Tagebuch

17. Januar 2024

„Was tun?“ fragte 1902 Lenin, dessen 100. Todestag immer näher rutscht, was selbst völlig Lenin-ferne Medien in milde Unruhe versetzt. Ich gehöre zu denen, die das Buch als Student komplett zu Ende lasen, Wikipedia kennt heute noch nicht einmal die Ausgabe innerhalb der 40 braunen Bände, sich damit auf dem üblichen West-Niveau haltend, das zwar sonst jeden Furz nur aus einer, falls vorhanden, Historisch-Kritischen Gesamtausgabe zitiert, hier aber mit albernen Editionen arbeitet. Die Frage „Was tun?“ bewegt mich heute keineswegs als Frage an die Avantgarde des Proletariats, sondern als Frage an die nicht vorhandenen Fachkräfte innerhalb desselben. Fachkräftemangel, das Faktum, mit dem manche auf sittenwidrige Weise die Frage unkontrollierter Zuwanderung koppeln, hat uns eben knapp neben das Herz getroffen. Unser Autohaus schließt, es hat zu wenig Fachkräfte, das geforderte Niveau zu halten. Also wird es Kunden verlieren. Uns erst einmal noch nicht gleich.

16. Januar 2024

Es ist fast 60 Jahre her, dass ich das Buch „Grau-Eule“ von Michail Prischwin in mein ganz frisches Lese-Register eintrug. Es hat dort die Nummer 132, ich war elf Jahre alt, als ich es las. Verblieben ist aus den alten Beständen das Heftchen „Tiergeschichten“ aus dem längst verflossenen Volk und Wissen Verlag, ein antiquarisch erworbenes Buch „Die Flöte Pans“ mit Erzählungen und Skizzen. Die Tiergeschichten kosteten 1949 30 Pfennige und erschienen in der sagenhaften Erstauflage von 100.000 Exemplaren. In Konstantin Paustowskis „Begegnungen mit Dichtern“ findet sich auch Prischwin auf 18 Druckseiten. Was bei ihm fehlt an Angaben und Fakten, bringt Ilma Rakusa in ihren Streifzügen durch die russische Literatur mit dem Titel „Von Ketzern und Klassikern“. Sie fragt schlicht „Wer war Michail Prischwin?“ Das Buch „Grau-Eule“ ist ihr offenbar entgangen. Als es 1954 in der DDR erschien, lebte Prischwin schon nicht mehr: er starb am 16. Januar in Moskau.

15. Januar 2024

Die Druckversion des Wikipedia-Artikels für Ruth Berlau kommt auf 20 Blatt Länge, auf 50 Bearbeiter, wobei der Kollege Fueras für 82 Prozent aller Zeichen verantwortlich ist. Ruth Berlau, was natürlich sehr ungerecht ist, verdankt ihre Bekanntheit ihrem Verhältnis zu Brecht, dem Liebes- wie dem Arbeitsverhältnis, was von Brechts Seite her gesehen unter die Normalfälle gehörte. In meinen sehr überschaubaren Beständen an dänischer Literatur steht auch „Jedes Tier kann es“, Erzählungen von Ruth Berlau, die eine Dänin war, auch wenn sie schließlich und endlich vor 50 Jahren in Ost-Berlin starb. Einer aus der großen Schar der Brecht-Biografen, Klaus Völker, hat ein Nachwort geschrieben, das so endet: „Als ihr Krankenlager in der Charité in der Nacht vom 15. zum 16. Januar 1974 in Flammen aufging, kam die Feuerwehr zu spät.“ Trine Dyrholm, Berlau-Darstellerin im zweiteiligen Brecht-Film (2019), war an jenem Mittwoch noch keine zwei Jahre alt.

14. Januar 2024

Sagen wir so: Es gehört in die Reihe mich bewegender Bilder, wenn ich sehe, wie ein neuer König in einem Land, das ich mag und mehrfach besucht habe, von der alten Königin, seiner Mutter, auf den Stuhl gebeten werden muss, weil er sich nicht gleich und sofort darauf setzt. Draußen jubeln Dänen in sechsstelliger Zahl und schwenken ihre Fähnchen. Frederik X., mit (Wieviel?-)Tagebart, macht einen guten Eindruck und küsst dann auch noch seine Gattin. Herrje, warum haben wir eigentlich keine Königin für 52 Jahre oder länger? Ja, klar, die Novemberrevolution, unser Kaiser ging nach Doorn, wo ich auch schon sein Andenken beschnüffelte. Gut, ein Kaiser mit Pickelhaube ist keine Elisabeth, keine Margrethe, keine Beatrix, keine Juliana. Eine Königin könnte sich im Bellevue in Ruhe und auf Dauer einrichten, während diese Bundespräsidenten ständig wechseln und ständig Reden halten müssen, die ihnen andere schreiben. Im nächsten Leben werde ich Monarchist.

13. Januar 2024

Morgenlektüre Emanuel von Bodman, Gedichte. Sein Wohnhaus in Gottlieben am Bodensee ist das Literaturhaus des Kantons Thurgau. Ich schaute noch gestern nach Ferienwohnungen, mit neuer Schweizlust. Von Steckborn aus kommt man auf dem kurzen Weg nach Kreuzlingen durch das kleine Gottlieben, auf der deutschen Seeseite liegt Gaienhofen mit dem ersten eigenen Haus von Hermann Hesse. Der wie bei Ludwig Finckh auch bei Bodman deren Begeisterung für den Krieg nicht verwinden konnte. Vorarbeiten zu Alfons Paquet. Meine dreibändige Werkausgabe kommt nun doch noch zu Ehren. Am 13. Januar 1999 beging ich ein Sammlerjubiläum. Ich trank meine 2500. Biersorte, ein hefetrübes Hausbräu der Brauerei Zwanzger aus Uehlfeld, direkt in der Gaststätte des Hauses als eines von vier neuen Sorten gekauft. Gasthof und Brauerei gibt es noch, man kann dort sogar übernachten. Heute kann ich die genaue Zahl meiner Sorten nur schätzen, Arbeit wartet.

12. Januar 2024

Mit heutigem Freitag sind sämtliche Weihnachtsdekorationen wieder in Kisten, Kästen und Kartons verpackt und verschwunden. Der Platz des Baumes ist vorübergehend leer, der runde Tisch, auf dem er stand, muss nun in meinem Arbeitszimmer wieder nur Lastenträger sein. Mich plagen seit Tagen Atembeschwerden, nach einer Schrecksekunde am späten Nachmittag, wo ich Notarztgedanken aufkommen ließ, langsame Besserung und der tröstliche Beschluss, an eine krasse Wirkung meiner Pollenallergie zu glauben. Baumhasel steht direkt unter meinem Fenster, ich müsste die Stadt um Fällung bitten. Bis spät Furcht, ins Bett zu gehen. Wenn mir irgendetwas schrecklich vor Augen steht, dann das Ersticken. Ein Kollege an der Hochschule schilderte mir vor Jahren detailreich das Sterben seines Vaters, der mit seinen Fingernägeln den Putz von der Wand kratzte, bis er tot war. In der gelben Post Thomas Manns „Briefe an Richard Schaukal“, Band 27 der Thomas-Mann-Studien.

11. Januar 2024

Am 11. Januar 1999 liegt Ilmenau in dichtestem Nebel, unsere Kaufhalle, bis auf Reste des Frisörs kaum noch erkennbar, soll einem Neubau weichen. Architektonisch wird uns dieser Zweckbau im Einschubdielen-Stil zeigen, dass in der DDR bisweilen, obwohl alles schlecht war, Versuche von Baustil unternommen wurden in Graubeton, auf die unsere Freunde vom Rewe und Aldi von vornherein kostensparend verzichteten. Die Ärztin, die für diesen 11. Januar einen Termin vergeben hatte, war selbst krank, heute wird sie durch die Lücke ersetzt, die sie hinterließ. Hautärztinnen kommen leider selten im Gummiboot aus Libyen, so dass wir einen Fachkräftinnen-Mangel zu konstatieren haben. Am 11. Januar 2004 erholte ich mich vom Ausflug am Vortag, der mich in einen Getränkemarkt geführt hatte mit dem schönen Namen „De Biergrens“. Besonderheit: Man ging in Holland vorn rein und kam hinten in Belgien raus, wahlweise umgekehrt. Ich mit 7 neuen Bieren.

10. Januar 2024

Die Kälte dauert an, die Bauernproteste dauern an und Weselskys Kampfgruppen der Arbeiter-, pardon, der Lokführerklasse, legen lahm, was lahmzulegen ist. Wikipedia nennt ihn einen deutschen Lokführer, was besonders in Dresden, wo er 1959, noch rechtzeitig vor dem zehnten Jahrestag der Deutschen Demokratischen Republik, geboren wurde, wichtig scheint. Wenn die ersten Ersatz-Lokführer aus Lampedusa eingeflogen werden, könnte Konfliktpotential entstehen, denn auch andere Firmen im Weichbild der Semper-Oper schulen gern um. So weit, so schlecht. Werfe ich lieber einen Blick in meine Vergangenheit: Am 10. Januar 1994 empfing ich aus den zarten Händen meiner damaligen Hausärztin eine Desensibilisierungsspritze gegen meine Pollenallergie, die immer um den Jahreswechsel heftig wurde wegen Baumhasel und ähnlicher verbrecherischer Pflanzen. Am 10. Januar 1999, es war ein Sonntag, umkreisten wir den Trümmerhaufen unseres „Glasmachers“.

9. Januar 2024

Wenn der deutsche Kaiser stirbt und deutsche Bauern mit ihren deutschen Traktoren deutsche Autobahnen blockieren nebst Innenstädte, dann haben alle anderen das Nachsehen, verdammt noch mal. Lichtgestalten mit Schattenseiten zu haben, wer kann das noch von sich behaupten, wenn nicht wir? Wenn ich das Wort Libero höre, denke ich an die Nationalmannschaft der DDR, die in ihren besten Zeiten mit sieben Liberos spielte, was ihr niemand dankte und auch keine Titel einbrachte. Die Addition der besten Spieler, das wussten wir schon mitten im Unrechtsstaat, führt selten bis nie auch automatisch zu einer guten Mannschaft. Ansonsten erblickte mein müdes Morgenauge die Zahl 15 mit Minuszeichen davor, eine Temperatur draußen bezeichnend, die wir länger nicht hatten, aber uns wohl nun öfter besuchen wird. Wegen Klimawandel. Ist es warm, Klimawandel, ist es kalt, Klimawandel, ist es nass, Klimawandel, trocken dito. Und weit und breit kein Kaiser, der uns hilft.

8. Januar 2024

Es muss heute nicht viel passieren, mir reicht der Blick in alte Tagebücher. 1994 Rückblick auf die Silvestertour in die Vulkaneifel, Debatten über Studienzeit und Staatssicherheit. 1999 nach einer Pause von 14 Monaten wieder einmal eine Bierreise ins Fränkische, von der ich mit 45 neuen Sorten nach Hause kam. Vor der Abfahrt buchte ich kurz entschlossen eine Solo-Woche für mich im Landal Green Park Aelderholt in Holland, es folgten bis 2008 weitere sieben Besuche in anderen Parks der Firma. 2004 war der 8. Januar der erste Tag meines Krankenlagers in Kempense Meren mit leidlichem Befinden, etwas Sonne und dadurch animiert mit einer Fahrt nach Lommel zum großen Soldatenfriedhof. Anders als beim ersten Besuch war ich ganz allein, hatte Zeit für das Totenverzeichnis, schrieb mir alle Gefallenen auf, die Ullrich hießen, fotografierte ihre Kreuze. Am Morgen heute das Geräusch des Schneepflugs, obwohl an Schnee nicht viel liegt in unserer Straße.

7. Januar 2024

Wahnsinn: Es ist mir gelungen, tatsächlich die große Tagebuch-Lücke nach unserer Abreise gen Franzensbad zu füllen. Allein 32 Einträge stellte ich heute ins Netz, 26 davon mit dem Hinweis Nachtrag, für zwei sind mir schon Fehler signalisiert worden, die ich bei nächster Gelegenheit korrigieren werde. Es liegt etwas Schnee heute, die scharfe unangenehme Luft macht mir mehr Probleme, als mir lieb ist, unser Abendspaziergang fällt deshalb kürzer aus als sonst. Als erstes zu Ende gelesenes Buch des neuen Jahres trage ich „Maxim Gorki“ ins Register ein, Ende März des Vorjahres begonnen, dann liegengelassen. Es ist ein merkwürdiges Buch von Hans Ostwald, auf das ich nie gestoßen wäre, hätte nicht Arthur Eloesser Ostwald einmal besprochen. Jetzt erst sehe ich, dass die alten Übersetzungen, die er in seinem Literaturverzeichnis anführt, von 1901 bis 1903, für die große 24-bändige DDR-Gorki-Ausgabe ausgiebig genutzt wurden. Ich beachtete das früher nie.

6. Januar 2024

Plötzlich und unerwartet, für uns alle voll normal, werden die 1964 Geborenen in diesem Jahr 60 Jahre alt. Einige haben es schon hinter sich und dürfen aufatmen, viele müssen bis September warten, in dem die drei Tage liegen, an denen die meisten Menschen geboren werden. Warum sollte es den 1964 Geborenen besser gehen als den 1954 Geborenen, die sogar schon 70 werden, wir reden nicht von denen, die 1944 das Licht der Bombenkeller erblickten: die werden 80, darunter sind etliche, die früher statistisch längst tot gewesen wären. Babyboomer nennt es der Westsprech, der bekanntlich auch von „zwischen den Jahren“ faselt, als ob da etwas wäre. Westväter kannten seinerzeit einfach noch nicht den Marschbefehl von Otto Waalkes in Travemünde vorm Spielcasino: Absteigen! Und die Westmütter durften nicht verhüten, wenn der Papst nicht sein OK gegeben hatte. Heute vor sehr vielen Jahren waren drei allein reisende unbegleitete Könige unterwegs.


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