuleinführungsfotos, die Mädchen alle mit weißen Kniestrümpfen, die Zuckertüten nicht selten sogar größer als das Kind. Ans Gehrener Porzellanwerk hätte ich nicht mehr gedacht, nach den Bildern kamen Erinnerungen an die Patenbrigade: ich musste bei den Feiern zu Weihnachten immer Gedichte vortragen auf der Bühne. Meine Rede geht heute ins Netz.

23. August 2019

Blick ins Tagebuch von 2009: am 22. August kamen wir verspätet in Schruns in Vorarlberg an, eine Baustelle ohne Baugeschehen, dafür aber mit nur einer freien Spur, führte zur Verzögerung. Unsere Ferienwohnung empfing uns mit zwei Zimmern und einem großen Balkon, seltsamem Gestank im Treppenhaus, der zum Glück in der Wohnung nicht mehr wahrnehmbar war. Am Abend verlor Bayern in Mainz. Am 23. August suchte ich die Hemingway-Gedächtnispunkte auf, wir benutzten die nahe Seilbahn, die uns auf knapp 1900 Meter brachte. Wir lieben Panorama-Terrassen, es muss gar nicht immer der halbe Liter Wein oben sein, es geht auch Apfelstrudel. Damals las ich Schiller um all mein Leben. Weil wir am 1. September 1959 unseren ersten Schultag hatten, feiern wir im Bestand der drei Klassen, die 1967 acht Schuljahre hinter sich hatten, 60 Jahre Schuleinführung, es geht um 17 Uhr los, weshalb ich die weite Welt heute komplett ignoriere: no Donald, no Boris. No!

22. August 2019

Leichtes Erschrecken, als ich meinen heute zum 150. Geburtstag von Arthur Holitscher ins Netz gestellten Beitrag vorbereitete: ich schrieb schon einmal über ihn, hatte das aber komplett vergessen. Leicht war das Erschrecken nur deshalb, weil ich das kenne: was geschrieben ist, verlässt die Bio-Festplatte in Richtung eines neuen Speicherplatzes. Immerhin, ich las meinen alten Text wie den eines Fremden, was für kritische Augen in eigener Sache ja nicht das schlechteste ist. Manche werden angesichts ihres eigenen Schaffens derart von Rührung gepackt, weil sie schon früher so toll waren. Freunde, die lange nichts von mir lasen, behaupten seltsam regelmäßig, sie würden mich sofort erkennen. Früher hätte man das Stil genannt, in schlechteren Fällen Manier. Ansonsten habe ich am Morgen eine MDK-Befragung beobachten dürfen, die gibt es, wenn man einen Antrag auf Pflegeleistungen stellt, das Gutachten soll heute noch an die Krankenkasse gehen.

21. August 2019

Heute lag ein Buch in meinem Briefkasten, das bereits vor einem Monat dort hätte liegen sollen. Absender ein Groß-Antiquariat, bei dem ich immerhin so oft bestelle, dass mir seine Daten für die Überweisung speicherwürdig erscheinen. Eines Tages kam eine Mail, die mir mitteilte, das Buch sei zurückgekommen, weil die Post mich nicht finden konnte. Ich wohne seit 28einhalb Jahren an ein und derselben Stelle, habe weder Namen noch Titel noch sonst etwas gewechselt, dennoch war irgendein Experte nicht in der Lage, die Büchersendung in meinem Briefkasten zu deponieren. Das Antiquariat schickte das Buch jetzt in einem großen Umschlag mit Original-Rücksende-Brief innen. Und siehe: jetzt fand die Post den richtigen Kasten. Ich schrieb dem Antiquariat, dass Lenin vor 100 Jahren in der Deutschen Post eine vorbildliche Einrichtung erblickte. Vermutlich will die Post mit Lenin einfach nichts zu tun haben. Ist es mit dem wie mit der DDR: es war nicht alles schlecht?

20. August 2019

Vor 25 Jahren erlebte die Frau an meiner Seite ihren härtesten Autofahrerinnen-Tag. Von Ilmenau in Thüringen nach Bork Havn in Jütland, Dänemark, sind es laut Routenplaner 883 Kilometer, man braucht achteinhalb Stunden, was als die optimistische Variante angesehen werden darf. An jenem 20. August 1994 besaß ich noch keinen Führerschein, der kam erst ein Jahr später, ich konnte also an keinem Fahrerwechsel teilnehmen. Hinter Hamburg war eigentlich alle Kraft erschöpft, aber es ging ja noch bis Flensburg. Hinter Flensburg war eigentlich auch der Reservetank an Kraft leer, aber es ging ja noch an die Westküste Jütlands, wenn auch nicht mehr unendlich weit, so doch weit genug. In Bork Havn galt es das Ferienhaus zu finden, was mit Navi kein Problem wäre, aber damals hatten wir keins. Immerhin, Mitbewohner Gunter, Ines und Kathrin kamen nicht lange nach uns, wir bezogen das Haus mit der hübschen kleinen Holzterasse, Dänemark-Urlaub Nr. 1 fing an.

19. August 2019

Wenn der 60. Jahrestag von Woodstock die Medien umtreiben wird, werden sich die damals Vierjährigen melden und die Kolumnen füllen mit ihren Erinnerungen an Stirnbänder neben Opa auf dem Sofa und wie Oma Luftgitarre spielte. Ich war damals 16, statt in Ungarn wie die Jahre davor im FDJ-Lager in Friedrichroda, Woodstock war uns scheißegal, denn es war gerade „Brown Sugar“ von den Stones neu herausgekommen. Später sah ich natürlich alles, hörte ich natürlich alles und ich sah „Easy Rider“ nicht wegen Peter Fonda, Dennis Hopper und Jack Nicholson, sondern wegen Steppenwolf und der lächerlichen Nacktszene im Mardi Gras auf dem Friedhof. Heute geht mir Jack Nicholsons Gequassel, während er vermeiden will, am Joint zu ziehen, schwer auf die Nerven. Woran ich mich gut erinnere: mein Neid auf einen Knaben im Budapester Jugendpark, der umherlief wie Jimi Hendrix. So hätte ich aussehen wollen: ich wäre von der Goetheschule geflogen.

18. August 2019

Kaum ist Greta Thunberg klimaneutral auf hoher See, hapert es bei Ilmenau mit der Erderwärmung, auch die schöne Dürre ist nicht mehr, was sie war. Dafür aber ist heute der 75. Todestag von Ernst Thälmann. Als älteres Kind habe ich bisweilen darüber nachgedacht, was der Unterschied zwischen ermordet und grausam ermordet sein könnte, denn Ernst Thälmann, das hörten wir alle und lasen es, war in Buchenwald grausam ermordet worden. Ernst Thälmann sah für mich aus wie Günter Simon und später war ich schon nicht mehr enttäuscht, als ich hörte, dass sich Walter Ulbricht eigens in den Thälmann-Film schmuggeln ließ, obwohl er damit wenig zu tun hatte. Was grausam ermordet ist, weiß ich aus diversen Krimis, was grausam hingerichtet heißt, aus Museen mit Folterkammern und gruseligen Darstellungen. Teddy wurde erschossen, von hinten. Diese Technik pflegte auch die DDR, als sie noch Todesstrafen vollstreckte. Am 18. August 2009 starb Hugo Loetscher, Schweiz.

17. August 2019

Die erste Trainerentlassung der neuen Bundesligasaison hat es noch nicht gegeben, obwohl Hertha in München einen Punkt holte. Im Bunge-Museum auf Gotland sieht man Bildsteine aus der Zeit von etwa 700 nach Chr., dazu alte Hofanlagen aus drei verschiedenen Jahrhunderten. Wir suchten und fanden Steinhügelgräber, viele Raukar in Kyllaj und natürlich auch wieder zwei Landkirchen: Hellvi, Lärbro. An der Kirche von Lärbro bekam gerade eine schwedische Nachrichteneinheit Freiluftunterricht erteilt. Ich fotografierte natürlich nicht, dafür aber einen 800 Jahre alten Stuhl in der Kirche. In Lärbro gibt es eine Grabstätte für KZ-Opfer, die man in Schweden nicht vermuten würde. Sie überlebten Bergen-Belsen oder Mauthausen und kamen zur Genesung mit dem Schiff ins Krankenhaus Lärbro, wo sie dann doch starben. Ohne das Foto hätte ich das nach nun zwanzig Jahren nicht mehr gewusst, die Steinsetzungen faszinieren wie damals, ich würde gern wieder hin.


Joomla 2.5 Templates von SiteGround