Tagebuch

23. Mai 2019

Was für ein Tagesauftakt: Eric Clapton beim Bäcker, er singt „Layla“ im Radio, während ein gebrochen deutsch sprechender Urgermane mit vermutlich kasachischem Hintergrund verschiedene Bestellungen aufgibt, die nicht sofort und eindeutig erkennbar werden. Ich habe die Parkscheibe im Auto so wenig vergessen wie später auf dem Kaufland-Parkdeck. Geplauder am Zeitungsstand wie zuvor schon auf dem Markt mit dem Leiter des Kulturamtes. In den Zeitungen aus Gehren von gestern drei Todesanzeigen für meine Todesanzeigen-Sammlung: ein Ex-Bürgermeister, ein Ex-Kollege von der Hochschule, ein Ex-Schul-Kollege, von dem ich schon schrieb. Man rutscht leise und unauffällig in den Status des Überlebenden. Mein erster Text zu Klaus Mann ist sehr viel länger geworden, als ich zunächst dachte und immer noch fehlt manches, was hätte drinnen stehen können. Dreißig Seiten schrieb ich, ehe ich die Fassung für BÜCHER, BÜCHER schließlich ins Netz stellte.

22. Mai 2019

Zehn Jahre vor Klaus Mann nahm sich Ernst Toller im Bad seines New Yorker Hotels das Leben. Arnold Zweig widmete diesem 22. Mai 1939 seinen Nachruf „In Memoriam Ernst Toller“ und fragte: „…wie sollte das Herz eines Dichters, der an den Wert und die Güte des Menschen glaubte, nicht brechen unter der Last dieses Bösen?“ Die Totenliste jener Tage ist lang, fünf Tage später folgte in Paris Joseph Roth. Bei ihm war es Selbstmord durch Alkohol. Schade, dass fortgesetzte Dummdreistigkeit, verbunden mit Gefährdung der Weltwirtschaft und des Weltfriedens nicht auch tödlich ist wie Rauchen, dann hätten wir diesen orangefarbenen Präsidenten nicht mehr jenseits des Ozeans, der vermutlich auch einen heute lebenden Toller in den Tod getrieben hätte. Ansonsten ist heute Tag der biologischen Vielfalt, las ich, man nennt das in besseren Häusern auch Biodiversität. Diversity-Management kann man sogar studieren, bezogen aber nur auf Zweibeiner mit Großhirn.

21. Mai 2019

Wieder einer, der tot ist. Gestern der Anruf eines Freundes. Gerade erst Frank, nun er. Man vererbte ihm den Spitznamen seines Vaters: Rakete. Wann sprach ich zuletzt mit ihm? Seine Frau war, ist vielleicht immer noch, Freundin einer Frau, in die ich mich mit 13/14 Jahren verliebt hatte, eine Zwillingsfrau. Bei gleicher Gelegenheit die Frage, ob ich aus Anlass der sechzigsten Wiederkehr unserer Einschulung 1959 die übliche Rede halten könnte in Gehren? An dieses Jubiläum habe ich, verrückt genug, bisher keine Sekunde gedacht. Natürlich werde ich die Rede halten und möglichst direkt, auch wenn meine Video-Botschaft mehr Beifall fand, als ich gedacht hätte. Zumindest in Gehren gehe ich mittelfristig in die Geschichte ein als der, der immer die Reden hält. Am 21. Mai 1949 schied Klaus Mann in Cannes freiwillig aus dem Leben, soweit man dergleichen freiwillig nennt. Selbst in Erfurt will man seiner aus diesem Anlass gedenken, allerdings eine Woche später.

20. Mai 2019

Reinhard Döring, immer freundlicher und fast unmäßig bescheidener Mann, ein Experte in der Heimatgeschichte Ilmenaus von hohen Graden, kann sich nicht mehr mit seinem milden Einspruch in der Redaktion von FREIES WORT melden. Eine warum auch immer erschreckend uninformierte Dame namens Isolde Müller vermeldet über sein verdienstvolles Wirken unter anderem, Döring habe zur Geschichte des Ilmenauer Rokoko-Schlosses geforscht, der heutigen „Alten Försterei“. Ich fand bisher keinen Protest aus Kreisen, die es besser wissen, im Blatt. Ich will gar nicht auf mein winziges Büchlein „Ilmenau von A bis Z“, in dem man ohne den geringsten Forschungsaufwand hätte nachlesen können, besonders verweisen, die Tafel mit dem Hinweis auf das Schloss hing viele Jahre an der gelben Mauer neben der einstigen Post, der jetzigen Volksbank. Wirklich schlimm ist, dass in einer Lokalredaktion niemand solche Fehler bemerkt. Oder gar nicht schlimm: nur normal.

19. Mai 2019

Wenn das Wetter richtig schlecht ist, vermiest es einem unter Umständen ein ganzes Stadterlebnis. Vor 20 Jahren fuhren wir nach Winterthur, wo wir seither nie wieder waren. Es goss nach allen Regeln der Kunst, das macht selbst Städte hässlich, die eigentlich gar nicht so schlimm sind. Schaue ich heute auf das Foto vom Theater in Winterthur, denke ich immer noch: was dort wohl gespielt wird? Muss man es wissen? Am Abend des gleichen Tages, es war ein Mittwoch, Ermatingen im strahlenden Sonnenschein, der Bodensee stand dort noch höher als bei uns in Steckborn und dennoch: angenehme Erinnerungen. Ich bin in der Nacht tatsächlich mit meinem Sebald zu einem Ende gekommen, der auch eine Zeit in der Schweiz lebte. Wieder ist es viel geworden und hätte noch mehr werden können. Krankenbesuch in Gehren heute mit Rhabarberkuchen. Die neuen Fenster sind so dicht, dass man mit 90 die Autos nicht mehr hört, nur noch den Schwerverkehr.

18. Mai 2019

Unser Zweitausflug zum Rheinfall fiel auf den 26. August 2012, das war ein Sonntag, ließ sich gestern mit etwas Aufwand noch herausfinden. Am 18. Mai 1999 besuchten wir die Kartause Ittingen zum ersten Mal und die Kantonshauptstadt Frauenfeld. Im Lauf der Jahre sahen wir alle Kantonshauptstädte, weil wir uns irgendwann einfach das Ziel setzten. Und wunderten uns in jeder kleinen Stadt neu über die großzügigen Parkmöglichkeiten. In Ilmenau haben ganze Gruppen von Lokalpolitikern kein höheres Ziel, als Parkhäuser zu verhindern, gar noch ein neues in der Nähe des Bahnhofs, wo, wie aus aller Welt bekannt, Parkhäuser völlig überflüssig sind. Heute ist nun der 75. Geburtstag von W. G. Sebald, der 2001 nach einem Herzinfarkt im Auto an den Folgen des sich anschließenden Verkehrsunfalls starb. Die selbstzufriedene westdeutsche Öffentlichkeit störte er mit seiner These auf, die deutsche Nachkriegsliteratur habe den Bombenkrieg komplett ausgeblendet.

17. Mai 2019

Im Briefkasten heute vor aller Post zwei bunte Blättchen: „Monster Truck Stunt & Actionshow“. Ich erinnere mich der hibbeligen Begeisterung eines Jungvolontärs aus Ostwestfalen, dem eine solche Ankündigung in die Hände fiel 1990 oder 1991. Natürlich erlaubte ich ihm, den Termin mit dem eigenen Fotoapparat, damals noch analog, wahrzunehmen. Als ich die entwickelten Bilder dann sah, frisch aus der redaktionseigenen Dunkelkammer (was war das denn?), war ich nicht in der Lage, mein Kopfschütteln zu unterdrücken. Am 17. Mai 1999 besuchte ich erstmals den legendären Rheinfall bei Neuhausen und anschließend die Stadt Schaffhausen mit dem Kastell Munot. Jahre später nahmen wir uns mehr Zeit, fuhren sogar Boot im Becken unterhalb des Falles. Der Versuch, meine Archiv-Bestände zu W. G. Sebald etwas zu ergänzen, der morgen 75 Jahre alt geworden wäre, führte zu einem vorübergehenden Drucker-Streik, was mir fast den kompletten Vormittag raubte.

16. Mai 2019

Vermutlich kann man, damit befasst, kein Gendersternchen in seinem/ihrem Text zu vergessen, nicht auch noch auf eine Titelzeile achten, die nicht von Dämlichkeit gebeutelt wird. „Arme Kinder haben arme Eltern“ steht heute im ehemaligen Organ des ehemaligen Zentralkomitees auf der Seite 11, man ist erleichtert: wenigstens hier herrscht noch Ordnung. Man stelle sich vor, arme Kinder hätten reiche Eltern oder, schlimmer, reiche Kinder hätten arme Eltern. Dann hätten vermutlich die Eltern irgendeinen Fehler gemacht. Immerhin: solange im reichen Deutschland noch so viele Arme reich genug sind, ihre leer getrunkenen Pfandflaschen nicht selbst zum Automaten zu bringen, so lange haben die ganz armen Armen, jedenfalls fürs Pressefoto, noch einen soliden Nebenverdienst, der nicht auf Hartz IV angerechnet wird. Am 16. Mai 1999, das Jahrtausend war noch lange nicht zu Ende, sahen wir erst Stein am Rhein und dann das Napoleonmuseum Arenenberg mit viel Seeblick.

15. Mai 2019

Der 15. Mai 1999 war ein Sonnabend, an dem wir uns 8.25 Uhr auf den Weg in die Schweiz machten, gebucht hatte ich eine Wohnung in Steckborn am Bodensee. Kurz vor der Grenze, der Ort heißt Rielasingen, sah ich zu beiden Seiten der Straße je einen Getränkemarkt, was mich damals noch mehr als heute elektrisierte. Und tatsächlich fand ich in beiden derart viele neue Biersorten, dass ich zwei volle Kästen im Auto zu verstauen hatte, denen wenig später noch, schon auf der Schweizer Seite, die Produkte der Falkenbrauerei Schaffhausen folgten, von denen ich bis dato nur eine Sorte kannte. Unsere Wohnung gehörte zu einer Bootswerft, der Empfang sehr freundlich, der Bodensee war leider über die Ufer getreten, so dass wir teilweise auf Stegen laufen mussten, um unseren Urlaubsort zu erkunden. 19 Fotos meldet mein Tagebuch lakonisch. Sie zeigen Bänke im Seewasser, Sandsäcke vor Fenstern und eine traumhaft schöne weiße Katze in einem Schaufenster.

14. Mai 2019

Dafür, dass er in der Hauptsache Essayist ist, Herausgeber, Redakteur von „Literatur und Kritik“, deren jüngste 12 Jahrgänge meinen Zeitschriften-Bestand bereichern, hat er eine unfassbare Menge an Preisen bekommen. Also gar nicht so weit von ihm selbst weg sein Gedanke, einer der von ihm verantworteten Hefte (es gibt je fünf in einem Kalenderjahr) Lobreden zu widmen, Laudationes, wie das in Magisterkreisen lieber genannt wird: es ist das März-Heft 2019, für das er wie immer das Editorial verfasste: Karl-Markus Gauß. Am 14. Mai 1954 in Salzburg geboren, dortselbst lebend, von dort aus reisend. Zu einem anderen 65. Geburtstag dieses Jahres bin ich frühzeitig eingeladen worden, musste ebenso frühzeitig absagen wegen einer Reise. Zu diesem 65. Geburtstag trage ich nur mit dieser Notiz bei, was auch sonst. Gauß ist für mich noch immer weitgehend unentdecktes Land, mit Salzburg steht es deutlich besser. Mit meinem durchaus ansehnlichen Gauß-Archiv auch.

13. Mai 2019

Am 13. Mai 1994 sah ich zum ersten Mal im 41-jährigen Leben Luxemburg, Land und Hauptstadt. Ich befand mich mit meinem 73 Jahre alten Vater auf einer Art Männertagsreise an der Mosel, von wo aus der Ausflug seinen Ausgang nahm. In Luxemburg, wo ich knapp zwei Jahre später erstmals mild erschrocken verkehrt in eine Einbahnstraße fuhr, nur dank eines verständnisvollen Busfahrers ohne Blessuren und Strafen wieder herauskam, befand mein Vater den strammen Marschtritt unserer Stadtführerin für zu schnell und legte einen störrischen Steh-Streik ein, was mich um das Erlebnis der Kasematten brachte, die ich tatsächlich erst 2008 betrat. Wir sahen damals auch Mertert, weil der Bus uns wie zufällig an einem Riesenmarkt eine Pause gönnte. 2008 dann wohnten wir dort in einem schlossartigen Bau in einer Wohnung über zwei Etagen und bestätigten uns allabendlich, dass alle dummen Gerüchte über Weine aus Luxemburg dumm sind. Nicht nur Elblinge schmecken fein.

12. Mai 2019

Man hört zwar im Rasiersender während der Autofahrt diverse Veranstaltungshinweise, sie dringen aber nicht tiefer. In Jena ist heute Frühlingsfest, das Wetter wie vorhergesagt deutlich besser als gestern, aber auch gleich schlechtes Wetter hätte den starken Eindruck nicht verderben können, den diese Inszenierung von Nora Schlocker hinterließ. Wir mussten in Dresden bis tief in die Nacht Wein aus Südafrika trinken, eben eingeflogen, um unserer Freude zusätzlich Ausdruck zu verleihen. Für mich zwei südafrikanische Biere, eben eingeflogen: Freunde, das Leben ist lebenswert. In Jena sperrte die Polizei eben alles ab, was das Navi empfahl, wir fanden auf Umwegen den Parkplatz doch, den wir finden wollten und trotz Kampfdemonstration und Frühlingsfest auch einen guten Platz in einem guten Restaurant. Während solcher Feste wird Nahrung erwartungsgemäß vor allem stehend aufgenommen, was Freunden warmer Mahlzeiten mit Sitzplatz Möglichkeiten eröffnet.


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