Tagebuch

2. Februar 2020

Drei Stunden mit Pause, das sind Theaterabende, wie sie immer seltener werden, selbst die Pausen sind Opfer und man kann nicht den Klimawandel dafür verantwortlich machen. Es gibt Kraftfahrer, die langsamer werden, wenn ein Schild am Straßenrand ihnen zeigt, dass die Begrenzung auf 70 kmh aufgehoben ist, Kraftfahrer, die angesichts grüner Ampeln vor Augen langsamer werden. Wie auch immer: ich sehe noch die Dortmunder Tore zu Hause und heute bin ich, als die Putenoberkeule eben servierbereit ist, schon fertig mit meinem Text. Ich habe, wie fast immer, nicht einen Blick auf meine Notizen geworfen und bin wieder einmal froh, nicht für irgendeine Redaktion nach Weimar gefahren zu sein. Wenn mich einer im Theater fragt, für welche Zeitung ich schreibe, stelle ich die Gegenfrage: Wieso Zeitung? Deren Redakteure kommen mit ganzen Familienverbänden zu ihren Parkettplätzen zwei Reihen hinter mir, aber sie haben keinen Platz im Feuilleton, paar Zeilen nur.

1. Februar 2020

Zwei komplette Monate ohne Theater: wann gab es das zuletzt? Aber es liegt nicht an mir, wenn diese Tempel der Kultur nichts im Spielplan haben, was mich lockt. Meine Allergie gegen Romane auf der Bühne ist wie eine Allergie gegen Katzenhaare, sie spricht nicht gegen Katzen. Nur der Allergiker in mir verträgt sie nicht, ihm treten Tränen in die Augen, er hustet und im schlimmen Falle verröchelt er, was kein schöner Tod genannt werden darf. Ich liebe Romane zwischen zwei Buchdeckeln deutlich intensiver, als ich sie lese, aber Verdrängungen der Texte, die für die Bühne geschrieben wurde, das ist wie ein Skulpturenpark im Konzertsaal, er hat da nichts verloren. Nun also an diesem mittelmäßigen Sonnabend wieder Theater: ich fahre nach Weimar, um „Romeo und Julia“ zu sehen, die seltener gespielt werden, als man vermutet. Ich las mich warm am Morgen mit der Vorlesung über die Tragödie, die einst Gustav Landauer hielt. Eine von zwanzig Vorlesungen.

31. Januar 2020

Der Januar geht, mit ihm die Briten und René Schickele, der heute vor 80 Jahren starb, hätte das Verlassen der EU keinesfalls als Zeichen insularer Weitsicht gedeutet. Aber so sind sie halt, diese Briten. Im kommenden Jahr ist es 20 Jahre her, dass ich in ihrer Grafschaft Kent auf Achse war, von Ramsgate aus, die King Prawns beim Chinesen in der Nachbarschaft habe ich in guter Erinnerung, ich sehe auch den Mann vor mir, der den Schülerlotsen spielte, während wir in unserm mintgrünen Frühstücksraum entsetzt die Männer beobachteten, die das English Breakfest mit seinen fettigen Sausages verschlangen, umgeben von Bohnen in rotem Fett. Wir hatten kleine dreieckige Toasts, supersaure Gürkchen und winzige Salamischeiben, die so rot leuchteten, als hätten sie den Sieg im Lebensmittel-Farbcontest gewonnen. Die Seniorchefin fragte mit hoher Damenstimme: „Cereals?“, was wir mit Kopfschütteln beantworteten. Vielleicht wären die Briten ohne Cereals noch in der EU?

30. Januar 2020

Das war mal ein Buchtitel 1952: „Mutter von Gori – wie groß ist dein Sohn. Deutsche Dichter singen von Stalin“. Herausgeber war Herbert Otto, damals im ungewöhnlich zarten Herausgeber-Alter von 27 Jahren, man kann bisweilen ein einzelnes Exemplar des nicht einmal 100 Seiten starken Bändchens ergattern, wenn man 120 Euro dafür ausgeben möchte. Vertreten darin ist auch Walter Stranka, den man kennen kann, aber nicht muss, nur weil heute sein 100. Geburtstag ist. In der immer noch zweimal im Jahr erscheinenden Literaturzeitschrift „Palmbaum“ gab es 1993 einen Nachruf auf ihn. Ich erinnere mich nicht, je etwas von ihm gelesen zu haben, was gegen mich verwendet werden darf. Allerdings gehöre ich auch nicht zu denen, die sich die Hände reiben, wenn sie einen erwischen, der in frühen Jahren ein Gedicht auf Stalin verfasste. Ich las als Student sogar Stalin-Schriften, fand sie allerdings so stark alles vereinfachend, wie ich es niemals geglaubt hätte.

29. Januar 2020

Für die große weite Welt ist es keine Nachricht, für den einzigen Sohn meines Vaters schon: Der FC Rot-Weiß Erfurt stellt den Spielbetrieb ein, alle Spiele mit Erfurter Beteiligung werden annulliert. Ich würde lügen, wenn ich mehr als gewohnheitsmäßiges Rest-Interesse für den Klub behaupten wollte, ich habe mit dem Blick auf den Video-Text alles erfahren, was ich noch erfahren wollte. Zu DDR-Zeiten war ich Erbe meines Vaters: es gab nur den FC Rot-Weiss, der einmal der SC Turbine war und sogar Meister. Später mussten alle guten Erfurter nach Jena, Dresden oder zum BFC und wenn zweimal im Jahr die Spiele gegen den BFC anstanden, die Berliner bis zur 98. Minute weiter spielen durften, ehe endlich ihr 5:4 oder 4:3 fiel und in Mielkes Welt wieder alles in Ordnung war, dann waren das die Spiele, die man nicht vergaß. Einmal spielte Erfurt in Bremen unentschieden in einem Freundschaftsspiel: Es war, als wäre die DDR Europameister geworden. Fast. Ein bisschen.

28. Januar 2020

Gut, dass ich ein Faible fürs Überprüfen von Zitaten habe. Wenn als Quelle eine Seite 90 angegeben ist, die betreffende Schrift aber nur 60 Seiten hat, sollte man stutzig werden. Der Autor muss dabei nicht gelogen haben, er hatte in diesem Fall nur die komplette Quelle, wo ich stark eine gekürzte Fassung zum Ausgangspunkt nehmen wollte, die nicht als solche gekennzeichnet war. Dafür allein verantwortlich ein sehr renommierter Verlag. Der Blöde wäre ich gewesen, weil immer irgendwo in Neuseeland einer sitzt, der mich zwei Jahre später erwischen würde, wie ich sie auch erwische, die unseriösen Arbeiter. Kurzer Rede langer Sinn: ich musste gestern mitten aus einem Text heraus, dessen erster Absatz schon geschrieben war, völlig umstellen. Mein Doppel-Gedenken an Hermann Kesten und René Schickele sollte zwar heute erscheinen, er ist es nun auch, aber der Arbeitsablauf wäre anders gewesen. Immerhin konnte ich den Regen seit gestern sehr genießen. Ohne Asthma.

27. Januar 2020

Mir hätte vor diesem Tag und zu diesem Tag die eine, die wunderbare Dokumentation gereicht, die der MDR ausstrahlte: über die, die vom Gut der Deportierten, der Ermordeten profitierten. Die Lehre ist schlicht: wirkliche gute Dokumentationen schlagen jede Fiktion. Wenn zu sehen ist, wie der Inhalt des Koffers eines Vierjährigen zu Geld gemacht wird, all die Kindersächelchen: das braucht keine Romane, keine achtteiligen Filme. Der Mann, der die Geige zurückbekommt. Wer redet da als Leugner, wo in jedem Dorf alles dokumentiert ist: wer wann auf den Weg ging, von dem er/sie nie zurückkam. Wer seine Sachen versteigerte: aus dem Fenster heraus oder in der örtlichen Kneipe, es war der Vorläufer der Werbeverkaufsfahrt, möchte man meinen. Und die ersten Profiteure die Ausgebombten, was für ein Irrsinn. Ob ich schon eine Rede zum 27. Januar 1945 halten könnte, die mit meinem Vater beginnt? Ich frage mich das immer öfter, je älter ich werde.

26. Januar 2020

Als Gott die Baumhasel erschuf, hatte er keinen Plan, wo sie wachsen solle. Niemand riet ihm zu einem Abstandsgebot, wie es heute die Windkraft lahm legt. Baumhasel direkt unter meinem Arbeitszimmer, direkt am Weg zu meiner Tankstelle, wo ich meine Zeitungen hole am Wochenende. Was sonst gesund ist: frische Luft, zusätzliche Schritte für den Schrittzähler, ist in diesen Tagen versuchte schwere Körperverletzung. Würde der Klimawandel, ja er, eine solide Schneedecke auf diesen dämlichen Hasel-Schnasel legen, würde es wenigstens ordentlich regnen als Schneeersatz, dann müssten nur die Würmer in der Erde sehen, wie sie das Reißen in der Brust ertragen. Ich verweigere den Sonntagsspaziergang, es scheine die Sonne wie sie wolle. Die jungen Orchideen-Triebe freuen sich, der alte Orchideen-Pfleger wäre gern Regenkönig. Unsere lieben Medien machen selbst aus dem Auschwitz-Gedenken einen Hype mit allen Übersättigungsfolgen: schlimm.

25. Januar 2020

Die Therapie mit den Stichen in den Ellenbogen gestern hat ein wenig geholfen. Es ist ausgemacht unangenehm, wenn man nachts beim Umdrehen seinen eigenen linken Arm mit dem rechten anheben muss, weil sonst die Schmerzen ins Unerträgliche gehen. Wie alt sind Sie, Herr Doktor? Nein, nein, das hat mich niemand gefragt. Wir haben nur über Kohlendioxid geredet, den einen ist es Klimagas, den anderen eine Therapie. Heute Auffahrt nach Neustadt, wo es aussieht wie auf der schönsten Kitschpostkarte. Kein Schnee auf dem Boden, aber die Bäume, die Bäume. Schlachtfest seit 25 Jahren, ich rede mit Kollegen, die die Presse repräsentieren. Alles ist nicht mehr wie früher, auch die Lokalpresse setzt auf Home-Office mittlerweile. Ich hatte das unfreiwillig bei meinem kurzen Intermezzo für die „Thüringische Landeszeitung“. Das war schon, als die Blüten blühten, die Landschaften ließen sich noch etwas Zeit. Die Pollen-Allergie reißt an meinem Inneren.

24. Januar 2020

Weil ich eben zwei Seiten von Eva Strittmatter über Wassili Below las, schaute ich, was es von dem eigentlich alles gab in den völlig neuen Bundesländern, als die noch Bezirke hießen. Und da staunt man: weit mehr als die beiden Büchlein, die ich besitze und ein Antiquar, der keine Probleme damit hat, seine eigenen Vorurteile dem weltweiten Web anzuvertrauen, stellt angesichts des Buches, das er anbietet, fest, Below sei offenbar doch nicht so angepasst gewesen, wie seine beiden staatlichen Auszeichnungen vermuten ließen. Ich zum Beispiel bin einmal Aktivist der sozialistischen Arbeit geworden, während mich gleichzeitig die Genossen von der unsichtbaren Front mit argen Augen (sprich: Argusaugen) beobachteten. Was auf meine Anpassung hindeutet. Eva Strittmatter hat anno 1977 die einzig wichtigen Fragen vermieden, die an das Buch zu stellen gewesen wären. Geschieht, was Below erzählt, tatsächlich mitten in der Sowjetunion, mitten im Sozialismus? Antwort: ja doch.

23. Januar 2020

Die jüngste Ausgabe von Text+Kritik, begründet von Heinz Ludwig Arnold, ist Sibylle Berg gewidmet. Man sieht die einst in Weimar geborene und lange schon in der Schweiz lebende Dame mit zwei dicken Ringen an der linken Hand auf dem Titel, sie schaut listig nicht in die Kamera. Sie stellte 1984, lese ich hinten, einen Ausreiseantrag. Ich kann mich gut erinnern, wie das damals war mit den Ausreiseanträgen, die einen stellten sie und kamen raus, die anderen litten, weil sie die kannten, die raus durften. Aber das war in einem anderen Land. Als Kind hörte ich von den großen Schwierigkeiten, die Sophia Loren erstens hatte, weil sie sich scheiden lassen wollte und zweitens, weil sie die Schweizer Staatsbürgerschaft erstrebte. Vielleicht habe ich das aber nur völlig falsch gespeichert. Ich würde mir im Zweifel gern die Schweizer Staatsbürgerschaft aufdrängen lassen, nur die drängen dort nicht, das ist das Problem. So bleibe ich gelernter DDR-Bürger der BRD.

22. Januar 2020

Es gibt Kuchen, die sehen nicht wirklich gut aus. Selbst bei Elisabeth Raether, deren Rezept-Vorstellungen im ZEIT-Magazin schon schmecken, wenn man sie noch gar nicht probiert hat, weil sie so lekker geschrieben sind, wie unsere niederländischen Freunde sagen würden. Also in diesem Falle rede ich von einem Mandel-Orangen-Kuchen, den Raether einem Kochbuch der ägyptisch-britischen Autorin Claudia Roden entnommen hat. Der enthält keinerlei Mehl, dafür aber zwei Bio-Orangen in Gänze, die vorher anderthalb Stunden am Stück gekocht werden müssen, danach püriert und so weiter. Der Kuchen muss dann eine Weile rumstehen und ehe wir uns im Kino den neuen Udo-Lindenberg-Film von Hermine Huntgeburth ansehen, kosten wir ihn. Mit Schlagsahne drauf. „Hallo-Ballo“ hätten wir früher gesagt, aber das war auch in einem anderen Land. Wer irgendwo  alte ZEIT-Magazine findet, suche nach der Kolumne „Die trinkende Frau“ von Raether: Lekker!


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