Tagebuch

3. August 2018

Für bescheidene 32.500 Euro kann man eine ZEIT-Busreise von Hamburg nach Shanghai und zurück unternehmen. Wer das Doppelzimmer nicht allein beziehen will, muss weitere 32.500 Euro auf den Tisch legen. Der Einzelzimmerzuschlag wäre teurer als die teuerste Reise, die ich je im Leben mit Frau und Kindern gemeinsam absolvierte. Die Reise dauert vom 16. Mai bis zum 28. August, man soll also nur mitfahren, wenn man Kohle und unendlich freie Zeit hat. Man erfährt von dieser Reise nebenbei, welche Zielgruppe das im weitesten Sinne eher linke Wochenblatt aus Hamburg wirklich hat. In der gestrigen Ausgabe war das nicht nur der Reisebeilage zu entnehmen, sondern auch einem wie immer lesenswerten Lang-Text von Bernd Ulrich, der sein veganes Jahr vermarktete. Auf was für unfassbare, irrwitzige und irrsinnige Gedanken man kommen kann, wenn man nur ein einziges „l“ weniger im Namen hat! Darf eine Veganerin SUV fahren?? Ja, darf sie??

2. August 2018

Wenn ich im Vorjahr ein Lutherbier trank, dann hatte das sehr wohl mit Martin Luther zu tun. Wenn ich jetzt ein Kellerbier aus dem Kühlschrank hole, dann vor allem, weil es ein neues Sammlerstück ist, das der Trend zu Kellerbieren auch in solchen Brauereien mir zuführt, die sonst der Naturtrübe eher abhold waren. Gottfried Keller bleibt außen vor und das nicht nur, weil der eher dem Weine als dem Biere huldigte, dies aber dafür umso emsiger. Wenn im kommenden Jahr 2019 der kleine Mann mit dem großen Kopf (wer nannte ihn so?) und der noch größeren Vorliebe für das Ausrufezeichen seinen 200. Geburtstag haben wird, werde ich trotzdem bei jedem Kellerbier seiner gedenken. Bis dahin will ich nicht nur „Kleider machen Leute“ einer Re-Lektüre unterziehen, welches ich am 5. März 1970 als Goetheschüler zuerst las, also nach den vorletzten Halbjahreszeugnissen. Damals ahnte ich nicht, dass ich eines gar nicht fernen Tages auf Quartiersuche in Glattfelden sein könnte.

1. August 2018

„Der Schweizer Dichter, der am 1. August, dem schweizerischen nationalen Feiertag, am meisten zitiert wird, heißt Gottfried Keller. Mit ihm gelingen patriotische Erhebungen scheinbar am leichtesten.“ Schrieb der Schweizer Werner Weber in seinem Buch „Zeit ohne Zeit“. Ich denke zu diesem Datum immer an meinen Freund Escher, der heute 66 Jahre alt wäre und außerdem, siehe gestern, natürlich an unsere Ankunft in Kaysersberg vor 20 Jahren. Es war unfassbar warm, wir fanden bei der ersten Umgebungserkundung Brombeeren in einem Reifegrad, der mir noch jetzt das Wasser im Munde zusammen laufen lässt. Ein wenig irrten wir umher, bis wir auch ohne Navi unser Domizil gefunden hatten, dann aber begannen zwei Elsass-Wochen mit vielen Eindrücken, die jetzt lebendig sind, als wären sie von vorgestern. Nicht nur, weil wir die wohl dämlichsten Bürger des Altbundesgebiets trafen, Autokennzeichen für Mettmann. Sie fragten: Und wo sind die Vogesen?

31. Juli 2018

Alfred Webers 150. Geburtstag hätte mich gestern beschäftigen sollen, zumal der Gute ja in Erfurt geboren ist und ich mir sogar eigens zwei Bücher von ihm in Sichtweite hinlegte, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Eins ist ein Lesebuch mit dem Titel: „Haben wir Deutschen nach 1945 versagt?“ Meine spontane Antwort wäre: Wir haben damit bedeutend früher angefangen, aber so war die Titelfrage sicher gar nicht gemeint. Das andere heißt „Das Tragische und die Geschichte“ und interessiert mich vor allem wegen der Kapitel über die Griechen und ihre Tragödie. Das hat mich schon in meinen ersten Studiensemestern beschäftigt, momentan aber gründle ich im 19. Jahrhundert. Nachdem eben per Mail zwei Kartenbestellungen bestätigt wurden, sehe ich einem August entgegen mit dreimal Shakespeare und gar kein „Sommernachtsraum“ dabei! Vor 20 Jahren schon unser letzter Tag in Soubey vor der Weiterreise nach Frankreich mit Quartier in Kaysersberg.

30. Juli 2018

Kate Bush war mir immer um Längen sympathischer als George Bush oder gar George W. Bush. Dennoch hätte ich mich bei einer Wahl zwischen Stille im Haus und Gesängen von Kate Bush sofort für Stille entschieden. Heute wird die Gute 60 Jahre alt, mein YouTube führt mich zu ihrem koloraturigen „Wuthering Heights“, ich sehe sie im dunstigen Hochwald und feuerrot gekleidet wie einen überdimensionalen Bodenschmetterling über Gras wuseln. Immerhin, das Lied nimmt seinen Titel vom Roman der Emily Brontë und die wiederum hat heute ihren 200. Geburtstag. Der Roman trägt den deutschen Titel „Sturmhöhe“ und ist so oft verfilmt worden, dass ihn wahrscheinlich längst niemand mehr lesen muss oder will. Auch Haylay Westenra sang „Wuthering Heights“ mit höchster Stimme und ganz in Schwarz. Wer diese Dame ist, weiß ich nicht und bin auch unwillig, es herauszufinden. Beth Hart hat den Titel sicher nie gesungen, auch dafür mag ich sie ganz gern.

29. Juli 2018

Natürlich kann man von einem Nachrichtenmagazin, das am Sonnabend an den Kiosken und in Briefkästen liegen soll, nicht verlangen, dass es mit schönen Fotos der schönsten Mondfinsternis seit Jahren aufwartet, unsereiner saß buchstäblich stundenlang auf dem Balkon und starrte auf das Himmelsphänomen, bis der Mond schließlich in der Nacht wieder leuchtete wie Donald Trumps auf Europa gerichteter Flakscheinwerfer. Aber muss der SPIEGEL ersatzweise Mesut Özil auf den Titel knallen? Wir haben hier inzwischen noch einen herrlichen Doppelregenbogen gehabt. Wir sollten, falls wir tatsächlich glauben, was politische und mediale Sommerloch-Stopfer von sich geben, unser Gemeinwesen grundsätzlich in Frage stellen, wenn ein wahrnehmungsgestörter Fußballer die Politik von Jahren zu gefährden in der Lage wäre. Dem Amtsblatt entnahm ich den Wahltermin für unseren neuen Oberbürgermeister, der vorher schon einmal herumsickerte: es ist der 21. Oktober.

28. Juli 2018

Wie oft im Leben wird man Zeuge der Explosion eines Hundekacke-Behälters? Der gemeine Schweizer, eifriger im Aufsammeln dieser Häufchen als der gemeine Berliner in diesem Jahr 1998, bereitet sich auf seinen Nationalfeiertag am 1. August vor und zu dieser Vorbereitung gehört wohl auch das Testen von Feuerwerkskörpern. Der Knall mit Folgegestank überraschte uns im Park des Uhrenmuseums von La Chaux de Fonds, wo wir uns eben am Klang des modernen Glockenspieles erfreut hatten und den Nachklang der phantastischen Exposition genossen. Jan Ullrich, immer noch er, siegt in einem Millimeter-Finish an diesem 28. Juli 1998, ganz aufgegeben hatte er sich noch nicht. Zehn Jahre später quälte ich mich ein wenig an Heinrich Bölls „Kreuz ohne Liebe“ und deutlich weniger mit „Venetianischen Epigrammen“. Begleitend las ich in Walter Dietzes Aufsätzen über Goethe mit dem Titel „Kleine Welt, große Welt“, ein Epigrammfreund werde ich wohl nie.

27. Juli 2018

Als Mick Jagger am 26. Juli 1973 30 Jahre alt wurde, war das jenen, die laut Zeitgeist-Feuilleton niemandem über 30 zu trauen beschlossen hatten, eine Elementarkatastrophe, vergleichbar mit der Ablösung der Dinosaurier durch kleine raffzähnige Nagetiere, die aus ihren Höhlen unter der Erde krochen. Gestern feierte NEUES DEUTSCHLAND auf fast einer ganzen Seite den 75. Geburtstag von Mick Jagger ab, Walter Ulbricht, der „jeah-yeah-yeah“-Feind, letzte Tage verdämmernd 1973, würde wohl schreiend vom Dach des Staatsratsgebäudes gehechtet sein, hätte er sein Zentralorgan so lesen müssen. Heute wird Margarethe Schreinemakers 60, schon lange langt sie niemandem mehr ans Knie oder weint ins sat1-Mikrofon. Barbara Rudnik dagegen, die auch 60 würde, lebt nicht mehr, leider, ich mochte sie, egal in welcher Rolle. Jan Ullrich, schon wieder er, rollte am 27. Juli 1997 als erster deutscher Sieger ins Pariser Ziel der Tour de France, Dopingverdacht noch fern.

26. Juli 2018

Das abendliche Sitzen auf dem Balkon hat mannigfache Nebeneffekte. Wir kennen die Standorte der immer bellenden Hunde. Wir wissen, welche Hunde nur kurz nach draußen kommen, um ihre Anwesenheit im Hunde-Universum wuffig zu dokumentieren. Ein Vogel in den Büschen hat sich offenbar das Nest nicht weich genug gepolstert, er raschelt allweil in den Blättern wie größere Zweibeiner auf den falschen Matratzen. Die Kerze, die besser brennt, duftet nicht. Die Kerze, die besser duftet, brennt schlecht. Wir lassen Balkone Revue passieren, auf denen wir mit Kerze beim Wein saßen: Comer See, Luganer See, Sarner See, Bodensee. In den späten 60ern wären wir als Romantiker durchgegangen, man filmte die Candle-Light-Dinner mit Weichzeichner, der Sex hieß noch Erotik. Der Blick ins alte Tagebuch führt nicht nur zu Jan Ullrich, sondern auch zu Marco Pantani, den es später erwischte. Vorher sahen wir eine Reportage aus der Pizzeria seiner Eltern.

25. Juli 2018

Zwanzig Jahre her ist heute unsere Ankunft in Soubey im Schweizer Kanton Jura. Wir bezogen eine über drei Etagen gehende Ferienwohnung, verstanden nicht eine Silbe von dem, was unsere Vermieterin zu uns sprach, sie verstand keine Silbe von dem, was wir zu ihr sagten und das war ein sehr guter Auftakt zu einer schönen Woche. Wir sahen Saint-Ursanne, durchquerten barfuß einen Fluss namens Doubs. In La Chaux-de-Fonds erlebten wir den Start einer Etappe der Tour de France mit dem damals noch allseits beliebten Volkshelden Jan Ullrich, zu dem ich gelegentlich Auskunft geben musste, er sei leider nicht mit mir verwandt. Wir standen auch in Biel an Tafeln, die Goethes Anwesenheit bezeugten und in Delemont standen wir nur so und hielten uns nicht allzu lange auf. Als die Woche um war, reisten wir weiter über Belfort nach Frankreich. Bis dahin genossen wir eine Ecke, die wir erst 10 Jahre später erneut sahen: da war die Ferienwohnung nur noch eine Wohnung.

24. Juli 2018

Wenn Fußballer, die bei der Erfindung des Niespulvers in der fünften Reihe standen und das auch noch mit dem Rücken zur Erfindung, einen Berater haben, dann finde ich es angebracht. Wobei wir wissen: Berater können falsch beraten. Sonst hätten nicht so viele geldgierige Oberstudienrätinnen ihr ganzes Geld an geschlossene Schiffsfonds verloren, oder überreiche Sangeskünstlerinnen ihre Fernsehkohle in Schrottimmobilien. Jetzt erfahre ich, dass selbst ein intelligenter und, wie mir schien, selbständiger Kopf wie Jogi Löw seit Jahren auch einen Berater hat, der nicht mit seinem vielköpfigen Team an Vizes und Co’s zu verwechseln ist. Hat der zur Einführung des Steckschals in die gesamtdeutsche Herrenmode geraten? Und nicht zum Aufgeben der Gewohnheit, die Luft durch die Zähne zu ziehen, als wären Zähne Schadstofffilter? Geheimnisse des Beratens? Und welcher Berater riet unseren Medien, tagelang an Mesut Özil zu lutschen, als wäre er ein Langzeitdrops?

23. Juli 2018

Weit muss ich zurückgehen, um zu meinen Chandler-Lektüren zu gelangen. Nicht weniger als 27 Schreibmaschinenseiten zu „Der tiefe Schlaf“ finde ich, beendet am 20. Mai 1981. Hinzu kommen fünf Seiten zu „Das hohe Fenster“ und „Leb wohl, mein Liebling“, zwei Seiten mit Kugelschreiber zu „Playback“ aus dem Züricher Diogenes-Verlag. Woher ich dieses „West“-Buch hatte, weiß ich nicht mehr, vielleicht ausgeliehen von einer Kollegin, die Krimis sammelte und ihre Bestände in der Institutsbibliothek an der TH Ilmenau deponierte. Nie vor und nach 1980/1981 las ich so viele Krimis, war damals sogar geneigt, über den DDR-Krimi eine größere Arbeit zu verfassen. Raymond Chandler aber, dessen 130. Geburtstag heute ist, gehört zu den unerreichten Ur-Mustern. Zu meinen eigenen Aufzeichnungen sammelten sich im Lauf der Jahre solide Archivbestände, deren Umfang mich eben selbst verblüfft. Die beginnenden Hundstage verbringe ich mit Literatur über Katzen.


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