Tagebuch

28. November 2018

Lese ich doch heute die gestern wegen der Literatur-Beilage erworbene Süddeutsche Zeitung wie ein gut erzogener Mensch von vorn nach hinten, weshalb ich rasch bei der Seite Drei lande, der ein Ruhm voraus und hinterher eilt. Es geht dort um Michelle Obama, die eben ihr Neu-Buch weltweit promotet, von dem sogar in den Abendnachrichten vermeldet wurde, es erscheine in 30 Ländern zugleich und die Zahl der Millionen wurde ebenfalls genannt, die gedruckt sind. Ich habe sie schon wieder vergessen. Heute aber erfahre ich, dass die Autorin für einen anderthalbstündigen Leseabend in einer großen Halle bescheidene 800.000 Dollar verlangt (und bekommt), weil die Firma, die die Vermarktungstour organisiert, an jedem dieser Abende Millionen verdient. Dagegen ist sicher wenig einzuwenden. Immerhin hat Michelle Obama im Garten des Weißen Hauses eigenhändig Gemüse gezüchtet. Und ihre Urahnen waren waschechte Sklaven, die man tatsächlich noch Neger nannte.

27. November 2018

Darf man eigentlich noch Versöhnung sagen oder muss man immer Versöhnung und Vertöchterung sagen? Nach einem Streit mit der Tochter klingt Versöhnung blöd, wenn auch nicht ganz so, als wenn im Vaterland Muttersprache gesprochen wird, der Fußball aber, obwohl eine Ewigkeit allein von Männern betrieben, ein Mutterland hat, jenes, welches sich eben aus Europa verabschiedet. Mit diesen Erwägungen will ich meinen Beitrag zur allgemeinen Verunsicherung abgeschlossen haben, auch wenn ich von der Ersten Allgemeinen Verunsicherung eher wenig halte, das Ur-Vergnügen an diesen Kandidaten muss wasserlöslich gewesen sein. In einer Weinkolumne von Stuart Pigott las ich von den Problemen, die der Chardonnay aus dem Burgund seit dem Beginn des Jahrtausends hat, betroffen insbesondere Meursault und Puligny-Montrachet und sofort fiel mir ein, wie ich 2003 wie angewurzelt in Meursault vor dem Schaufenster stand, starr auf Flaschenpreise blickend, sprachlos.

26. November 2018

Erst muss der „Sommernachtstraum“ ins Netz, dann darf das Tagebuch folgen. In dem ohnehin nur Unmut zu vermelden ist: Unmut darüber, dass ich den heutigen fünfzigsten Todestag von Arnold Zweig verstreichen lasse, ohne ihm mehr als diese Notiz widmen zu können. Gottfried Keller und Theodor Fontane halten mich zu sehr auf Trab, da ist ein Shakespeare zwischendurch nur Erholung, Zweig aber wäre sofort wieder Arbeit, für weniger ist er mir zu schade. Zwar meldet die Suchmaske auf meiner Seite stolze 29 Treffer, doch weiß ich, was ich gern geschrieben hätte und schweige davon. Auf den unergründlichen Postwegen ist mal wieder eine Sendung verloren gegangen, die mir am 2. November als unterwegs befindlich gemeldet wurde. Den Antiquar in Lübeck wird das kaum freuen, Buch weg, trotzdem kein Geld. Und mir fehlt das Buch, das ich nun anderweitig und sicher teurer besorgen muss. Für diesen Montag sei das genug des Jammerns auf solch flachem Niveau.

25. November 2018

Mehr Gesang bei einem „Sommernachtstraum“ hatten wir noch nicht. Weiter hinten saßen wir auch noch nicht. Wir amüsierten uns mächtig. Unsere Bratwürste aus Pennewitz erhielten höchstes Lob, der Unstrut-Silvaner und der Cabernet Sauvignon aus dem Columbia Valley im Gegenzug auch. In diesem Jahr sehen wir Dresden nicht mehr. Für das nächste läuft die Feinabstimmung. Beinahe hätten wir bulgarische Freunde aus Brüssel getroffen, tatsächlich habe ich mein Theaterjackett auf dem Boy hängen lassen und sehe es erst zu Silvester wieder. Ich kann es entbehren, weil ich noch ein Zweit-Jackett mein eigen nenne, sowie die ganz gute Jacke, die ich immer nur anziehe, wenn es ein ganz besonderes Ereignis gibt. Von dieser Sorte gibt es nur wenige. Ein einziges Exemplar aus dem Tibet gibt es dafür neu in meiner Bieretiketten-Sammlung, denn unsere lieben Freunde und Gastgeber haben von den Höhen ein Fläschlein mitgebracht. Nur für mich. Ich beneide mich sehr.

24. November 2018

Normalerweise sehe ich, wenn ich aus unseren Fenstern zur Keplerstraße schaue, Müllfahrzeuge, Falschparker, Mietparkplatz-Inhaber, Handwerker-Kleintransporter, Nachbarn mit Hunden, Nachbarinnen ohne Hunde, rauchende Kindergärtnerinnen, den Mann mit dem Beutel über der Schulter, den Müllwühler mit Krückstock, die Frau, die sich beobachtet fühlt, die Frau, die jede Nacht das Licht brennen und den Fernseher laufen lässt. Und nun, zur klaren Mittagsstunde einen original Asiaten nicht zuordenbaren Migrationshintergrundes mit den Falten fortschreitenden Alters im Gesicht und er vollführt Bewegungen, die aussehen wie Kampfsport in Zeitlupe. Etwas fixer dieses Ritual und es sähe gefährlich aus. Nun müsste auch mal jemand mit einer Kabuki-Trommel kommen und nicht immer nur der Spielmannszug, wenn der Kindergarten Lampion-Umzug macht. Wir befinden uns heute in Dresden, aber nicht wegen Pegida, sondern wegen William Shakespeare.

23. November 2018

Es ist verblüffend, wie sehr man an Ilmenau vorbei schreiben kann, wenn man für die ZEIT über Ilmenau schreibt. Sogar mit eingeschränkter Farbwahrnehmung kommt man durch, man vergleiche den Text von Marcel Laskus in der gestrigen ZEIT-Beilage Z mit dem tatsächlichen Ilmenauer Hauptbahnhof, der seit einer ganzen Weile tatsächlich Technologie-Terminal heißt. Man gehe die Steinstraße mit ihren angeblich rechts und links stehenden Trabis nach oben und schaue, ob dann der Lindenberg in der Ferne oder direkt vor der Nase liegt. Ausgerechnet das „Brothaus Johann“ als Überraschungsname für das dort ursprünglich geplante „Wiener Kaffee“ wird mit jenem Goethe in Verbindung gebracht, der in Ilmenau 28mal zu Gast war, um dem hektischen Weimarer Treiben zu entfliehen. Lernt man an der Deutschen Journalistenschule München tatsächlich solche Recherche-Schlampereien? Matschige Klöße, Familie Marschlich liest das hoffentlich im Sitzen. So wie ich.

22. November 2018

Schlecht gelaunter Busfahrer moniert, dass ich ihm meine 1,30 Euro schon aufs Pult lege, als dort noch 40 Cent von der Dame vor mir liegen. Wie soll er, fragt er, erkennen, welches Geld meines ist. Ich hätte sagen müssen, dass Gott zu diesem Zweck an der vorderen Oberseite seines Kopfes zwei Löcher gelassen hat, durch die mittels Augen Informationen aufgenommen werden können, deren Verarbeitung freilich eines Gehirnes bedarf, das bei schlecht gelaunten Busfahrern, die a) zu früh kommen, b) an der falschen Stelle halten und c) eine Fresse ziehen, als hätte ihnen Mutti heute die falsche Leberwurst aufs Brot geschmiert, noch nicht zwingend eingeschaltet sein muss, während sie trotzdem schon fahren. Natürlich sage ich das nicht, denn ich achte den Beruf des Busfahrers, weiß, dass er ohne Überstunden nicht leben kann und folglich, statt zu leben, vor allem Bus fährt. Sonst ist es neblig, ich winke beim Aussteigen einem russisch brabbelnden Kind, das glatt zurückwinkt.

21. November 2018

Ich verrate für ein Linsengericht nichts und niemanden, gestehe aber, dass ich gern eins esse und deshalb steht fast immer ein Büchslein im Regal. Gern mag ich auch den Moment, wo ich nach einer langen Vorarbeit den ersten Satz gefunden habe und wenn der da steht, folgen in Windeseile drei Absätze nach zu je 13 Zeilen und dann schreibt sich der Rest von allein. Ich strich heute einer Nachbarskatze über den Kopf, sie ließ es sich gefallen, ich sah, das Deutschland nun doch im Lostopf 2 gelandet ist, was ich besser finde, als im Mustopf zu landen. Mit gelbem Textmarker bedenke ich einen Satz von Maximilian Harden: „Der Schweizer ist besonnen, eben drum ist der unbesonnene Teil im Land so berühmt.“ Der Schnee draußen, von dem ich gestern am Telefon hörte, er sei in Dresden noch nicht angekommen, verabschiedet sich heute schon wieder, es war ihm hinreichend, den Hermesboten geärgert zu haben, der laufen musste, weil die Straße blockiert war.

20. November 2018

Verspätet ist mir die verspätete Todesanzeige für Dirk Pilz in die Hände gefallen, dessen Namen vor allem Leute kennen, die Theaterkritiken lesen, also letztlich: niemand. Es wäre eine glatte Lüge,   behauptete ich, ihn gekannt zu haben. Wir sind uns ab und zu in Berlin begegnet, einmal wechselten wir anderthalb Worte im damals noch prä-migrantischen Maxim-Gorki-Theater, er kam mit seinem Rollköfferchen auf den letzten Drücker, ich stand ihm beim Ansturm auf die Garderobe irgendwie im Weg. Seine Texte waren Synergie-Effekt-Texte in den letzten Jahren, man las sie nicht mehr nur in der Berliner Zeitung oder Frankfurter Rundschau. Er war auch einer der Nachtkritik-Begründer, was nicht posthum gegen ihn verwendet werden soll. Die Beisetzung ist übermorgen in Alt-Stralau. Heute feiert das Museum der Stiftung Haus der Geschichte in der Kulturbrauerei ihr fünfjähriges Jubiläum, ich war freundlich eingeladen, doch Dienstage sind keine guten Berlin-Termine für mich. 

19. November 2018

Die erste leibhaftige Oberbürgermeister-Besichtigung liegt hinter uns. Wir sahen noch die nervös umher spähende Hauptamtsleiterin, Meisterin des Protokolles, in diese und jene Richtung schauen, während verschieden Bemützte sich so nach und nach um den Gedenkort sammelten, als er dann erschien: jungenhaft, unauffällig, die Zeiten breitkrempiger schwarzer Hüte sind vorbei. Ihm scheint man noch alles sagen zu müssen und er selbst sagt fast nichts. Das Protokoll hat Übermacht, jeder vergessene Ehrengast kann eine Stimme kosten bei der nächsten Abstimmung. Seine Wahlklientel ist stärker bei diesem Volkstrauertag vertreten als sie es je war, der Kreis derer, um die getrauert, derer gedacht wird, ist längst formelhaft so erweitert, dass auch die, die einen wegen Mitgliedschaft im Volksbund deutscher Kriegsgräberfürsorge glatt kryptischer Rechtsradikalität verdächtigten, jetzt ihre Mützen von den Ohren ziehen, wenn die Solotrompete beginnt: „Ich hatt`einen Kameraden …“

18. November 2018

Im Felde der Beunruhigungen gibt es auch handfeste: während ich eben vor meinem Bildschirm sitze an zwei Dateien, die ich abwechselnd fortschreibe, gibt es plötzlich ein nie gehörtes Geräusch. Einer unserer Rauchmelder, der im Flur, hat angeschlagen, ein zweiter im Wohnzimmer, blinkt immerhin schon vor sich hin. Panik: Was nun? Kommt jetzt die Feuerwehr, wer bezahlt Fehlalarm im Fall eines Fehlalarms? Immerhin findet sich nach etlichen sprungartigen Bewegungen durch die Wohnung, nach Kletterübungen auf einem Stuhl zum Zwecke des Ausschaltens auch das Merkblatt. Der Rauch, den gleich zwei Melder meldeten, entstammte dem großen Bräter in der Küche, in dem einige Kohlrouladen trotz Abzugshaube darüber wie eine gute alte NVA-Nebelgranate nebelten. Man soll also lieber den Rouladenduft in die letzte Ritze dringen lassen als die Schlafzimmer mit geschlossenen Türen schützen. Der Kommunismus ist schuld: er hinterließ Küchen ohne Fenster.

17. November 2018

Den heutigen Tag habe ich erst zu spätester Stunde mit flüchtigen Gedanken an dieses Tagebuch verbracht, des Stoffes voll, der ins ganz Private hätte führen müssen, da dies der 66. Geburtstag einer Schulfreundin gewesen wäre, die aber vor 16 Jahren freiwillig aus dem Leben ging. Curt Goetz hätte ich kaum erwähnt, weil ich seiner schon mehrfach gedachte, Berta Lask steht dafür in meinem Erinnerungskalender für Schreibanlässe, Doris Lessing noch nicht, auch wenn sie auch schon wieder fünf Jahre tot ist. Beunruhigt hat mich, dass ich für eine Behauptung im Anhang des dreibändigen Ehebriefwechsels von Theodor und Emilie Fontane, nämlich einen Harz-Aufenthalt für 1866, nirgends auch nur den geringsten Beleg finden konnte, in Tagebüchern nicht, in Briefen nicht, immer stieß ich auf kräftige Lücken für eben das Jahr 1866, über die sich die jeweiligen Herausgeber tapfer ausschweigen. Ich gebe zu, solche Beunruhigungen sind solistischer Luxus.


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