Tagebuch

30. November 2023

Nachtrag: Drei Anwendungen in dichter Folge am Morgen bringen den Vorteil eines langen freien Tages. Ich schaffe 48 Seiten schwer genießbaren Wassermann, dessen Buch alles ist, was ich nie als Autobiographie bezeichnen würde, es ist faktenarm, selten anschaulich, kaum einmal so auf den Punkt formuliert, dass ich mir den Satz notieren würde. Gestern standen wir am Goethe-Denkmal und sahen, dass wir den Kammerbühl auf keinen Fall sehen werden in dieser Woche. Heute sahen wir das Wilhelm-Müller-Denkmal, der nur 1826 Kurgast in Franzensbad war. Der Sauvignon am Abend war der dritte trockene tschechische Weißwein, den wir kosteten, er war der schwächste, der Welschriesling der beste, auch wenn uns die Chefin des Hauses ihren Weißburgunder nahelegen wollte, der freilich auch sehr respektabel war. Mit an unserem Tisch sitzt seit dem ersten Abend ein Paar unseres Alters aus Rudolstadt, mit dem wir uns sofort gut verstanden und viel schwätzen.

29. November 2023

Nachtrag: Wir hätten um 13 Uhr schon da sein sollen, was uns aber niemand vorher mitteilte. So war unser Vorstellungsgespräch bei der Ärztin schon Geschichte, ehe wir überhaupt die Rezeption passiert hatten. Wir besiedelten Zimmer 108 mit Blick auf einen Frisör-Salon und eine Vinothek, bekamen noch vorher den Tisch Nummer 8 zugewiesen und durften auf einem Vordruck ausfüllen, was wir an welchem Tag zu essen gedachten. Erstmals gültig für heute, denn gestern mussten wir nehmen, was es gab. Ersten Fußgang in Dunkelheit und Kälte absolvierten wir in die unmittelbare Nachbarschaft. Das Zimmer hat einen freundlichen und gut beleuchteten Schreibtischplatz, was mich immer erfreut, denn ich habe die Absicht, mit Jakob Wassermanns „Mein Weg als Deutscher und Jude“ so weit wie möglich zu kommen. Meine erste Anwendung heute: Moorpackung, gleich um 7 Uhr. Danach nach dem Frühstück Wassergymnastik und eine angenehme manuelle Therapie.

28. November 2023

Eine Franzensbader Elegie hat Goethe leider nicht hinterlassen, denn Silvie von Ziegesar übte wohl eine so große Anziehungskraft auf ihn aus, dass er sich in aller Heimlichkeit wie einst gen Italien von Karlsbad gen Franzensbad aus dem Staub machte, dort aber war es mit dem Inkognito dann nicht weit her. Heiratspläne hätte der noch nicht ganz so alte Goethe ohnehin keine schmieden können, denn zu Hause in Weimar wartete Christiane mit August. Der Gatte sandte ihr Wasser, von dem er selbst gern trank. Wir werden heute hoffentlich ohne Störungen in Franzensbad eintreffen und ganz sicher nicht sogleich auf Goethes Spuren wandeln. Nach Karlsbad 2013 und Marienbad in diesem Jahr, als Büsche und Bäume noch kahl waren, nun auch das dritte der Bäder Westböhmens, da Büsche und Bäume wieder kahl sind. Hier wird deshalb eine unvermeidliche Sendepause folgen, die wiederum mit Nachträgen ausgeglichen wird. Bis dahin genießen wir diverse Anwendungen.

27. November 2023

Wenn ich in meinem Archiv schnüffle an der Stelle, wo Material zu Eugene O’Neill gesammelt ist, falls ich da schon alles einsortiert habe, dann sehe ich eine ziemlich erdrückende Übermacht von Kritiken zu „Eines langen Tages Reise in die Nacht“, sogar mich selbst habe ich dorthin sortiert, weil ich eben, lang ist es her, im Landestheater Eisenach, selige Zeiten in diesem schönen Haus, eine Inszenierung sah. Meiner DDR-Ausgabe mit O’Neill-Stücken fügte ich nach dem Niedergang des Ausgabelandes zwei Bände „Meisterdramen“ hinzu, bei S. Fischer erschienen, in Band II steckt heute noch als Lesezeichen ein Verlagsflyer für H. G. Wells „Die Welt des William Clifford“. Den Roman kenne und besitze ich nicht, mein Wells-Bestand stagniert bei sechs Bänden. Zuletzt las ich von O’Neill „Unterm karibischen Mond“, das war am 27. November 2013. Was damals der 60. Todestag war, ist heute der 70., ich werde „Im Nebel vor Cardiff“ lesen, das ist sehr schön kurz.

26. November 2023

Mihaly Babits ist tatsächlich am 26. November 1883 geboren, Irrtum der Nachschlagewirtschaft ausgeschlossen. Damit gehört er, wofür er nichts kann, zum Jahrgang Franz Kafkas, zu dessen 100. Todestag im kommenden Jahr wir totsicher mit Ergüssen geflutet werden. Den Ungarn Babits kennt kein Mensch, würde ich sagen, wenn ich es nicht besser wüsste. Denn ich habe anno 2016 bereits einmal über ihn geschrieben, als er 75 Jahre tot war. In Wien nannte man ihn Michael, als man dort seine „Geschichte der europäischen Literatur“ veröffentlichte. Dort nennt man freilich auch jeden János tapfer Johann und jeden Imre Emmerich, als gehörten die Magyaren noch immer zur guten, alten Donau-Monarchie. Der Babits war wichtig im so genannten Nyugat-Kreis, von dem ich sagen würde, dass ihn niemand kennt, wenn ich es nicht besser wüsste, siehe oben. Wer wie ich mehr als ein halbes seiner nun mehr als 70 Jahre in Ungarn verbracht, kennt eben auch einige tote Ungarn.

25. November 2023

Beinahe hätte ich heute über Anthony Burgess geschrieben, in der irrtümlichen Annahme, er sei am 25. November 1993 gestorben. Ist er aber nicht, da war er nämlich schon drei Tage tot. Immerhin, ich darf auch heute verraten, dass ich „A Clockwork Orange“ nie vollständig ansehen konnte, es gehörte in Zeiten der in jeder zweiten Garage aufblühenden Videotheken nach 1990 zu den ersten Werken, die ich mir auslieh. Es nervte mich, ich fand die allgemeine Begeisterung, die ja vor allem auf Stanley Kubrick gemünzt war, der aus dem Buch einen Film gemacht hatte, übertrieben, und zwar heillos. Aber das kannte ich schon von der „Rocky Horror Picture Show“, im Westen Kultfilm, für mich nur verklemmter Mumpitz mit Strapsen. Wobei ich Susan Sarandon bis heute mag. Von Burgess gibt es auch eine Hemingway-Biographie, die ich im September 2011 las und eine „Kleine Kulturgeschichte des Liegens“, Titel „Wiege, Bett und Récamier“, die ich bis heute noch nicht las.

24. November 2023

Und heute Schnee. Erst krümelig als Graupelschauer, während ich in täglicher Bravheit Altglas zu den Containern trage, was den Grundstein legt an Schritten via 10.000. Später dann Flocken wie im Schöpfungsplan für Winteranfänge vorgesehen. Wir werden morgen Schnee fegen müssen. Unsere hochverehrten Grünen klatschen am lautesten, wenn die Abschaffung der Schuldenbremse gefordert wird. Geld ausgeben, das nicht da ist, war immer ein rosarotes Phänomen. Der ganze Sozialismus ging nicht zuletzt zugrunde, weil er ständig nicht vorhandenes Geld ausgab. Kann man Sozialismus auch in einem Land aufbauen, hieß einst die falsch mit Ja beantwortete Frage. Jetzt versucht Grün-Rot, den Kapitalismus eines einzelnen Landes zugrunde zu richten, dem immerhin die Möglichkeit bleibt, das Land zu verlassen. Der Bevölkerung wird das kaum gelingen. Sie muss dableiben. Die Nachhaltigkeitsschwätzer vererben Schuldenberge, dieses Erbe kann man leider nicht ausschlagen.

23. November 2023

Nach einer gewissen Zeit werden auch eigene Tagebücher zu fremden. Ich könnte demnach, würde ich ein Buch schreiben mit dem Titel „In fremden Tagebüchern unterwegs“, durchaus bei mir selbst wildern, nachdem ich aus zahlreichen Tagebüchern, die ich besitze, den gedruckten, den von Hand geschriebenen, kräftig zitiert hätte. Am 23. November 1998 etwa produzierte ich in Ilmenau meine allererste Mac-Seite, der gute alte Linotype-Kasten wurde demontiert und mir wuchs das Programm QuarkXPress so ans Herz, dass ich ihm lange nachtrauerte, als ich später an hauseigene Redaktions-Systeme gezwungen wurde, die unfassbar teuer waren, nichts erleichterten, dafür aber wenigstens mit dem Internet verbunden erschienen. Lang ist es her. Ich sehe, dass das Programm in der 2023er Version immer noch gängig ist, könnte es sogar bei mir laufen lassen. 1990 schrieb ich noch alles mit Schreibmaschine, mechanisch mit Breitwagen, an die elektrische ließ ich mich sanft zwingen.

22. November 2023

Heute lobe ich mich einmal selbst, wenn mich sonst schon niemand lobt. Am 22. November 2013 stellte ich einen Text ins Netz mit dem Titel „Aldous Huxley: Reisebilder“. Ich postierte ihn in die Rubrik JAHRESTAGE, denn es war der 50. Todestag von Huxley, woraus für heute messerscharf folgt: es ist der 60. inzwischen. Ich finde meinen alten Text noch immer ziemlich gut und bin aus diesem Grund nicht traurig über mich selbst, wenn ich für einen neuen eben gerade keine Zeit finde. Ich denke ein wenig an meinen alten Freund Reinhard Escher, dessen 20. Todestag sich in aller Stille näher schleicht, der mir einst „Ape and Essence“ in die Hände drückte, leihweise natürlich nur, es war ein rares Ding damals. Wahrscheinlich habe ich das auch schon irgendwo geschrieben, ich nehme die Wiederholung in Kauf. Vor 50 Jahren hatte ich meinen ersten Tag allein in meiner Bibliothekszweigstelle, Sektion MARÖK, ganz oben im Block G, die volle Telefonverantwortung.

21. November 2023

Besäße ich weiße Archiv-Handschuhe, müsste ich sie stets überstreifen, um mein Exemplar von „Verrohung in der Theaterkritik“ sorglos zwischen die Finger nehmen zu können. Die Klammer-Heftung stammt aus dem Jahr 1902 und ist rostig, die Ecken und Kanten, so weit man von solchen sprechen kann, sind bestoßen. „Zeitgemäße Betrachtungen“ nannte Hermann Sudermann seine 56 Seiten umfassende Polemik, der Rücken ist bereits abgefallen, liegt nur lose dabei. 60 Pfennig wollte der Verlag J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger, so der korrekte Name, fürs geheftete Exemplar einst haben, mich hat die Erstausgabe ein paar Pfennige mehr gekostet. Aber ich las im Lauf der Jahre so viele mehr oder minder vernichtende Kritiken zu Sudermanns Werken, dass es mir als Akt ausgleichender Gerechtigkeit erschien, auch seine Stimme zum Thema zu besitzen. Er starb am 21. November 1928, da war meine Mutter 40 Tage alt, kam immerhin auf 71 Lebensjahre.

20. November 2023

Zu späterer Stunde gestern, den Tatort hinter mir, den Regen draußen auf dem Fensterbrett, stieß ich beim Abschreiben einiger Zitate aus einem Buch, das ich vor mehr als 43 Jahren las, auf das Wort Anorak. Schau doch mal, was das eigentlich ist in den Augen unabhängiger Suchmaschinen, sagte ich mir und siehe: jüngeren Menschen wird erklärt, dass das ein Old-scool-Wort ist. Wer es benutzt, ist demzufolge alt, was ich nicht leugnen kann. Die dünnere Variante des Anoraks heiße Windjacke, die dickere und längere Parka. Parka-Träger beneidete ich als junger DDR-Mensch früher, die Träger von Windjacken nie und wenn mir jemand gesagt hätte, dass das Wort von den Inuit stammt, hätte ich glatt gestutzt: Wie schmuggelte sich Eskimo-Vokabular in die gut gesicherte Republik der Arbeiter und Bauern und der mit ihnen verbündeten Schichten? Ich werde dem Problem weitere Lebenszeit nicht widmen. Komm nu, Werner, sagt mein Namensvetter im Film, die Zeit ist kuaz.

19. November 2023

Aus gewöhnlich gut unterrichteten Berliner Kreisen, die in vollständiger Familienrunde das Spiel Deutschland gegen Türkei verfolgten, verlautet, dass selbst Stadion-Betreiber nach erfreulichen Anfangsminuten abkackten, die Kombination von Bratwurst und Bier, sonst im Olympia-Stadion lange bis längste Schlangen erzeugend, lockt unsere Freunde vom Bosporus nicht. Die kommen zu ihrem Heimspiel zu Fuß, mit der S-Bahn oder auch mit ihren Autos aus ganz Deutschland, was an ihren Kennzeichen, weshalb sie so heißen, gut kenntlich wird. Da es von ihnen innerhalb unserer schlecht bewachten Außengrenzen mehr gibt als Sachsen, fast so viele wie Niedersachsen, ein Mehrfaches aller Saarländer, darf die Welt als in Ordnung abgehakt werden. Die Zahl derer, die Deutschland noch immer als nennenswertes Fußball-Land sehen, verhält sich reziprok zur gefühlten Durchschnittstemperatur unter dem Vorsitz des Klimawandels. Auf nach Österreich, auf nach Wien.


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