Tagebuch

22. Januar 2018

Der breite Buchrücken, blau mit weißen Querlinien, sitzt in meinem Gedächtnis wie auf immer mit Sekundenkleber befestigt. „Lord Byron stirbt für Griechenland“, 1938 im Berliner Schützen-Verlag erschienen, Autor Claus Schrempf, von dem ich noch immer nicht mehr weiß als vor knapp zweieinhalb Jahren, als ich ihn erstmals im Zusammenhang mit den „Helden“ von George Bernard Shaw erwähnte. Das Buch stand in einem der beiden verglasten Bücherregale meiner Eltern, der Mann, der sie fertigte, ist Vater einer Mitschülerin und jetzt dabei, seinem hundertsten Geburtstag näher und näher zu rücken. Lord Byron, George Gordon, hat heute seinen 230. Geburtstag und wir wissen längst, dass sein Heldentod gar nicht so heldisch war. Ich las eben seinen kruden, aus zwei „literarischen Eklogen“ bestehenden Bühnentext „Die Blaustrümpfe“ und bin sicher, dass ich dazu nichts schreiben möchte. Auch nichts über kollektive Schneeschipp-Sonntage auf Mietparkplätzen.

21. Januar 2018

Dass er am 21. Januar starb, scheint sicher. Nur an welchem? WIKIPEDIA entscheidet sich für 1968, dann wäre dies sein 50. Todestag. Die dort zitierte Neue Deutsche Biographie (NDB) nennt 1969, Fritz Martini und Peter de Mendelssohn haben als Herausgeber verstreuter Schriften unter dem Titel „Geist und Politik in Europa“ 1965 zum Todesjahr gekürt, so hält es auch das Munzinger Archiv. Also werde ich heute vielleicht „Frühlingsmorgen bei Rousseau“ lesen oder Golo Manns Gedenkblatt für ihn: Ferdinand Lion. Mehr geht ohnehin nicht wegen Egon Friedell, für den der 21. Januar sein Geburtstag war. 140 Jahre sind kein Spezialjubiläum für die biographische Industrie und das vorauseilende Großfeuilleton, welches mit Karl Marx und dem Prager Fenstersturz in diesem schönen Jahr ohnehin hart an seine Grenzen geführt wird. Im engen Familienkreis hätten wir auch einen Geburtstag, es wäre ein 93. Seit gestern verfügen wir über einen zweiten Landratskandidaten.

20. Januar 2018

Joachim Schreck hat mir gestern einen solchen eingejagt. Da nämlich entnahm ich dem weltweiten Netz, dass der inzwischen uralte Mann, den einst seine Anthologie „Saison für Lyrik“ in den Status DDR-spezifischer Ungnade versetzte, inzwischen Joachim Bechtle-Bechtinger heißt. Seine längst verstorbene liebe Irmtraud ließ unter ihrem Familiennamen Morgner deutschlandweiten Ruhm auf sich klecksen, als Frau Schreck schrieb sie in jungen Jahren bisweilen schreckliche Buch-Kritiken. Soweit die Abteilung Kalauer für heute. Durchaus nicht schrecklich finde ich die Idee von Oskar und Sahra, eine Sozialistische Einheitspartei Deutschlands in den Farben der Bundesrepublik ins Leben zu rufen. Mir fehlt mein Wohngebietsparteisekretär schon lange, der darüber wacht, ob ich an den gesetzlichen Feiertagen meine rote Fahne vom Balkon flattern lasse oder wenigstens die mit den drei farbigen Querstreifen, muss ja nicht immer ein Emblem in der Mitte sein, geht auch ohne.

19. Januar 2018

Sturmtief Friederike trägt seinen Namen wohl kaum nach einer besonders selbstbewussten jungen Theater-Pressesprecherin, sonst hätte es nicht nur unsere Trittleiter auf dem Balkon umgeworfen. Das Magazin „Kontraste“ ließ sich zur Feier seines 50-jährigen Daseins ein besonders blödsinniges Wort einfallen: Klima-Leugner. Als alter Pressemensch verstehe ich, dass vor allem Print-Medien auch für einspaltige Überschriften knackige Vokabeln benötigen, aber ein Klima-Leugner ist nicht der, der Klima-Wandel leugnet oder gar nur den Menschen als seinen Verursacher. Auch alle, die Gen-Mais ablehnen, laufen Gefahr, in Dummköpfe die Forderung nach genfreiem Mais zu pflanzen, die ich in durchaus seriösen Medien schon hören oder lesen durfte, wenngleich ein paar Sturmtiefs früher. Günter Kunert schrieb einst prägnant: „Was unsere Ratio nicht beim ersten Zugriff erfasst, wird automatisch entwertet, denn wir erteilen den Dingen die Schuld, dass wir sie nicht verstehen.“

18. Januar 2018

Mein seit 1964 geführtes Lese-Register nimmt nur Bücher auf, die ich vollständig zu Ende las. So gelangte gestern als Nummer 1 des Jahres 2018 „Das neue Organon“ hinein, ich besitze die zweite Auflage aus dem Jahr 1982 und kam darin seinerzeit bis zur Seite 274. Dort steckte nun runde 35 Jahre lang ein kleines Lesezeichen. An den Markierungen sehe ich, dass ich diesen Bacon schon mit Blick auf die anstehende Dissertation las, auf etlichen Seiten finde ich am Rand ein F, das mir zu signalisieren hatte, hier stehe etwas zum Thema Fortschritt. Man wird alt, las ich vorhin erst bei Kurt Tucholsky, der drei Bände „Des deutschen Spießers Wunderhorn“ besprach. Dessen Autor Gustav Meyrink hat morgen seinen 150. Geburtstag. Wer meine beiden bisherigen Texte zu ihm lesen möchte, kann die Suchfunktion auf meiner Seite nutzen. Um beim Einkaufen ein Arschloch zu treffen, braucht man keine Suchfunktion, es reicht der dumme Zufall. Ich traf eins im „Kaufland“.

17. Januar 2018

Warum kämpfen Gender-AktivistInnen eigentlich nur dafür, dass auch Jungen ein rosa Pony lieben dürfen und nicht darum, dass Mädchen endlich anfangen, ölige Schraubenschlüssel zu sammeln und bei Tisch zu furzen? Warum hat noch niemand so richtig verstanden, dass sozialdemokratisches Genuschel über Minderheitsregierungen vielleicht das modernste ist, was sich derzeit denken lässt? Ein vermeintlich demokratisches Staatswesen, das immer stärker Züge diversifizierter Minderheits-Diktaturen annimmt, sollte eine Lappalie wie eine Minderheitsregierung doch aushalten können. Wenn für Menschen mit hinter den Ohren endenden Harnröhren eigene Kopfstandstoiletten gebaut werden müssen an jeder Autobahnraststätte, falls ein solcher Mensch genau dort dringend muss, dann wissen wir, dass es gerecht wäre, würden uns dritte und vierte Welt ausrotten, denn wir haben im Gegensatz zu ihnen keine Probleme mehr. Ansonsten kommt der Regen immer noch von oben.

16. Januar 2018

Der Fotograf Matt Cardy von Getty Images hat auf dem Gladstonbury Festival zwei junge Frauen in einer Menschenmenge belichtet, die ein handgemaltes Plakat hochhalten, auf dem steht weiß auf rotem Herzen: „Ohhh Jeremy Corbyn“. Die Redaktion hob den Mann auf ihren Gesamttitel mit der urdeutschen Schlagzeile „He will rock you“, Unterzeile „Labour-Chef Corbyn zeigt der Linken, wie’s geht“. Wie denn? Wenn wir das Wunschdenken der Redaktion einmal verständnisvoll außer Betracht lassen, sehen wir: die beiden jungen Frauen halten eine Bierdose in der Hand. Auf beiden Bierdosen ist die Marke sehr gut zu erkennen, es sind klassische Marktführermarken. Früher nannte man dergleichen Produkt-Platzierung (für junge Klassenkämpfer: product placement). Wir lernen: Marketing kennt weder links noch rechts. Redaktionelle Selbstkontrolle war früher. Wer sich an den letzten Labour-Mann in Downing Street 10 erinnert, hält seine Bierbüchse vielleicht weniger hoch.

15. Januar 2018

Zu den besonderen Erlebnissen des Jahres 1998 gehört meine erste Januar-Reise, der später etliche noch folgten. Ich mietete ein Häuschen im Ferienpark Grafschaft Bentheim, war dort, wie sich rasch herausstellte, der einzige Gast, die Rezeption nur für mich geöffnet. Ich war auch der einzige Nutzer des täglichen Brötchendienstes. Am 15. Januar 1998 unternahm ich einen Ausflug über die nur vier Kilometer entfernte Grenze nach Almelo in Holland. Bei einem sehr freundlichen und gesprächigen Mann in der Oranjestraat ergatterte ich 23 holländische und drei belgische Biersorten für meine Sammlung, wir plauderten lange über mein damals noch halbwegs junges Hobby. Der Mann rühmte sich der mehr als 400 Sorten in seinen Regalen. Und staunte, dass ich die meisten belgischen schon kannte. 20 Jahre später weiß ich nicht exakt, wie groß mein Bestand ist, ich muss nacharbeiten. Exakt kann ich sagen, dass Jewgeni Schwarz („Der Drache“) vor 60 Jahren starb.

14. Januar 2018

Keine Frage: mehr Aufmerksamkeit als diese Notiz im Tagebuch hätte Max Schroeder verdient. Er starb, noch keine 58 Jahre alt, am 14. Januar 1958 in Berlin. In meiner Ausgabe seines Buches „Von hier und heute aus“ finde ich ein Lesezeichen mit Notizen bei seiner Theaterkritik zu „Kabale und Liebe“ aus dem Schiller-Jahr 1955. Wolfgang Langhoff führte Regie und spielte den Präsidenten. Nein, unter die großen Theaterkritiker des Jahrhunderts würde ich Schroeder nicht zählen wollen. Seine Frau Edith Anderson, die er 1944 im Exil in den USA geheiratet hatte, folgte ihm 1947 in die spätere DDR und überlebte ihn um mehr als vierzig Jahre. Ihr Buch „Der Beobachter sieht nichts“ war in den ersten 70ern eine Art Geheimtipp für ummauerte Leser. „Der zerbrochne Krug“ ist kein Geheimtipp. Ich sah gestern in Coburg meinen achten seit Oktober 2008 und werde jeden weiteren sehen, der mir erreichbar ist. Einer kommt noch in dieser Spielzeit in der Regie von Barbara Frey.

13. Januar 2018

Meine hellseherischen Fähigkeiten würde ich bei einer werblichen Darstellung meiner persönlichen Schokoladenseiten (darf man die überhaupt noch so nennen in Zeiten der Kriege gegen versteckten Zucker und verstecktes Alles und Jedes) nicht auf das erste Flipchart-Blatt platzieren. Dennoch: ich wage die Prognose, dass der Krieg gegen die Geschlechtergrenzen oder für ihr Verschwimmen noch auf Bühnen geistern wird, wenn unsereiner von einer über eine slowakische Agentur vermittelten ungarischen Vollzeit-Pflegekraft den Hintern geputzt bekommt. Der einfache Tausch war gestern, die einzelne Figur muss heute bröseln. „Der Sturm“ war gestern, heute ist „Der zerbrochne Krug“. Wenn unsere Freunde aus der Sondierungsbranche uns nun auch noch eine Regierung bescheren, ehe wir den Osterspaziergang nahe Dessau beginnen, dann wollen wir zufrieden sein. Noch im Januar sehe ich deshalb die „Sonny Boys“, Neil Simons Vorwegnahme jeglicher Groß-Koalition.

12. Januar 2018

Meine früheste Auseinandersetzung mit Ferenc Molnar fiel in den Sommer 1981, ich las zuerst „Kohlendiebe“ von ihm, dann das „Wiegenmärchen“. Ich schrieb noch mit Kugelschreiber, die Zitate rot, das andere blau. Sein mit Abstand berühmtestes Bühnenwerk, „Liliom“, sah ich bis heute noch nicht, obwohl es die eine oder andere Gelegenheit gegeben hätte. Dafür dann in Rudolstadt die weithin unbekannte Komödie „Delila oder Das Liebesnest“, auch schon wieder fast zwei Jahre her. Molnar ist am 12. Januar 1878 in Budapest geboren und ich beginne an seinem 140. Geburtstag mein Theaterjahr 2018. Nicht mit ihm allerdings, sondern mit Shakespeare. Dem ich morgen Kleist folgen lasse. Das ist am Ende einer Woche sehr tröstlich, in deren Mitte ich von einer Autorin lesen musste, die den zweiten Band ihrer Erotikreihe veröffentlichte, in dem von einem Halbindianer geschrieben steht: „Sein Speer regte sich.“ Ja, liebe Speerfreundinnen, auch das will Literatur sein.

11. Januar 2018

Kaum auszudenken, wenn im Volk der Enten eine MeToo-Debatte geführt würde. Entenmänner, die so genannten Erpel, sind klassische Vergewaltiger. Wer jemals beobachtete, wie gnadenlos ein Laufenten-Erpel seine auserwählte Ente über die Komposthaufen jagt, der weiß, soziale Medien unter Enten würden deren Aussterben nach sich ziehen. Unter Tauben gilt die Regel „Nein heißt nein“ mit erstaunlicher Konsequenz. Ich habe einmal in Paris buchstäblich stundenlang zugeschaut, wie unendlich niedrig die Erfolgsquote der Täuberiche ist: sie rennen sich die Füße platt um die Angebetete, gurren sich die Kehlen wund und dann - kurz vorm Aufsitzen, fliegt die Gute einfach weg. Damals lernte ich bedauern, dass Tauben nicht grinsen können. Die grinsenden Taubendamen in Sichtweite der bedepperten Gurr-Trottel, was für herrliche Ergebnisse hätte doch die Evolution hervorgebracht. Wir Menschen feiern englische SM-Romane und posten danach gegen Übergriffe.


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