Tagebuch
7. Mai 2025
Wenn uns unsere Feinde loben, haben wir etwas falsch gemacht. Betroffene Hunde bellen, heute halt auch Hündinnen. Aus welchen Spruchbeuteln das stammt, die fast ausgestorbene Generation Allgemeinwissen könnte es ahnen, ist nicht wichtig. Oder wie wir heute sagen sollen: nicht wirklich wichtig. „der freitag“ erscheint nicht wie sonst am Donnerstag in meinem Briefkasten, sondern am Mittwoch, also heute, und sogar mit dem Datum von heute. Das Blatt weint eine Seite voll über die Personalie Wolfram Weimer, eine Seite voll über die Personalie Stefan Kornelius, eine dritte Seite voll über die Linke, die ihren Überraschungserfolg mit Weißzahn-Zeigerin Heidi Reichinnek nicht den Wünschen der Redaktion gemäß ausnutzt. Dann weint Frank Jöricke zwei Drittel einer Seite voll darüber, dass die guten alten Medialdreckbatzen Rolf Dieter Brinkmann und Wiglaf Droste von öden Beißhemmungsträgern abgelöst wurden. Und das alles am 104. Geburtstag meines Vaters.
6. Mai 2025
Gut, dass ich gestern nichts mehr über das Verschwinden von Nancy und Saskia habe verlauten lassen. Heute sind sie alle wieder da. Grinse-Olaf schüttelt Hände im Bundestag, nachdem sein Zapfen schon gestrichen wurde. Mindestens 18 Mitglieder der Koalitions-Fraktionen haben ihre jämmerliche private Befindlichkeit über das Wohl des Landes gestellt. Von Verantwortung für das Land verspüren sie nicht mehr als ein Wachkoma-Patient beim Anblick eines erigierten Pferde-Penis. Die AfD darf kommen nach der drohenden Neuwahl. Agnes Smedley wäre mir mit ihrem 75. Todestages kaum in den Terminkalender gerutscht, wäre ich nicht mit ihren Büchern aufgewachsen: „China kämpft“ und „China blutet“. Heute freuen sich nur hartgesottene Trump-Gegner, wenn China kämpft. Wenn China blutet, reiben sich unverantwortlich viele ihre ungewaschenen Pfoten, weil sie glauben, das würde irgendwas verhindern, wovor sie Angst haben. Man ahnt es und kotzt.
5. Mai 2025
Mitten im allgemeinen Demokratie-Rettungs-Geschwafel lese ich von Deutungshoheiten und den Kämpfen um sie. Wer kämpft da eigentlich gegen wen um was? Sind Deutungen etwas, um das Platz-Hirsch:innen oder Platz-Hirsch*innen ihre viral gehenden virtuellen Geweihe gegeneinander knallen lassen? Marx, der heute Geburtstag hat, was ihm längst nichts mehr bedeutet, war eine überschätzte Theorie-Lusche, denn er laberte über den Arbeiter, also den Mann. Über die Frau, die den ohne Beute heimkehrenden Jäger als Samensammlerin mit veganer Suppe am Leben erhalten musste, wenig brauchbare Basis-Thesen von ihm. Marx war übrigens, zwinkert man sich mit etwas trockenem Lambrusco in der Hand am Stehtisch zu, wenn man wieder mal eine Finnisage nicht rechtzeitig absagen konnte, kein Marxist. Einige sind tatsächlich immer noch überrascht, wenn sie das hören. Andere haben es immer geahnt. Georg Stefan Troller lebt immer noch, Wahnsinn pur.
4. Mai 2025
Folgt man dem gehobenen Feuilleton, das ebenerdige ist weitgehend ausgestorben oder Synergie-Effekten in Zeitungsgruppen zum Opfer gefallen, dann erscheinen reihenweise fulminante Romane in unseren Breiten, weshalb es gut ist, wie eine Feuilletonistin schrieb, Serien wie „Yellowstone“ mit ihren mehreren Staffeln lieber nicht zu schauen, weil man sonst keine Romane mehr lesen kann. Ich schaue tapfer und begeistert „Yellowstone“, Romane lese ich auch ohne Kevin Costner selten, aber mehr als 70 Bücher im Jahr schaffe ich dennoch. Man muss nur wollen. Ob Saskia Esken, die sich ihre Klugheit mit großem Geschick nie anmerken lässt, am Ende doch noch Ministerin unter einem Praktikanten wird, werde ich morgen erfahren, heißt es. Wirklich kluge Köpfe, die es sich auch anmerken lassen, haben Modevokabular wie toxisch und Narrativ bereits in den Orkus zu verbannen versucht, die unbelehrbare Intelligentsia jedoch sülzt mehrheitlich unverdrossen weiter.
3. Mai 2025
Wen ich gestern vergaß: Otto Stoessl (2. Mai 1875 – 15. September 1936). Ich vergaß ihn, obwohl direkt vor meiner Nase unterm Bildschirm sein kleines Buch „Conrad Ferdinand Meyer“ liegt, am 17. Januar zu Ende gelesen mit Blick auf das Meyer-Jubiläum und eben aufs Stoessl-Jubiläum (150. Geburtstag). Ich sammelte allerhand Stoessl-Material auf diesen Tag hin und am Ende: Doch nix mit Otto. Heute nun ist der Internationale Tag der Pressefreiheit, an dem wir alle erfahren, dass Deutschland nur noch auf Rang 11 des Rankings liegt. Ich erfuhr in den frühen 90er Jahren, dass man in einer deutschen Tageszeitung nicht die Hausbank des Mutter-Vereins in negativem Licht erscheinen lässt. Wenig später, anderes Blatt, andere Freiheit, erfuhr ich, dass man über inliegende Werbung in einer deutschen Provinzzeitung nichts Negatives verlauten lässt, weil das Blatt nach dem Wegfall der Anzeigen davon leben muss. Am Abend Abkühlung mit etwas Mai-Schnee, huch.
2. Mai 2025
Die Nationalversammlung zu Weimar beschloss am 15. April 1919, den 1. Mai zum Feiertag zu machen. Das lässt sich, ohne der Wahrheit die Unehre zu geben, in den Nachrichten verkünden, die uns Thüringern speziell zubereitet werden. Der Beschluss galt allerdings nur für 1919, da hört im Thüringen-Journal die Wahrheit schon wieder auf, ab 1920 war die Feiertagsregelung Ländersache. Erst ein gewisser Österreicher, dessen Geburtsort passend nicht Rottau, sondern Braunau hieß, ließ aus dem 1. Mai einen gesamtdeutschen Feiertag werden, was er bis heute noch ist. Immerhin gab es gestern erstmals seit Urzeiten keine exzessive Randale in Berlin, wo die Revolution bisher stets 364 Tage schlief, ehe sie aus ihren Kreuzberger Grüften stieg. Ob Angela Krauß ihren 75. Geburtstag heute feiert, weiß ich nicht. Meine drei Bücher von ihr heißen „Das Vergnügen“, „Glashaus“ und „Die Gesamtliebe und die Einzelliebe“. Ein Dutzend Preise hat sie seit 1986 bereits eingesammelt.
1. Mai 2025
Am 1. Mai 1899 veröffentlichte „Das litterarische Echo. Halbmonatsschrift für Litteraturfreunde“ eine Theaterkritik von Leo Berg, den heute natürlich keiner mehr kennt. Dafür kennen das Stück, das er sah, inzwischen sehr viele: „Amphitryon“ von Heinrich von Kleist. Als ich 2011 Renatus Scheibe in Meiningen als Diener Sosias sah, ward ich Scheibe-Fan. Damals war „Amphitryon“ für den Kritiker „ein ziemlich vergessenes, fast niemals recht gewürdigtes Lustspiel unseres herrlichen Heinrich von Kleist“. Inzwischen ist allein über das Alkmene-Ach am Ende mehr geschrieben worden als über alle ganzen Sätze Kleists (gefühlt natürlich, liebe Kleist-Professoren, gefühlt). Unsereiner meidet heute den Kampf- und Feiertag, verzichtet auf parteipolitisch neutrale Würste vom Rost, denn es gilt Leo und Bobby, der erste nicht Papst, der zweite nicht Graf, im Auge zu behalten, es sind die Lieblingskater unserer Familie, die sich bei Bedarf huldvoll kraulen lassen.
30. April 2025
Seit ich Ende Februar in die WhatsApp-Gruppe der Schulfreunde aufgenommen wurde, gibt es die regelmäßigen Voll-Alarm-Tage. Vier Minuten ist der Tag alt, da summt erstmals das Armband: es gratuliert Peter dem Volkmar. Ich bin drei Minuten später der zweite. Dann tritt Nachtruhe ein, ehe 7.33 Uhr beginnend das Massengratulieren einsetzt: Karin, Margit, Christine, Betina, Reinhard, Birgit, Christel, Regina, Angelika, Tatjana, Martina, Helga, Bernd, Brigitte, Johanna, Marlies. Ein Panoptikum der Vornamen aus grauen Vorzeiten. Wir heißen aber so und zwar bis zum hoffentlich noch halbwegs fernen Ende unserer Tage. Enkel haben wir alle, Urenkel sind auch schon einige auf Erden. Die liebe Rentenkasse gönnt uns allen heute die mehr oder minder große Ausschüttung. Und diese wohlverdiente Rente wird im Sommer um 3,74 Prozent erhöht, bei kleinen Renten wie meiner macht das 52,39 Euro im Monat aus, worüber sich das Finanzamt schon freut: neue Steuern fällig.
29. April 2025
Vermutlich steht Ljubomir Lewtschew in Bulgarien heute nicht mehr sonderlich hoch im Kurs, ich weiß es nicht. Als Kommunist im Osten war man nach 1989 schwerer belastet als fast jeder Nazi im Westen nach 1945. Eine Schulsekretärin, die sich nicht selbst des Stasi-Kontaktes bezichtigt hatte und dennoch entlarvt wurde, flog fristlos. Im Westen vergaßen Germanisten einfach ihre NSDAP-Mitgliedschaft und die Sache war erledigt. Theaterwissenschaftler betreuten munter Doktorarbeiten über jüdische Kritiker und Autoren, die sie wenige Jahre zuvor noch verdammt und aus Ämtern gemobbt hatten. Niemand muss sich selbst belasten, sagt das überstülpfähige Grundgesetz, das gilt aber nur nach Bedarf. Lewtschew jedenfalls wäre heute 90 Jahre alt geworden, ich besitze von ihm das Poesiealbum 33, 1970 erschienen. Darin die „Ballade von der Außerordentlichen Kommission, kurz TSCHEKA genannt“. Paul Wiens übertrug sie ins Deutsche. Wohl doch aus verwandter Seele.
28. April 2025
Wie man sich als 1973 geborener Ilmenauer genau in einen Schweizer verwandelt, ist mir weniger vertraut als die Verwandlung einer 1962 geborenen Weimarerin in eine Schweizerin, die nun gar im Europaparlament hockt und trotzdem emsig schreibt, als müsse sie immer noch davon leben. Gut, also den auch nicht mehr übertrieben jungen Daniel Blochwitz habe ich im Verdacht, Sohn eines mir bekannten Vaters zu sein, dessen Vorname mir entfallen ist, was aber unter meine lässlichen Sünden fällt. Blochwitz war sicher nicht der erste, dem auffiel, dass all unsere Mauerfall-Bilder, die, wie man so schön sagt, im kollektiven Gedächtnis gelandet sind, vom Westen aus fotografiert und gefilmt wurden. Mir ist dies das simple Symbol, dass Westsicht sich sofort anschickte, herrschend zu werden, als im Osten nicht wenige noch an Reformen des Sozialismus glaubten. Von Blochwitz aber las ist es erstmals. Am 28. April 1900 wurde in Leipzig Bruno Apitz geboren: als ein 12. Kind.
27. April 2025
Dass Johann Strauß mit Coburg in Verbindung zu bringen ist, war mir bis kürzlich nicht bewusst. Meine Walzerseligkeit hält sich ebenso wie meine Operettenseligkeit in engsten Grenzen. Nun aber habe ich Kunde aus Freundesmund, löbliche Schilderungen von Stadt und Strauß-Ehrung. Dazu gab es zwei tansanische Biere, ein Spielzeitheft aus sächsischen Kerngebieten mit viel Roman auf der Bühne und viel nach statt von. Also sehe ich mich gedrängt, meinen unmaßgeblichen Unmut zu bekunden (viele u !!!). Wenn ich „Maria Stuart“ sehen will, ich könnte es mehrmals im Jahr, ohne daran zu ermüden, dann will ich „Maria Stuart“ von Schiller sehen und nicht nach Schiller. Ganz langsam verlieren auch meine von Toleranz nur so strotzenden Urfreunde die Lust an den ewigen Romanen auf der weniger ewigen Bühne. Im „Haus am See“ Kloßtag, Schäufele und Rouladen dazu wahlweise, danach eine Wanderung unter blauem Himmel. Ilmenau mit Schilf und Schwan.
26. April 2025
Der Intellektuelle ist ein Voraussetzer. Er geht wie alle anderen auch von sich aus. Nur ist sein Ich voller Wissen, das andere nicht haben. Was nicht ausschließt, dass andere ein Wissen besitzen, das er nicht hat. Noch hat ihn keiner toxisch genannt, das Patent darf also angemeldet werden. Falls der Intellektuelle ein Mann ist, ist er automatisch von toxischer Männlichkeit verseucht, es sei denn, er denkt öffentlich darüber nach, was ein Mann sei. Denn zwar wissen alle sehr genau, was ein Mann ist, einige aber verlangen allen eine Definition ab. Und da wird es schwierig. Es gibt sehr viele sehr wichtige Dinge in dieser Welt, die sich gegen eine Definition sperren. Zugegeben, ich war einst ein Philosoph mit Diplom. Heute bin ich ein Postempfänger, dem Theater ihre Spielzeithefte zusenden, obwohl ich nun schon ein Weilchen vor mich hin schwieg. Es ist nicht die Angst des Torwarts vorm Elfmeter, es ist eine Erwartungshaltung vor der 250. Theaterkritik, die zart nach Besonderheit ruft.