Tagebuch

10. September 2025

Wenn nichts passiert, passieren die kleinen Dinge: Die Fahrstuhltür öffnet sich, niemand drin, niemand will rein oder raus. Unten steht die Haustür offen: altes Übel, in unserem Aufgang dennoch nicht aus Beduinenzelten übernommen. Unter unseren Briefkästen zwei große Kartons oder Pakete. Beide nicht nach Ilmenau adressiert, geschweige in die Keplerstraße. War das nicht kürzlich erst genau so? Eine Frau schleppt sie schließlich zum Kofferraum eines auswärtigen Autos aus dem Sado-Maso-Kreis (SM). Sie meint, sie habe vielleicht aus Versehen den Fahrstuhl gerufen. Sind wir ein toter Briefkasten? Wer ruft aus Versehen Fahrstühle nach oben, wenn er unten ist und gar nicht rauf will? Währenddessen gehen alle Kriege weiter, die gerade im Gange sind. Bei einem kommt jeder einzelne Tote in die Hauptnachrichten, die anderen müssen sich mit den hinteren Plätzen oder dem Videotext begnügen. Die gefährlichen Russen können nicht einmal ihre Drohnen steuern, o je.

9. September 2025

Mein neuer Eloesser-Text betrifft Willy Levin, dessen Grab ich beim nächsten Besuch auf dem Jüdischen Friedhof in Weissensee zu finden hoffe. Das wird wohl erst 2026 sein. Vor 25 Jahren verließen wir Terenten, hielten hinter der Grenze in Sillian an einem Supermarkt. „Anarchie in Sillian“ heißt ein Drama von Arnolt Bronnen, das ich vor vielen Jahren in einem Antiquariat sehr preiswert kaufte. Las aber sechs andere Dramen von ihm in meinen ersten beiden Studienmonaten 1975. Am 9. September 2000 umrundeten wir zweimal den Faaker See, ehe wir endlich zu unserer Ferienwohnung kamen, weil das Harley-Davidson-Treffen, vor dem wir gewarnt worden waren, ohne zu ahnen, was uns erwartete, alles lahm legte. Es wurde dann auch für uns eine unvergessliche Sache. Alles wie im Fernsehen: barbusige Damen in Leder auf Rücksitzen, Striptease im Zelt, Heavy Metal an Musik und Unmassen Accessoires, Angebote für alle besessenen Bike-Schrauber.

8. September 2025

Mit „Die schönen Umwege“ trage ich mein 30. Buch von Heinz Knobloch ins Register ein und will nun erst einmal etwas kürzer treten. Es warten all seine Vorworte und Nachworte auf mich, meine zahlreichen Dateien wollen vorangetrieben werden. Eine Print-Kritik zur Meininger „Jungfrau von Orleans“ kann ich im weltweiten Netz nicht finden, dafür mich auf der ersten Trefferseite. Jetzt erscheinen an Montagen keine gedruckten Zeitungen, wann auch an Dienstagen und Freitagen? Sind drei wortlautidentische Theaterkritiken in drei vermeintlich verschiedenen Zeitungen besser als gar keine Kritik? In der Post heute ein fast 50 Jahre altes DDR-Buch mit dem Titel „Berlins Bautradition“, Autor Hans Müther. Viele Schwarzweißfotos, die mir vor Knobloch kaum von Interesse gewesen wären. Jetzt studiere ich Fassaden, rufe Erinnerungen aus meiner Berliner Zeit auf. Konrad Potthoff, laut Wikipedia ein deutscher Schriftsteller und Grabredner, wird heute 75.

7. September 2025

Welche Ansprüche habe ich an eine gute Zeitung, besonders in unruhigen Zeiten? Fragt mich der Chefredakteur der ZEIT, der mich regelmäßig fragt und dem ich einmal öffentlich antwortete, in dieser Woche. Es hat sich seither nichts geändert, in aller Regel kann ich seine Fragen, so wie er sie stellt, nicht beantworten. Sollte ich in ruhigen Zeiten andere Ansprüche haben als in unruhigen, sollte ich voraussetzen, dass die Zeitung gut ist, an die ich Ansprüche stelle? Oder das erst merken, wenn ich sie lese. Selbst die beste lese ich nur selektiv, es kann sein, dass ich Ihr Bestes gar nicht bemerke, weil mich ihr Schlechtestes wütend macht. Ich hole mir meine Zeitungen altmodisch seit ewigen Zeiten am Kiosk meiner Wahl, drei in der Woche, manchmal fünf. Und wenn die schon gar nicht mehr druckfrisch sind, lese ich sie. Zu spät im Sinne ihrer Macher natürlich. Weil ich der Meinung bin, dass es schon Sachen gibt, die älter sind als die Zeitung von gestern, sehr viel älter.

6. September 2025

So groß ist das Geheimnis wieder nicht: Es wird meine 250. Theaterkritik, meine 34. Schiller-Kritik, aber erst meine dritte Jungfrau-Kritik, obwohl ich sie öfter sah, darunter auch Anfang 2012 in Meiningen. Nach Corona und absoluter Spinalkanalstenose meinerseits kenne ich dort nur noch wenige Darsteller/innen, schüttelte dafür dem gar nicht mehr ganz neuen Intendanten erstmals die Hand. An heutigen Geburtstagen muss ich verzichten auf Andrea Camillieri (100), Julian Green (125), der im Netz einem gleichnamigen Fußballer sehr viel Vortritt lassen muss, und Moses Mendelssohn (296), mit dem ich seit fast vier Wochen täglich beschäftigt bin, nur heute eben muss er warten. Immerhin beende ich meine Datei zu Arthur Eloessers Mendelssohn-Äußerungen, 15 Druckseiten am Ende, gute Materialsammlung für mich. „Die Jungfrau von Orleans“ zählt nicht mehr zum Allgemeinwissen. Vor mir erläuterte ein Mann seinen Sitznachbarn lange die Handlung.

5. September 2025

Ein gewisser Arthur Koestler erblickte am 5. September 1905 in Budapest der Licht der damals noch doppelmonarchischen Welt. Sieben Jahre war er ein deutscher Kommunist, dann war er keiner mehr und das machte ihn in kommunistischen Gegenden zur Unperson der gehobenen Art. Denn er wandte sich schon gegen Stalins Wunderland, als andere das noch ausdauernd toll fanden. In der Reihe weit oben, wo sich Angehörige des Jahrgangs 1905 aufhalten müssen, weil das ihr Platz ist, finde ich lediglich „Die Wurzeln des Zufalls“. Ich weiß nicht, ob Heinz Knobloch das Buch kannte. Jedenfalls befand er in seinen fortgeschrittenen Jahren, dem Zufall gehöre eigentlich in jedem Buch besonderer Dank, nicht nur den Bibliothekarinnen und Lektoren und den edlen Unterstützerseelen. Ich danke heute nochmals dem Zufall, der fünf Störche in mein Blickfeld führte. Ein weiterer Zufall ereignet sich abends: ich sehe „Die Jungfrau von Orleans“ und verrate erst morgen, was für einer.

4. September 2025

Fußmarsch aus der Keplerstraße bis zur Herderstraße: man muss Patienten, die eine Narkose hatten, abholen, sonst dürfen sie die Praxis nicht verlassen. Das kenne ich aus eigener Erfahrung. Meine neue Datei im Eloesser-Ordner betrifft Moses Mendelssohn, den er sehr ausführlich behandelte in mehreren Anläufen. Heinz Knobloch nahm lediglich seinen Geburtstagsbeitrag vom 6. September 1929 in der Vossischen Zeitung zur Kenntnis für sein „Herr Moses in Berlin“, das ist kein Drama, eine Fehlstelle schon. Umgekehrt lese ich jetzt zum zweiten Male alles mit dem Wissen aus dem Knobloch-Buch. Das gibt eine gute Grundlage. In „Vom Ghetto nach Europa“ finde ich Datierungen vom November 2021. Da las ich auch die „Berliner Grabsteine“, deren stark erweiterte Neuausgabe „Alte und neue Berliner Grabsteine“ derzeit tägliche Lesehäppchen liefert. Fünf Störche über der Pörlitzer Höhe, drei setzen sich auf unseren Funkmast Kopernikusstraße. Zwei bleiben im Regen.

3. September 2025

Noch gestern sagte ich während unseres Abendspaziergangs, dass für 7900 Euro offenbar niemand den weißen Kleintransporter kaufen will, der seit Wochen am Schorn-Tower angeboten wird. Der Verkäufer scheint es gehört zu haben, heute ist der Preis um volle 2000 Euro auf 5900 Euro gesenkt. Mal sehen, ob es hilft. Bei der Suche nach einigen alten Kurzgeschichten im Stapel meiner aus dem MAGAZIN von 1954 bis 1992 gerissenen Seiten stieß ich auf die herrliche Werbung für die HO-Verkaufsstellen in der Stalinallee in Berlin. Ich werde ihnen wohl gelegentlich einmal eine kleine Betrachtung widmen. Werbung in der DDR war immer eine leicht komische Sache, nicht nur die Würze mit Bino oder Stiefelsocken im Sandkasten. Ich sortierte aus den Jahren 1954 bis 1957 allein 13 Beiträge von Irmgard Keun aus, die nun an der richtigen Stelle meines Archivs landen, einmal fand ich Martha Gellhorn, die Hemingway-Gattin, die erst vor wenigen Jahren neu entdeckt wurde.

2. September 2025

Neunzehn Tage gönnte ich mir, „Herr Moses in Berlin“ von der ersten Seite Text bis zur letzten Seite des Personenregisters zu lesen. Das dickste Buch von Heinz Knobloch kenne ich nun also auch. Passend dazu heute die Nachricht aus Berlin, dass der Vorschlag zur Aufstellung einer Tafel für ihn in das Gedenktafelprogramm des Bezirks Pankow aufgenommen wurde. Ich habe daran keinerlei Anteil, nehme aber freudig Anteil. Wie lange es dauert, bis aus einem Programm dort eine Tafel wird, ahne ich nicht. Man nimmt sich hoffentlich nicht den Flughafen zum Vorbild. Einer, der wie Knobloch eine Berliner Gedenktafel schon hat, wenn sie auch nicht an seinem ehemaligen Wohnhaus hängt, sondern am Gebäude, in dem er als Lektor arbeitete, ist Johannes Bobrowski. Er starb am 2. September 1965. 2017 schrieb ich etwas zu seinem 100. Geburtstag, 2015 zum 50. Todestag. Diese Anlässe eben. Jetzt kommt erst einmal wieder die gute alte Vossische Zeitung dran.

1. September 2025

Nach 15 Tagen erstmals wieder meine tägliche große Runde mit Zwischenstation Glascontainer. Die Baustelle unterwegs ist keine mehr, alles ist beräumt, alle neuen Zäune stehen, alle Erdhaufen sind planiert. Man kann den Bürgersteig wieder von da begehen, wo er beginnt. Verkostung der wilden Äpfel erfolgreich, wir können die erste Ernte planen. Am 1. September 2000 mit zwei Seilbahnen am Monte Cristallo auf mehr als 3000 Meter gefahren, oben hatte ich doch einige Probleme. Die Fahrt mit der zweiten Bahn dennoch atemberaubend. Vorher der Dürrensee mit Blick auf die Drei Zinnen. Überraschender Anruf aus Mühlberg: man ist dort auf meinen neun Jahre alten Text „Von Opa Reinhold, dem Großvater in Mühlberg“ gestoßen. Erst am 6. April fotografierte ich auf dem Friedhof neun Ullrich-Gräber, alle sind ganz sicher mit mir verwandt, vielleicht erfahre ich nun, in welchem Grade. Das Grab von Opa Reinhold gibt es schon lange nicht mehr, nur noch auf Foto.

31. August 2025

Vor 25 Jahren endete der Monat August in Südtirol. Unsere elfte Italienreise führte uns ins Pustertal auf die so genannte Sonnenterrasse, Ankunft am 26. August, Weiterreise am 9. September nach Egg am Faaker See. Unser Hotel „Sonnenparadies“ , Zimmer 104, hatte herrlichen Panorama-Blick, nervig ein neugieriges Paar aus Bayern, das ständig an der Rezeption im Gästebuch schnüffelte, um zu erfahren, woher neue Gäste kamen. Noch nerviger eine Busladung deutscher Rentner, die am Morgen sämtliche Brötchen vom Büffett wegfraßen respektive sich als Wegzehrung einsteckten. Es wurde alles noch in Lire abgewickelt, sechsstellige Rechnung zum Schluss, fünfstellige Trinkgelder. Immerhin sorgte ein Kellner dann doch für eine separate Brötchen-Ladung, um uns das milde nach Kümmel schmeckende Brot zu ersparen. Heute Kurzausflug nach Erfurt, um Kinder und Enkel auf der Heimfahrt nach Berlin zu treffen. Erfurter Bratwürste. Erfurter Gartentomaten zum Mitnehmen.

30. August 2025

Henri Barbusse, der während einer Reise durch die Sowjetunion am 30. August 1935 starb, nachdem er in Moskau zuvor noch ein Redner während des Internationalen Schriftstellerkongresses zur Verteidigung der Kultur gewesen war, erlebte im Stalin-Paradies ein seltsames Schicksal. Seine gar nicht von ihm selbst geschriebene Stalin-Biografie geriet auf den Index, er selbst wurde bis 1949 zur Unperson. In meinem Frankreich-Regal, das längst nicht mehr alles aufnimmt, was ich habe, der Erbfall 2019 hat mich in noch größere Nöte gebracht, findet sich nur der Reclam-Band „Briefe von der Front“. Dass es nicht mehr ist, kann ich nicht einmal reinen Herzens bedauern. Das Reclam-Nachwort von Juni 1972 umgeht die sowjetische Klippe elegant, es verharrt bei den Jahren, aus denen die Front-Briefe stammen. Der vorerst letzte Katzen-Abend heute, morgen kehren Kinder und Enkel aus ihren Urlauben zurück. Und wir können vorausblicken auf unseren eigenen nächsten.


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