Tagebuch

25. Juli 2019

Nun will ich es mal so sagen: Wenn du dir vornimmst, an einem Mittwoch nach Oberhof zu fahren, weil du seit schätzungsweise dreihundert Jahren nicht mehr in Oberhof warst, dann tu es. 1983/84 feierten wir Silvester mit Uwe und Tina in Oberhof, dann waren wir von Fehrenbach aus noch mal da, auch da war es das gemeinsame Silvester mit Uwe und Tina, das wir nie vergessen wegen des unschlagbaren Spruches „Frühs wird nicht geraucht.“ Gestern also alles ohne Uwe und Tina: der Rennsteiggarten ist auch nach dem Verblühen fast aller Blüten schön. Toll aber und das ist dann  schon fast alles, was von Oberhof zu sagen wäre: das Exotarium. Wir schauten einer Amurnatter zu, wie sie drei lebende Mäuse verspeiste. Amurnattern waren im einzigen Zoohandel der DDR zu haben, weil sie aus der Sowjetunion kamen. Max Kommerell war in der DDR nicht zu haben, er starb am 25. Juli 1944, 42-jährig. 1930 schmachtete ihn Claus Graf Schenck von Stauffenberg an.

24. Juli 2019

Großes Nachrufe-Ausdrucken. Brigitte Kronauer ruft die Feuilleton-Chefs auf den Plan respektive die Alpha-Nachrufer. Bei der Gelegenheit die Nachricht, die es nicht bis in die Tagesschau schaffte: Peter Hamm ist tot. Gar nicht weit von Brigitte Kronauers vier Büchern über der Tür stehen bei mir Peter Hamms Bücher, auch vier, alle aus der „Edition Akzente Hanser“. Sie tragen diese Titel: „Der Wille zur Ohnmacht“, „Aus der Gegengeschichte“, „Die Kunst des Unmöglichen oder Jedes Ding hat (mindestens) drei Seiten“ und schließlich „Pessoas Traum“. Auf diesen schwierigen Portugiesen ist Hamm immer wieder zurückgekommen. Meine Hamm-Affinität ist auch damit begründet, dass wir gemeinsam Geburtstag haben: ich denke, wenn ich ihn sonst auch übers Jahr vergessen haben sollte, spätestens am 27. Februar an ihn. Das wird sich nicht ändern, nur dass er nun nicht mehr feiern kann. Auch für ihn gibt es sehr feine, sehr kundige Nachrufe. Nun aber Schluss mit Sterben.

23. Juli 2019

Tagesschau-Nachricht: Brigitte Kronauer ist tot. Gestorben: gestern. So gehen Zufälle: ich zog gestern die Klarsichthülle mit den ausgeschnittenen Artikeln zu Herman Melville aus dem Ordner, nachzuschauen, was ich habe und ob etwas für meine aktuellen Zwecke brauchbar sein könnte. Das älteste Stück aus der Silvesterausgabe der „Süddeutschen Zeitung“ (Nr. 304/2004): „Die Lehre der Galapagos-Schildkröten“ von Brigitte Kronauer, fast eine ganze Zeitungsseite zu „Ein Leben. Tagebücher und Briefe“ von Herman Melville, das Buch steht auch in meiner Melville-Reihe. Von Brigitte Kronauer selbst nur vier Bücher über der Tür vom Wohnzimmer in den Flur, den Anfang machte einst die SZ-Bibliothek mit „Berittener Bogenschütze“. An dem schreckt mich heute allein der Klappentext ab: Nein, solche Romane interessieren mich nicht, nicht mehr, wäre vielleicht die treffendere Aussage. Wir sitzen fast bis Mitternacht auf dem Balkon, Test der neuen LED-Leuchten.

22. Juli 2019

„Nach einer Weile nämlich fing der Lehrer ganz ungewohnt freundlich zu fragen an, wer von uns Schülern und Schülerinnen zu Hause eigene Bücher besitze, und da trat im Nu ein betretenes Schweigen ein, denn außer dem üblichen Messbuch besaß niemand eins.“ Oskar Maria Graf hat diesen Augenblick als den stolzesten seiner Jugend bezeichnet, denn er konnte dem Lehrer Männer verraten: „Ich habe schon neunzehn Bücher, drei vom Schiller“. Das war 1905, man feierte überall in Deutschland den 100. Todestag von Friedrich Schiller. Den 125. Geburtstag von Oskar Maria Graf feiert heute vermutlich niemand, auch ich blätterte nur ein wenig in den roten Büchern des List Verlages, das Zitat fand ich in Band XII, die Lesenotiz trägt das Datum 18. September 2010. Den Herausgeber der Werkausgabe, Wilfried F. Schoeller, lernte ich inzwischen auch kennen, wir sprachen über ein langes Interview, das er mit seiner jetzigen Frau führte, einer sehr lieben Frau.

21. Juli 2019

Mein Tagebuch vom 21. Juli 1999 vermeldet redaktionellen Ärger, zunächst war nicht einmal der Terminkalender zu finden, dann nervten diverse Anrufer, während mein Fotograf die Damen zum Eis führte inklusive Sekretärin. Der Gedanke, dass es heute in diversen Redaktionen diverser sich groß dünkender Zeitungen gar keine Sekretärin mehr gibt, eine Geschäftsstelle sowieso schon nicht, macht mich froh, unter diesen Bedingungen nicht mehr arbeiten zu müssen. Eine Redaktion ohne Sekretärin, jeder Blödsinn dringt direkt ein ohne Vorfilter, ich lese von den Beschwerden damals: Gräfenroda fand zu viel Langewiesen im Blatt und noch einmal bin ich froh: Ilmenau reicht von, nun ja, nicht direkt von der Maas bis an die Memel, aber immerhin. Noch bevor ich die Kurzreise nach Sohnstedt antrat, stellte ich meinen Keller-Brocken ins Netz. Es gibt im Pelto-Bad eine neue Sauna, wo vorher ein Whirlpool war, 70 Grad, sehr fein, alles Holz noch extrem frisch duftend.

20. Juli 2019

Während im Westen heute wieder einmal alle gebannt auf den 20. Juli 1944 starren, einen neuen Grübel-Grübel-und-Studier-Anlass lieferte unlängst eine Biographie zu Stauffenberg, die den lieb gewordenen Fehldeutungen des Geschehens in aller Vorsicht widersprach, was nun die Urenkel auf den Plan ruft, die bekanntlich die Motive ihrer Urgroßeltern besonders genau kennen, überlege ich, wie es ein Ilmenauer anstellt, in eine nicht existierende Gegend in Südtirol zu fahren: in den Pfingstgau nämlich. Meine ehemalige Heimatzeitung fragte gestern gewöhnliche Menschen nach ihrem diesjährigen Urlaub und der vorletzte Mann der Reihe will in den Pfingstgau. Schade, dass ich nie erfahren werde, wie er dorthin gelangte, ich würde sonst gern einmal nach Seldwyla fahren, weil mir dieser Schweizer Ort bisher auch nur aus der Literatur bekannt ist. Qualitätsjournalismus ist eine Frage der Auffassung. Man nimmt außerhalb Thüringens ja auch Bratwurst mit Ketchup.

19. Juli 2019

Nun ist er da, der 200. Geburtstag von Gottfried Keller, dem ich in dieser Woche schon drei Texte widmete, zwei sind noch in Arbeit, dann wird erst einmal ein Päuschen eingelegt. Die ersten beiden Sätze zu Nummer 4 fielen mir auf dem Weg zum Geldautomaten ein, was insofern aus der Reihe fällt, weil ich sonst meist unter der Dusche erste Sätze in den Kopf bekomme. Ohne erste Sätze geht es bei mir nicht, was blöd klingt, weil es bei niemandem ohne erste Sätze geht. Aber bei mir geht sehr oft der Rest fast von allein. Ich schreibe in guten Wochen 10.000 und mehr Wörter, worüber Jack London oder Ernest Hemingway, die ihre Wörter zählten, was ich seit meinen Schulaufsätzen nie mehr tat bis ich das PC-basierte automatische Zählwerk nutzen konnte, sehr froh gewesen wären. Was, ich muss es nicht betonen, nicht etwa heißt, ich vergliche mich mit London oder Hemingway. Nur manchmal, ein bisschen, und dann verrate ich es niemandem, liebes Tagebuch.

18. Juli 2019

Um Sommerlöcher zu stopfen, führen Zeitungen Sommerinterviews. Dort dürfen sich dann Leute verbreiten, deren Pressemitteilungen sonst immer sehr künstlich und medienrechtlich sauber in Konjunktivsätze verwandelt werden. Madeleine Henfling sprach von der neuen Kulturausschuss-Vorsitzenden des Stadtrates dies: „Mit Tina Wittrich haben wir eine sehr gut vernetzte Frau, die im Kulturbereich jeden kennt und selbst jahrelange Erfahrungen hat.“ Wer aus dem Jahrgang 1983 das über jemandem vom Jahrgang 1993 sagt, hat auf jeden Fall seltsame Vorstellungen davon, was die Wörter alle und jahrelang bedeuten. Der Vorteil dieser Jahrgänge: sie haben noch sehr viel Zeit zu lernen und dabei könnte es passieren, dass sie betroffen feststellen: sie kennen doch nicht jeden im Kulturbereich. Ich zum Beispiel kannte den Verein Kulturelle Koordinierung und seine Anführer schon, als Tina Wittrich noch gar nicht geboren war. Was mich als Mann von vorgestern ausweist.

17. Juli 2019

Wenn die Kanzlerin heute im Amt 65 wird, gönne ich ihr das. Wenn Ursula von der Leyen doch nicht über den sozialdemokratischen Intrigantenstadel stolpert, gönne ich ihr das. Politik ist die Kunst des Machbaren, steht nicht bei allen Parteien über dem Rasierspiegel. Bei der SPD steht: Politik ist die Kunst des Verharrens beim Nicht-Machbaren. Das führt schrittweise unter die fünf Prozent, das gönne ich der SPD nicht. Mir selbst gönne ich die kleinen Erfolge als Autor. Mein erst am 1. Juli ins Netz gestellter Text „Hans Bender 100“ lag gestern bei GOOGLE auf dem dritten Platz, was ich gar nicht erfahren hätte, wäre nicht eine Mail bei mir eingegangen des wohl besten lebenden Bender-Experten: aus Köln. Weil ich nicht weiß, ob ihm das Nennen seines Namens recht wäre, sage ich nur: er war beim Kölner Stadtanzeiger und dann sehr lange beim WDR, ein Kollege also, wenn das nicht zu aufgeblasen klingt meinerseits, er führt das Bender-Archiv und kennt alle.

16. Juli 2019

Journalismus heute: Einem substantiell hirnrissigen Artikel eines Adligen über so genannte Seenot-Rettung ist ein Foto beigegeben, auf dem kaputte Kleinstboote und Berge von Rettungswesten zu sehen sind. Im Hintergrund grauer Himmel mit grauen Wolken. Der Bildtext dazu lautet: „Am Beton der Festung Europa zerschellen Tausende. Gegossen ist er aus Gleichgültigkeit.“ Hier ist einer am Werk gewesen, dem die elementarsten Regeln der Zeitungsgestaltung offenbar völlig fremd sind. Ich erinnere mich einer Weiterbildung mit einem altgedienten Chefredakteur aus München, der einen halben Vormittag darauf verwendete, uns Bildtexte auszutreiben wie es der zitierte als schlimmes Beispiel ist. Es war übrigens eine der seltenen Weiterbildungen, die echten Lerneffekt brachten, auch für vermeintlich altgediente Zeilenschinder. Vielleicht aber empfindet das zitierte Blatt mit seinem weltberühmten Herausgeber ja schlechte Lyrik als modernen Journalismus.

15. Juli 2019

„Als ich vor der Tür noch einmal mich umwandte, sah ich in ein weinendes Antlitz mit traurigen trostlosen, fast entsetzten Augen, welche mich zu fragen schienen, ob ich es über das Herz bringen könne, ihn einsam auf seinem letzten Lager zu lassen.“ So berichtet Wilhelm Petersen von seinem Abschied von Gottfried Keller. Am 15. Juli 1890 starb Keller, es war nachmittags vier Uhr. Ricarda Huch hat in ihrem schmalen Büchlein über Keller von ihm unter anderem diesen Satz zitiert: „Nur eigensinnige und selbstsüchtige Verfassungen laufen Gefahr sich aufzulösen, wenn sie von denen nicht geliebt werden, die ihnen gefallen.“ Und ihr eigenes Urteil, eines von einigen, lautet so: „Wie Homer nicht veraltet, kann auch diese Kunst durch keine Geschmacksrichtung und Mode angetastet werden, da sie die Grundlinien des Lebens selbst zieht.“ Seinen 71. Geburtstag hat Keller nicht mehr erlebt, vier Tage trennten ihn von einer Feier, die er wie seinen 70. schon nicht gemocht hätte.

14. Juli 2019

Angesichts der Lage in den Lüften wie in den Niederungen des rechtsvergessenen Lebens fällt mir dieser schöne Satz ein: „Was irgendein Arschloch toll findet, ist deswegen keineswegs automatisch gleich Scheiße.“ Von mir notiert, während ich Zeitungen nachlas an einem Sonnabend des Herrn, den ich damit beendete, dass ich ein viertel Glas Rotwein über frisch ausgeschnittene Artikel kippte, unabsichtlich natürlich, aber den finalen Tagesablauf in Wisch- und Trockentätigkeiten umlenkend. Es ist erstaunlich, wie sehr sich Rotweinflecke auf Zeitungspapier im Verlaufe eines nächtlichen Trocknungsprozesses aufhellen, man könnte geradezu von Optimismus geschüttelt werden, ein Nebeneffekt ist allerdings begleitend zu akzeptieren: das Papier verliert seine Glätte. Während uns Fotos aus Dänemark erreichen, wo wir tatsächlich einmal bereits einen 14. Juli verbrachten: in Sandkaas auf Bornholm im arg fernen Jahr 1995. Und erleben jetzt schon die erste Rentenerhöhung.


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