Tagebuch

5. März 2024

Kurzfristig muss ich meinen morgigen Zahnarzttermin absagen, denn plötzliche Hustenanfälle mit diversen Geräten im Hals können lebensgefährlich werden, abgesehen davon, dass die junge Dame, die in mir arbeitet, ja auch nur eine Menschin ist mit Anfälligkeiten gegen diese und jene Erreger. Am 5. März 2004 ärgerte es mich, dass „Freies Wort“ nicht in meinem Briefkasten steckte. Ich rief an und beschwerte mich. Ich kann mich noch an Nachlieferungen erinnern, die der Chef des längst privatisierten Zustelldienstes höchstselbst ausfuhr. Undenkbar heute. Heute liest hier, wo ich wohne, weit und breit kein Mensch mehr eine lokale Tageszeitung. Selbst die Anzeigenblättlein werden von vielen verweigert. Es gibt größere Dramen der aktuellen Weltgeschichte. Zum Beispiel Barbara Schönebergers 50. Geburtstag. Wie wird jemand wie sie 50, anstatt immer 46 zu sein. Wie ich 50 wurde, weiß ich noch: nach 49 einfach weiter machen, ich wiederhole die Übung derzeit mit 71.

4. März 2024

Die Amerikaner haben heute ihren National Snack Day und ihren Scrapbooking Day und morgen werden sie ihren Super Tuesday haben. Ob sie am Snack Day besonders viel zu sich nehmen, weiß ich nicht, ich halte mich mit Drinks und Snacks zurück. Immer, wenn ich im Fernsehen Amerikaner sehe, die an einer Bar eine Bierflasche zwischen zwei Fingern am Hals halten und daraus Schlucke nehmen, an denen mein alter Wellensittich Maximilian verdurstet wäre, denke ich: was für ein Volk. Nun müssen sie sich zwischen zwei Mumien entscheiden, gegen die unser altes Politbüro beinahe jugendlich daher käme. Von wegen Gerontokratie. In Litauen ist heute der Tag des heiligen Kasimir und es gibt eine Internet-Seite, die als interessantes Buch zum Thema dieses anbietet: Kasimir und Karoline, geschrieben von Ödön von Horvath. Wir sind ziemlich froh, dass wir vorerst nicht mehr auf die Bahn angewiesen sind. Wenn wir Weselsky sehen, schalten wir gnadenlos um auf QVC.

3. März 2024

Die Zeiten, da ich Sonntage überwiegend im Bett verbringe, sind lange vorbei, ich stehe auf, wenn das Smartphone den Weckruf erschallen lässt, zwanzig Minuten später verlasse ich das Bad und kann mich in allen Regelfällen der Morgenlektüre zuwenden, die immer noch aus Theaterkritiken besteht, drei an der Zahl. Gerhard Stadelmaier ist derzeit der Favorit. Ich besitze sogar sein frühes Lessing-Buch und kann mit dem, was er schreibt, meist etwas anfangen. Während ich gestern an meinem Carl Jacob Burckhardt noch sehr gut voran kam, heute ist sein 50. Todestag und da wollte ich fertig sein, ist heute der Kopf leer. Wahrscheinlich verlässt bei Exzessiv-Husten doch nicht die Seele den Corpus, sie schickt das Denk- und Schreibvermögen voran zu erkunden, wie es draußen denn so ist. So legte ich zwei Zusatzruhen ein, die mich dem Abend auf träge Weise näher brachten. Juri Oleschas 125. Geburtstag ist heute, für Westsozialisierte wäre ein Buchstabe anzufügen: Jurij.

2. März 2024

Mit einem winzigen Krabbeln im Hals fing es an, jetzt bin ich an dem Punkt, wo ich mir die Seele aus dem Hals husten könnte, was eine recht locker sitzende Seele voraussetzen würde. Zur Feier war alles vorbereitet, da sagt man nicht mehr ab, nur weil der Jubilar bellt wie ein notleidender Hund im Tierheim. Immerhin, wenn schon nicht die Seele aus meinem Hals, der Cremant d'Alsace wollte aus seinem, dem gläsernen Flaschenhals mit überhöhter Geschwindigkeit, was den Inhalt der Flasche um ein gutes Drittel reduzierte, das zwar nicht ganz die Küchen-Zimmerdecke erreichte, der Versuch war aber aller Ehren wert. Glücklicherweise bewahre ich stets ein Backup im Keller, welches beim Öffnen dann dem Herkömmlichen folgte und nur leider etwas weniger gekühlt war als die aus dem Frigidaire. Wir saßen sehr gesellig, wir aßen und tranken, tauschten die üblichen Schwänke aus der Jugendzeit aus. Das Umarmen fiel etwas dezenter aus wegen Ansteckungsgefahr.

1. März 2024

Wieder ein Februar dahin, der nächste wird kürzer. Der Dax hüpft von Höhenflug zu Höhenflug, was mir Börsenexperten inzwischen viermal fast wortgleich erklärt haben. Unsere Schiffe im Roten Meer schießen Drohnen ab, bisweilen beinahe die falschen, das kommt vor. Im Jugoslawienkrieg trafen wir auch die Schweizer Botschaft. Die Schweizer können sich aus eigener Kraft jederzeit neue Botschaften bauen, manche wie die in Berlin behalten sie einfach. Wir dagegen können unsere Schiffe nicht mit genügend Munition ausstatten, das vermelden zur Freude sämtlicher Feinde die Abendnachrichten, ihrer Enthüllungspflicht nachkommend. Gleichzeitig sitzen sie mit spitzem Stift und zählen nach, wie oft der Kanzler nicht Taurus sagt. Als unter Walter Ulbricht immer mehr von schwimmenden und anderen Systemen gesprochen wurde, stürzte ihn Kumpel Erich Honecker. Jetzt ist von weitreichenden Systemen die Rede. Mal schauen, welcher Ex-Dachdecker das final abklärt.

29. Februar 2024

Mit einem Tag Verspätung hupft in solchen Schaltjahren die wohlverdiente Rente aufs Konto. Ich habe allen, die mir gratulierten, gedankt für all diese freundlichen Wünsche, eine völlig unbekannte, mir völlig unbekannte Geburtstagskollegin ist mir im Fernsehen zugeflogen, als sie das Spiel Niederlande gegen Deutschland kokommentierte: Kathrin Lehmann, leichten Akzentes redend und so sympathisch, dass mir die Rentnerknie weich wurden: Deutschschweizerin eben. Ich beendete am Morgen die „Kleinasiatische Reise“ von Carl Jacob Burckhardt, ein großes Leseerlebnis war es nicht. Was ich schreiben werde, weiß ich auch noch nicht so richtig: ein Absatz ist fertig, was mir meist die weiteren erleichtert: meist. Für Professor Rübenwuschel hätte ich noch den Vorschlag: 30 Prozent aller sinn- und verstandlosen Lehrstühle streichen, deren Inhaber alleweil ins Fernsehen migrieren, wo sie dann in Chargenrollen etwa als Experten für Gummisohlen-Recycling mimen.

28. Februar 2024

Kaum ist Rübenwuschels Idee in den Haupt-und Staatsnachrichten unverkündet geblieben, folgt die nächste Schlagzeile, auf die man dort großzügig verzichtet: Unsere Politiker belohnen sich dafür, dass sie keine Politik mehr machen, sondern nur noch Zeichen setzen, indem sie sich die größte Salär-Erhöhung seit 30 Jahren gönnen. Nur die schnöde Springer-Presse, gegen die Häuptling Flache Sohle, einst Erfinder des Dosenpfands, noch immer auf dem friedlichen Kriegspfad reitet, tritt den Aufreger breit. Ich kann mich leider nicht aufregen, weil ich mir, wenn ich Politiker wäre und mir meine Bezüge selbst erhöhen dürfte, das mit großer innerer Parteitagsstimmung bei jeder sich bietenden Gelegenheit auch tun würde. Ich könnte immerhin behaupten, meine Doktorarbeit komplett selbst geschrieben zu haben. Ich müsste mich allerdings als Vertreter einer von Interessen gesteuerten Außenpolitik outen, auf einer Wertebasis würde ich kein Einmannzelt errichten wollen.

27. Februar 2024

Regina Katharina Kick, geboren am 1. Juli 1715 in Biberach an der Riß, starb am 27. Februar 1789 in Weimar an der Ilm, wo sie in der Nähe ihres Sohnes gelebt hatte, den viereinhalb bis fünf Prozent von uns als Christoph Martin Wieland kennen. Das war der Mann mit den vielen Kindern, über den sich der junge Goethe lustig machte und später nicht mehr. Während ich in Bad Langensalza den einen oder anderen Saunagang absolviere, verkündet ein Professor Rübenwuschel aus dem tiefsten Süden die Idee, den Millionen Rentnern in Deutschland doch mal die Erhöhung 2024 zu streichen, man könne damit satte 10 Milliarden sparen. Die satten zehn Milliarden sind nur ein Zehntel des Schattenhaushaltes für das Militär, aber sie würden vielleicht reichen, einen ICE-Anschluss zu des Professors Gartenhaus zu legen, in dem er mit der Bundestagsabgeordneten gleichen Namens kurz über dem Existenzminimum haust. Rübenwuschel heißt natürlich nicht so, er sieht nur eben so aus.

26. Februar 2024

Bereifte Autos am Morgen, Absage einer Buchungsanfrage im Postfach, Rechnungen bezahlt und Überweisungen vordatiert. Hotelbuchung überprüft: Check-in 15 Uhr, was Luft in den Vormittag bringt. Wir fahren nicht viel länger als eine Stunde. Neue Buchungsanfrage gestartet: im Ortsteil des Ortsteils an einem Stausee. Die Bieretiketten lösten sich fast ohne Widerstand von den Flaschen, was nicht immer der Fall ist. Eine spanische dabei und eine griechische. Die erste Geburtstagskarte steht vor dem ersten Geburtstagsgeschenk, eine wundersame Vermehrung wird nicht folgen. Dafür diverse vergebliche Anrufe, weil wir nicht zu Hause sind. Es freut sich der Anrufbeantworter. 100 Jahre alt würde morgen Martin Selber, einer der Lieblingsschriftsteller meiner Kindheit, von dem ich einige Bücher las und heute keins mehr besitze. Er gehört zu den Opfern meines Platzmangels, doppelt akut geworden nach dem Tod meiner Mutter und dem Zwang zur Haushaltsauflösung.

25. Februar 2024

Wer zu früh kommt mit seinem ICE-Lob, den bestraft das Leben. Unser ICE 703 fiel aus, weil ein anderer ICE technische Probleme hatte. Unser Ersatz-ICE kam an als 703 und fuhr weiter als 2913: angeblich. Da auch 597 ausfiel, saßen schließlich in 2913 Kartenhaber aus drei Zügen, die alle umherirrten und ihre Plätze suchten, die sie angeblich hatten und/oder nun nicht mehr. In Jüterbog standen wir wegen einer Störung auf den Gleisen, waren am Ende zu spät in Erfurt für unseren Anschluss und kamen schließlich eine Stunde später zu Hause an. Es gab zugfahrende Satiriker in Thüringen, die große Teile ihres Pendlerlebens zwischen Berlin und ihrer Wahlheimat in der Bahn verbrachten, große Teile ihres öffentlichen Tagebuches mit Bahn-Geschichten füllten, bis sie dann schließlich schauten, wie andere ihre öffentlichen Tagebücher füllen und es glatt nachahmten. Zur Freude ihrer Fans, denen die literarisierte Bundesbahn aus den Hälsen heraus baumelte bis dahin.

24. Februar 2024

Berlin, anders geht es nie, ist mit vielen Schritten verbunden, auch wenn wir Karten für den ÖPN in Reihe kauften und sie nutzten, für heute bis morgen Vormittag sogar die für diese Zwecke perfekte 24-Stunden-Karte. Zu Zustieg und ab Ausstieg bleibt immer genug Strecke: 15.505 Schritte gestern. Dafür aber eine tolle Führung im Olympiastadion, das wir vorher schon umkreisten, in dem wir vorher schon das eine oder andere Foto schossen, vor allem das andere. Wir sahen die Kabine von Hertha, das mit Blattgold ausgeschlagene Oval, in dem Sportler beten können, wenn sie das wollen. Wir standen da, wo Hitlers Raum war, wenn er kam, saßen unter dem, was von seiner Loge blieb. Stiegen zur Champions-League-Musik von unten zum Rasen empor. 2015 gab es hier ein Finale, 2015 saßen in der Hertha-Kabine nebeneinander Messi und Neymar. Abends alles griechisch: Speis und Trank, Bier und Wein, und für kleine Bayern-Fans sogar extra ein Sieg zu Hause gegen Leipzig.

23. Februar 2024

Heute ist der 125. Geburtstag von Elisabeth Langgässer, zu der ich mehr schrieb, als ich wollte. Und deutlich weniger, als ich hätte können. Heute ist auch der 125. Geburtstag von Erich Kästner, zu dem ich nichts schrieb, weil beides gleichzeitig, das geht nicht. Ich las aber vor ein paar Tagen „Duell bei Dresden“ mit großem Vergnügen, auch weil mir die Dresdener Heide leidlich vertraut ist durch diesen und jenen Wandergang von Langebrück aus. Jetzt waren wir länger nicht auf der Piste dort, weil ein Stammwanderer der Runde unter die Fußkranken gefallen ist, der mehr Bänke unterwegs braucht, als der Staatsforst Dresden aufzustellen gewillt ist. Uns bringt heute der ICE nach Berlin, wo wir weilen werden zu Nachfeierzwecken, um dann wieder nach Hause zu reisen mit dem ICE, wo wir nur den Koffer umpacken, um zu weiterem Weilen andernorts aufzubrechen. Dergleichen nennt man unstetes Rentnerleben. Verbunden mit dem Ausgeben von allerlei Geld.


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